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Mathematik zwischen Wahn und Witz. Trugschlüsse, falsche Beweise und die Bedeutung der Zahl 57 für die amerikanische Geschichte

Aus dem Amerikanischen
von Gisela Menzel.
Birkhäuser, Basel 1995.
244 Seiten, DM 29,80.

"Wir repräsentieren den Himmel, das Heim Gottes, durch einen Vektorraum unendlicher Dimension über einem Körper k. Dieser Körper ist Gott bekannt, uns jedoch nicht. In ihm lassen sich alle Aktivitäten Gottes quantifizieren. Längen können wie gewöhnlich als die Wurzel des Skalarprodukts gemessen werden (Offenbarung 21, Vers 15; unter der Annahme, der Himmel sei euklidisch!)."

Au weia. Haben da Theologie und Mathematik, jeweils von der besonders esoterischen Sorte, sich zusammengetan und gemeinsam den allerhöchsten Unfug produziert?

Underwood Dudley ist da viel milder in seinem Urteil: Der zitierte anglikanische Priester, der auch mit Hilfe von Matrizen betet, "mag zwar etwas ungewöhnlich sein, ist aber keineswegs verrückt". In Dudleys Sammlung finden sich viel schrägere Vögel.

Ein Mensch namens F. S. aus Singapur (Dudley nennt alle seine Quellen nur mit Initialen) hatte die Neuner-(Quersummen-)Probe wiederentdeckt; er füllte ein 124seitiges Buch mit der Beschreibung dieses biederen Rezepts zur Kontrolle auf Rechenfehler, das im Zeitalter des Taschenrechners bedeutungslos geworden ist, und scheute keine Kosten, seine vermeintlich sensationelle Entdeckung unter die Leute zu bringen. Nach Ansicht von A. F. ist der berühmte Vierfarbensatz ("Jede denkbare Landkarte ist mit nur vier Farben so einfärbbar, daß nie zwei benachbarte Länder die gleiche Farbe erhalten") zwar korrekt, aber verbesserungsfähig: Zwei Farben, zum Beispiel Gelb und Blau, reichen aus. Man färbe die erste Sorte Länder gelb, die zweite blau, die dritte grün, indem man beide Farben mischt, und die vierte gar nicht. Und O. Z. besteht seit Jahren darauf, die Kreiszahl PI sei rational und habe den Wert 3,1428. (Keine Pünktchen!)

Dudley, im Hauptberuf Mathematikprofessor an der DePauw-Universität in Greencastle (Indiana), hat sich nicht nur Mühe gegeben, die Werke zahlreicher "Amateurmathematiker, wunderlicher Käuze und Exzentriker" (Vorwort) zusammenzutragen. Er führt auch Beispiele ernstzunehmender Ideen auf, die nur so ungeschickt und fehlerhaft ausgedrückt waren, daß man sie zunächst für versponnen halten mußte.

Es gibt dabei viel zu lachen und einiges Interessante zu lernen. Zu den drei sprichwörtlich unlösbaren Problemen der antiken Geometrie – Quadratur des Kreises, Dreiteilung des Winkels und Verdoppelung des Würfels – bringt Dudley außer einer Fülle fehlgeschlagener Beweisversuche auch Auskünfte zum Problem selbst. Er erklärt, warum man – eine ausreichende Menge von Daten vorausgesetzt - mit umfangreichen Indizien belegen kann, wie A. F. das tat, daß die Zahl 57 eine herausragende Rolle in der amerikanischen Geschichte spielt. Nur gilt das dummerweise für jede zweistellige Zahl und jede Geschichtsepoche in beliebiger Kombination. Und dabei wahrt Dudley durchwegs seinen locker-unterhaltsamen Erzählstil.

Vor etlichen Jahren war von ihm noch deutlich anderes zu lesen. Unter dem Titel "What to do when the trisector comes" ("The Mathematical Intelligencer", Band 5, Heft 1, 1983) gab er seinen Fachkollegen einen Rat, der in einer Anleitung zum Selbstschutz gipfelte: Wenn jemand behauptet, eines der drei genannten klassischen Probleme gelöst zu haben, lasse man sich nicht auf inhaltliche Diskussionen ein. Man verweise ihn mit einem freundlichen Brief darauf, daß sein Bemühen hoffnungslos ist. Und wenn das nicht hilft? "Sei brutal. Schreibe einen ätzenden Brief, der Haß auf dich selbst und möglichst die Mathematiker insgesamt erzeugt und ihm die Beschäftigung mit dem Thema verleidet... Dann wird er wenigstens dich in Ruhe lassen, und wenn alle Ansprechpartner sich so verhalten, werden die Dreiteiler auf die Dauer aussterben." Ähnliches hätte Dudley sicherlich über die Leute gesagt, die den Vierfarbensatz, die Fermatsche oder die Goldbachsche Vermutung bewiesen oder auch eine einfache Formel zur Erzeugung beliebig vieler Primzahlen gefunden zu haben beanspruchen.

Ist das nicht sehr herzlos? Hat jemand, der zehn Jahre lang an etwas gearbeitet hat, was er nun für eine weltbewegende Entdeckung hält, nicht verdient, ernstgenommen zu werden? Schon; nur fürchte ich, daß Dudley trotzdem recht hat. In seinem Buch bringt er abschreckende Beispiele langjähriger Korrespondenzen, die in tiefer beiderseitiger Frustration endeten, bis hin zu wüsten Beleidigungen und Handgreiflichkeiten. J. T. etwa, immerhin Professor der Mathematik an einem anerkannten College, schickte im Rahmen einer Auseinandersetzung um seinen – falschen – Beweis des Vierfarbensatzes einen Rundbrief an rund 27000 Mitglieder der drei großen mathematischen Vereinigungen in den USA, mit dem Effekt, daß jeder die Geschichte kannte, niemand ihn mehr für voll nahm und er sein Leben einsam und verbittert beschloß.

Ich selbst hatte geglaubt, ich könnte dem zitierten O. Z. seine Behauptung PI=3,1428, so grob falsch, wie sie war, leicht widerlegen, schrieb ihm zu diesem Zweck die Gedankengänge des Archimedes auf – und erhielt die Antwort, das sei alles irrelevant, sowie noch viel mehr Papier, aus dem unter anderem hervorging, daß Kollegen aus Hamburg ihn mit denselben Argumenten bereits vergeblich zu überzeugen versucht hatten. Meine Korrespondenzen mit anderen Amateurbeweisern stapelten sich im Laufe der Jahre zu mehreren Kilogramm, bevor sie ergebnislos endeten.

Wer sich auf Diskussionen dieser Art einläßt, wird alsbald nicht Bestandteil der Lösung, sondern des Problems, das dann eben kein mathematisches, sondern ein sehr persönliches ist. Einem Mathematiker geht eine solche Einsicht in besonderem Maße gegen den Strich, zehrt doch seine Wissenschaft von der – ansonsten unangefochtenen – Gewißheit, daß man über die Korrektheit eines Beweises stets Klarheit und Konsens finden kann. Es hilft nichts – dieser Konsens kommt manchmal bei aller Bemühung nicht zustande.

Man hüte sich übrigens vor dem Vorurteil, immer die anderen seien schuld. Aus dem Vorwort: "Gönnen Sie sich ein paar unterhaltsame Stunden mit der Lektüre dieses Buches. Denn: Ausgefallene Ideen und wunderliche Leute sind immer interessant. Man kann nie sicher sein, daß es einen nicht selbst trifft."



Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1996, Seite 122
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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