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Mikropartikel aus bioabbaubaren Polymeren im pharmazeutisch-medizinischen Einsatz


Bioabbaubare Polymere wurden in der Medizin zunächst als resorbierbares Nahtmaterial zum Wundverschluß benutzt. Bereits Ende der siebziger Jahre begann man dann auch darin pharmazeutisch wirksame Substanzen einzuschließen, die durch den Polymerabbau nach und nach wieder freigesetzt werden. Damit war die Grundlage für parenterale (den Magen-Darm-Kanal umgehende) Medikamente mit kontrolliert verzögerter Freigabe des Wirkstoffes über Wochen und Monate zwar gegeben, doch dauerte die industrielle Entwicklung noch 10 bis 20 Jahre. Erst in letzter Zeit wurden verschiedene Produkte erfolgreich klinisch getestet beziehungsweise in den Markt eingeführt.

So verabreichte Wirkstoffe sind vor allem Abkömmlinge des LHRH, eines Hormons des Hypothalamus im Gehirn, das die Freisetzung des luteinisierenden Hormons (LH) und des follikelstimulierenden Hormons (FSH) aus der Adenohypophyse stimuliert; LH und FSH wiederum regulieren die Tätigkeit der Keimdrüsen. Derartige Präparate, die als Agonisten (wie das natürliche Hormon) wirken, sind etwa Buserelin (Hoechst AG ), Leuprorelin (Takeda Chemical Industries, Ltd.) und Triptorelin (Ferring Arzneimittel GmbH) sowie als Stimulator der Dopaminrezeptoren Bromocriptin (Sandoz AG). Für Mikropartikel mit Steroiden wurde jüngst in den USA die Zulassung beantragt.

Buserelin beispielsweise kann man nicht in Tabletten verabreichen, weil es als Peptid im Magen-Darm-Trakt zersetzt würde. Zur Behandlung etwa des Prostatakarzinoms oder der Endometriose, einer schmerzhaften Veränderung der Gebärmutterschleimhaut, bietet die Firma Hoechst deshalb seit Jahren ein Nasenspray an; das Behandlungsergebnis hängt dabei aber von einer monatelangen regelmäßigen Anwendung ab. Um die Patientinnen und Patienten zu entlasten, sollte ein injizierbares Depot-Medikament entwickelt werden: Mikropartikel aus dem Copolymer von Milch- und Glykolsäure geben nun den Wirkstoff über Wochen kontrolliert frei und werden dann innerhalb kurzer Zeit im Körper vollständig abgebaut.

Die als Pulver vorliegenden Mikropartikel müssen vor der Injektion unter die Haut in eine wäßrige Lösung überführt werden. Der Abbau des Polymers und somit die Freigabe des Wirkstoffs beginnen allerdings sofort bei Kontakt mit Wasser, weshalb man beide in einer neuentwickelten Doppelkammerspritze bis zur Behandlung getrennt hält.

Eine Anwendung in der Diagnostik sind Ultraschall-Kontrastmittel: Mikrokapseln aus biokompatiblen und bioabbaubaren Polymeren, zum Beispiel Polyaminosäuren. Kleiner als rote Blutkörperchen, umschließen sie Gase, die im Gegensatz zu Flüssigkeiten Ultraschall schlecht leiten. In die Blutbahn injiziert, reflektieren solche Gasbläschen die Schallwellen und erzeugen so ein Bild der Gewebedurchblutung.

Im Vergleich zu bislang sehr aufwendigen Verfahren mittels Katheder läßt die Ultraschall-Diagnostik mit Mikropartikeln eine risikoärmere Herzdiagnose erwarten.


Neue Polymer-Grundstoffe

Mikropartikel für parenterale Anwendungen sollten kleiner als ein zehntel Millimeter sein. Der Wirkstoff ist dabei entweder von einem Polymer umhüllt oder liegt in einer Polymer-Matrix verteilt vor; entsprechend unterscheidet man Mikrokapseln und Mikrokugeln (auch Microspheres genannt). Zudem lassen sich je nach der Herstellungsmethode unterschiedlichste Formen und Oberflächen erzeugen (Bild 1).

Voraussetzung für neue mikropartikuläre Arzneistoffe sind bioverträgliche und bioabbaubare Polymere, die bereits angewandten überlegen sein sollen. Die empirisch erprobten Polyester auf der Basis von Milchsäure, Glykolsäure oder gleichzeitig beiden Molekülbausteinen, dem sogenannten Polylaktid-co-glykolid (PLGA), bilden meist noch den Ausgangspunkt für neue Partikelformulierungen.

Die bioabbaubaren chemischen Bindungen kommen ausschließlich in der Polymer-Hauptkette, dem molekularen Rückgrat, vor. Außer den Polyestern aus der Milch- und der Glykol- oder weiteren Hydroxycarbonsäuren sind mittlerweile auch andere makromolekulare Stoffe mit dieser Grundstruktur erprobt worden. Abbaubar ist dabei anstelle des Esters wahlweise ein Anhydrid, ein Ketal oder ein Orthoester.

