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Nachgehakt: Ängstliche Mäuse, vermessene Menschen



Gewiß werden nicht nur äußerliche Merkmale wie Körpergröße, Haar- oder Augenfarbe genetisch vererbt, sondern auch Verhaltensdispositionen. In den vergangenen Jahren hat die Verhaltensgenetik beträchtliche Mühe darauf verwandt, erbliche Komponenten für Eigenschaften wie Intelligenz, Aggressivi-tät oder Suchtverhalten nachzuweisen. Strittig bleibt allerdings, in welchem Ausmaß die Umwelt angeborene Eigenschaften nachträglich zu überformen vermag. Eine eher negative Antwort hätte weitreichende Konsequenzen – bis hinein in die Bildungspolitik, Psychiatrie sowie Sucht- und Kriminalitätsbekämpfung. Erst kürzlich hat sich die sogenannte Sloterdijk-Debatte (Spektrum der Wissenschaft 11/99, S. 104) an der provokanten Behauptung des Philosophen entzündet, demnächst werde man wohl dazu übergehen, unerwünschtes Verhalten gentechnisch auszuschalten, statt es wie bisher bloß "umwelttechnisch" – erzieherisch, therapeutisch, resozialisierend – zu beeinflussen.

Gegenüber solch vollmundigen Prognosen nimmt sich der wissenschaftliche Alltag der Verhaltensgenetiker recht prosaisch aus. Sie untersuchen zum Beispiel spezielle Labormäuse, bei denen ein bestimmtes Gen "ausgeschaltet" ist, das im Verdacht steht, etwas mit Ängstlichkeit zu tun zu haben. Wagen sich solche Mäuse signifikant häufiger als andere in ein frei hängendes Plexiglas-Labyrinth vor, so spricht dies für einen Zusammenhang zwischen dem betreffenden Gen und ängstlichem Verhalten.

Manchmal erscheint dann ein solcher Befund in der Tagespresse – vielleicht unter der sensationellen Schlagzeile "Angst-Gen entdeckt!" –, ohne daß dort später ebenso spektakulär gemeldet würde, daß er wieder zurückgezogen werden mußte. Denn oft erweist sich der in einem Labor festgestellte Zusammenhang zwischen Gen und Verhalten als nicht reproduzierbar.

Angesichts dieses Problems untersuchte der amerikanische Forscher John Crabbe in einer groß angelegten Studie, wie gut sich verhaltensgenetische Resultate bewährten, wenn man in drei geographisch weit auseinander liegenden Labors – zwei in den USA, eines in Kanada – Mäuse mit gleicher genetischer Ausstattung den gleichen Experimenten unterzog.

Das Ergebnis, nachzulesen in "Science", Bd. 284, S. 1670 (1999), war ernüchternd: Das beobachtete Verhalten der Testmäuse hing signifikant vom jeweiligen Labor ab. Beispielsweise benahmen sich die Tiere in dem kanadischen Labor generell am wenigsten ängstlich, und die Unterschiede zwischen normalen und gen-veränderten Mäusen fielen in allen drei Labors anders aus.

Crabbes Studie löste eine lebhafte Diskussion unter Neuro-, Molekular- und Verhaltensbiologen aus, in deren Verlauf viele Gründe für die divergierenden Resultate genannt wurden. Die Genetiker wiesen darauf hin, daß selbst bei Inzucht über viele Generationen hinweg nicht garantiert werden kann, daß die getesteten Mäuse genetisch völlig identisch sind. Die Verhaltensbiologen unterstrichen die Rolle von Umwelteinflüssen: War in allen Labors dieselbe Nahrung verabreicht worden? Wurden die Versuchstiere einzeln oder in Gruppen gehalten? War das Laborpersonal mit ihnen überall gleichermaßen geschickt und beruhigend umgegangen?

Das bedeutet gewiß nicht, daß es kein erblich beeinflußtes Verhalten gibt; dafür sprechen auch in Crabbes Studie die tendenziell übereinstimmenden Resultate aller drei Labors – allerdings mit den erwähnten signifikanten Abweichungen, die auf unterschätzte Einflüsse der Labor-Umwelt schließen lassen.

Zum Beispiel war im kanadischen Labor ein Mitarbeiter derart allergisch gegen Mäuse, daß er bei der Arbeit ein Atemgerät tragen mußte. Da gerade in diesem Labor die Versuchstiere besonders wenig Ängstlichkeit zeigten, frage ich mich, ob sie in dem Wesen mit Rüssel und in hohen Tönen fiependem Ventilator einen überdimensionierten Artverwandten zu erkennen meinten.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 2000, Seite 23
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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