In der Hoechst AG wird seit Jahren ein erweitertes Konzept verfolgt: Eine enzymatische oder auch hydrolytische Spaltung des Polymers soll nicht allein mehr nur in der Hauptkette möglich sein, sondern zusätzlich durch Seitengruppen beeinflußt werden. Diese können chemisch, also kovalent, an das Polymer-Rückgrat gebunden sein oder aber über weniger starke Wechselwirkungen wie etwa Wasserstoffbrücken-Bindungen oder ionische Kräfte aufgebaut werden.

Wichtig ist, daß nicht nur der makromolekulare Stoff selbst bioverträglich ist, sondern auch jedes der beim Zerfall entstehenden Fragmente. Damit sind all diejenigen Verbindungen für den Polymeraufbau prädestiniert, die als Teil von normalen Abbauzyklen in Lebewesen bekannt sind, deren Unbedenklichkeit sich also bereits erwiesen hat.

Gute Startmaterialien liefern demzufolge sowohl der Zitronensäurezyklus, der zentrale Stoffwechselprozeß bei allen sauerstoffverbrauchenden Lebewesen, als auch die 20 am Aufbau der natürlichen Peptide und Proteine hauptsächlich beteiligten Aminosäuren. Viele Grundbestandteile (zum Beispiel Fumarsäure, Glutarsäure, Asparaginsäure und Lysin) der Polymere erfüllen diese Bedingung. Ergänzt wird dieses Spektrum durch von vornherein bioverträgliche unverzweigte Alkohole, Amine und Carbonsäuren.

Beispiele aus unserer jüngeren Forschung sind Polykondensate, deren Polymer-Rückgrat einzig auf Weinsäure basiert, die unterschiedlich verändert wird. Durch die Verwendung etwa eines Diol- und eines Dicarbonsäurederivats mit jeweils abspaltbaren Seitengruppen erhält man gleichzeitig ein sogenanntes Homopolykondensat: Im Polymer existiert dann eine streng alternierende Abfolge beider Bausteine. Ein rein zufälliger Einbau, der wie im Falle der Polymere auf Milch- und Glykolsäure-Basis auch unerwünschte, synthetisch kaum beeinflußbare Sequenzen des einen oder anderen Bausteins ergeben kann, wird hier elegant durch die Wahl der Synthese umgangen.

Die Eigenschaften des Weinsäure- Polymers sind, was gerade im Hinblick auf die Wirkstoff-Freisetzung wichtig ist, entsprechend gut reproduzierbar. Überdies läuft die Synthese ohne metallische Katalysatoren ab, so daß unerwünschte Nebenreaktionen durch Metallspuren vermieden werden.

Variation der Eigenschaften

Die Eigenschaften eines Polymers werden sowohl durch sein Molekulargewicht als auch durch die chemische Natur des Rückgrates – der Hauptkette – bestimmt. Aber auch die Variation der Polarität der Seitengruppen erlaubt es dem Chemiker, die Eigenschaften in weiten Bereichen zu variieren. Dies gelingt durch das Zusammenspiel von hydrophoben (wassermeidenden) und hydrophilen (wasseranziehenden) Anteilen gleichermaßen, so daß man die Löslichkeit, die Konsistenz, die Thermoplastizität sowie eben auch die Abbaubarkeit der Polymere und die davon abhängende Wirkstoff-Freisetzung gezielt beeinflussen kann.

Jeder Wirkstoff erfordert für seinen optimalen Einsatz ein spezielles Freisetzungsprofil, das sich jedoch häufig noch nicht erreichen läßt. Wichtig ist dafür jedenfalls die fachgerechte Verarbeitung der Komponenten. Geht zum Beispiel gleich nach der Applikation eine hohe Dosis des Medikaments in den Organismus über (Bild 2a), ist zum einen die Gefahr von Nebenwirkungen zu bedenken, zum anderen kann die Wirkung des Mikropartikeldepots schnell unter das therapeutische Minimum sinken. Es gibt allerdings Arzneistoffe wie die eingangs erwähnten LHRH-Agonisten, für die bei einer vierwöchigen Therapie ein solcher Verlauf durchaus wünschenswert ist.

Ein Anfangsschub kann dadurch verursacht sein, daß den Mikropartikeln äußerlich Wirkstoff anhaftet oder aber die Polymermatrix porös ist. Unter Umständen sinkt anschließend die Freisetzungsrate stark ab, weil wenig von dem Medikament aus den Mikropartikeln diffundiert, und steigt wieder an, sobald der Abbau des Polymers einsetzt (Bild 2b).

Neuere Untersuchungen zeigen, daß der sogenannte initial burst oder das folgende Dosis-Minimum unterdrückt werden kann. Womöglich ist aber gerade eine zweite pulsartige Freisetzung des Wirkstoffs von Vorteil; dann muß das Polymer schlagartig abgebaut werden (Bild 2c). Ein Verlauf mit sogar drei bursts in bestimmten Abständen wäre beispielsweise für eine Tetanusschutzimpfung wünschenswert – dies ist allerdings ein eher langfristiges Forschungsziel. Bereits gelungen ist eine etwas verzögerte an- und wieder abschwellende Freisetzung (Bild 2d), wie sie für eine lokale, etwa einwöchige Anwendung von Enzymen für die Wundheilung auf der Basis von Polyhydroxy-ethylaspardamid gut geeignet ist.

Herstellungsverfahren

Allein mittels Sprühtrocknung, deren Verfahrensbedingungen dem jeweiligen Problem angepaßt werden können, lassen sich schon verschiedenartigste Mikropartikel produzieren (Bild 1). Dazu wird eine Lösung von Polymer und Wirkstoff bei erhöhter Temperatur durch eine Düse versprüht. Durch das Bestreben von Flüssigkeiten, die Oberflächenspannung zu minimieren, nehmen die entstehenden Tröpfchen Kugelgestalt an; zudem bilden die gelösten Polymere beim Verdampfen des Lösungsmittels um die Tröpfchen einen Film, fixieren damit die Struktur und schließen den Wirkstoff ein.

Wegen der Fülle von Anforderungen, außer bestimmten Freisetzungsprofilen insbesondere ein möglichst schonender Wirkstoff-Einschluß, genügt aber eine einzige Präparationsmethode nicht. Deshalb werden weitere erprobt oder verbessert, die ermöglichen, Partikel vielfältiger Größe und Konsistenz herzustellen:

- Unter dem Begriff Emulsionsverfahren faßt man Methoden zusammen, die auf der schlechten Mischbarkeit unterschiedlich polarer Flüssigkeiten – in der Regel eines organischen Lösungsmittels und Wasser – beruhen. Die Polymere fallen aus und bilden je nach Steuerung des Prozesses Mikropartikel mit besonderen Eigenschaften (Bild 3). Die Löslichkeit des bioabbaubaren Matrix-Polymers kann man verstärken, indem man ein weiteres Lösungsmittel zugibt oder die organische Phase abdampft.

- Mit dem Gefriersprühen, bei dem eine Polymer-Wirkstoff-Lösung in flüssigen Stickstoff gesprüht wird, lassen sich relativ harte Kügelchen von Durchmessern bis in den Millimeterbereich herstellen.

- Die Polyelektrolytkomplexierung wiederum basiert auf der Wechselwirkung zwischen unterschiedlich geladenen Ionen. Je nach Prozeßführung und der Art der verwendeten Polymere lassen sich große Mikrokapseln (mehr als ein Millimeter), aber auch sehr kleine Wirkstoffdepots (weniger als ein Mikrometer Durchmesser) produzieren.

- Bei der Thermoreversion schließlich geht das in wäßriger Phase gelöste Polymer in den Gelzustand über; es bilden sich also weiche Mikropartikel. Dieser Phasenübergang wird bereits durch kleine Temperaturänderungen im physiologischen Bereich erzielt.

Vielen dieser Prozesse ist gemeinsam, daß man Mikropartikel bei niedrigen Temperaturen, in wäßrigen Lösungen oder auf beide Weisen herstellen kann; dadurch werden die Wirkstoffe sehr schonend eingeschlossen. Gerade für Peptide und Proteine – sei es nun ein synthetischer Arzneistoff, ein Enzym oder ein Vakzin – ist dies sehr wichtig.

Selbst lebende Zellen lassen sich mit Hilfe von Polymeren verkapseln. Sinnvoll ist dies zum Beispiel, wenn man die Zellen zur Produktion bestimmter Stoffe einsetzen will, sie dabei aber vor dem umgebenden Medium schützen muß. Mit Hilfe der Hoechst AG ist ein solches System bis in den Technikumsmaßstab entwickelt worden, das Nährstoffe zu den Zellen nach innen und von ihnen hergestellte monoklonale Antikörper durch die Membran nach außen dringen läßt. Andere Forschungseinrichtungen sind außerdem dabei, dieses Prinzip zu nutzen, um isolierte Inselzellen von Bauchspeicheldrüsen einzuschließen. Sie sollen dann Diabetespatienten implantiert werden, um das ihnen fehlende Insulin zu produzieren.

Im Hinblick auf Anwendungen in Pharmazie und Medizin werden neue intelligente Darreichungsformen moderner Medikamente auf der Basis von Mikropartikeln aus bioabbaubaren Polymeren sicherlich immer wichtiger. Nur auf diese Weise können empfindliche Wirkstoffe überhaupt Verwendung finden oder bekannte optimaler eingesetzt werden. In Zukunft werden die anwendungsspezifische Konstruktion von Medikamenten (Drug Design) oder die Steuerung ihres Wirkortes (Drug Targeting) eine große Rolle spielen. Ließe sich nicht auch ein Partikel Design oder ein Partikel Target-ing realisieren? Die Vision der Zauberkugel, die Paul Ehrlich (1854 bis 1915; Nobelpreis 1908) hatte, eine Arzneiform, die selbständig ihr Ziel findet, rückt mit den Mikropartikeln in den Bereich des Möglichen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1994, Seite 118
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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