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Nicht keusch und heilig, sondern fruchtbar sollen Forscher sein

In neuer Einmütigkeit haben Wissenschaft und Politik eine Formel gefunden, welche die Konfrontation zwischen erkenntnisorientierter und angewandter Forschung aufheben könnte: Vernetzt sollen beide selbständig bleiben und doch zugleich voneinander profitieren. Während das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBF) eine parallele Zusammenarbeit von Forschern, Entwicklern und Anwendern anstrebt, hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) bereits erste Pilotprojekte begonnen.

Vor gerade zwei Jahren lösten Gedanken an eine industrienah orientierte Forschung staatlich finanzierter Großforschungseinrichtungen, die der heutigen Hermann von Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren (HGF) angehören, einen heftigen Streit über "anwendungsorientierte Grundlagenforschung" aus (Spektrum der Wissenschaft, September 1994, Seite 121). Nunmehr scheinen die Beteiligten einzusehen, daß das Festhalten an traditionellen Trennlinien unfruchtbar ist.

Das BMBF zählt im Bundesbericht Forschung 1996 "die Überwindung bestehender Hindernisse zwischen Wissensgenerierung und Anwendung" zu seinen vorrangigen Aufgaben. Neues Wissen könne auch im Kontext der Anwendung erzeugt werden. Die Nutzung der Genbiologie in der Medizin zum Beispiel sei "auf den ersten Schritten noch Wissenschaft, weil die Arbeits- und Denkprofile ineinander übergehen".

Vorstellungen einer "Hol- und Bringschuld", wonach die Erkenntnisse einer als überlegen angesehenen zweckfreien Grundlagenforschung in hierarchischer Ordnung linear bis hinunter zur praktischen Innovation, der Anwendung am Menschen und in der Industrie, übertragen würden, gelten auch in der Wissenschaft selbst als überholt. DFG-Präsident Wolfgang Frühwald setzte in seinem Bericht vor der Jahresversammlung seiner Organisation am 26. Juni in Leipzig voll auf die "gleichberechtigte Partnerschaft von Grundlagenforschern und Anwendern"; und vor der Jahrestagung der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) sagte deren neuer Präsident Hubert Markl am 21. Juni in Saarbrücken, Wissenschaftler der MPG hätten keine "Keuschheitsgelübde gegen den Umgang mit den praktischen Belangen von Gesellschaft, Staat und Wirtschaft abzulegen... Sie führen eher zu Heiligkeit als zu Fruchtbarkeit." Die MPG solle sich nicht einseitig für die erstere entscheiden, sondern die Forscher zur Zusammenarbeit mit der Praxis ermutigen und sie dabei unterstützen.

Gleichwohl dürfen sich Wissenschaftler nicht vergewaltigen lassen; sie selber müssen unkeusch sein wollen. Sie müßten, so Markl, "die Zusammenarbeit mit der Praxis aus freien Stücken und insbesondere in der Verfolgung ihres eigenen Forschungsinteresses suchen".


DFG: Pilotprogramm "Transferbereiche"

Auch die DFG läßt die von ihr geförderten Forscher nicht von Industrieaufträgen in diese Richtung drängen. In einem neuen Pilotprogramm "Transferbereiche" (TFB) will sie freilich ein Zeichen für den Wandel in Forschungspolitik und -struktur setzen. Als Wissensagentur überschreitet sie die Grenze zwischen Grundlagenforschung und Anwendung. Damit weiche sie aber nicht von ihrem Kernauftrag – der Förderung der Grundlagenforschung – ab, versicherte Frühwald. Das Programm solle jedoch "in einigen Fällen die Ausdehnung des Erkenntnisinteresses der Wissenschaftler in Bereiche hinein fördern, in denen es – vorwettbewerblich – auf die Interessen von Anwendern (auch aus der Industrie) trifft".

Die TFB sind projektförmig organisiert und sollen nach längstens drei Jahren prototypische Ergebnisse erzielt haben. Sie müssen stets von Wissenschaftlern initiiert und nach den üblichen Kriterien begutachtet werden, auch in den Arbeitsgruppen der Anwender. Diese sind vorzugsweise kleine und mittlere Unternehmen sowie Dienstleistungseinrichtungen wie Kliniken oder Behörden und finanzieren ihre Arbeitsgruppen selbst. Das von der DFG eingebrachte Kapital ist "unser Wissen, nicht unser Geld", sagte Frühwald.

Die drei ersten Transferbereiche, die an das DFG-Programm der Sonderforschungsbereiche gebunden sind, wurden am 1. Juli in den Ingenieurwissenschaften eingerichtet (solche in den Lebens- und den Sozialwissenschaften sollen folgen). Der TFB "Montageautomatisierung durch Integration von Konstruktion und Planung" nutzt die in einem noch laufenden gleichnamigen Sonderforschungsbereich an der Technischen Universität München entwickelten Methoden und Werkzeuge für ein integriertes Vorgehen bei der Produktentwicklung. Aus dem beendeten Sonderforschungsbereich an der Universität Stuttgart "Die Montage im flexiblen Produktionsbetrieb" soll ein TFB gleichen Namens die Ergebnisse zur flexiblen Gestaltung von Montageprozessen in die industrielle Praxis umsetzen. Ein Teilprojekt des Sonderforschungsbereiches "Hochgenaue Navigation – Integration navigatorischer und geodätischer Methoden" an der Universität Stuttgart ist Basis des in Zusammenarbeit mit der Wasser- und Schiffahrtsdirektion des Bundes gebildeten TFB "Ortung und Führung von Vermessungsschiffen", in dessen Rahmen ein rechnergestütztes Navigationssystem entwickelt werden soll, das sich für die routinemäßige Vermessung von Wasserstraßen einsetzen läßt.


BMBF: Innovationen durch Wettbewerb

Auch das BMBF möchte den direkten Transfer zwischen Universitäten und Forschungseinrichtungen auf der einen und Anwendern auf der anderen Seite verstärken. Im Gegensatz zur DFG bei den TFB knüpft es aber nicht am Ende des Forschungs- und Entwicklungsprozesses an und ist recht einseitig auf die Industrie, insbesondere die Klein- und Mittelunternehmen, ausgerichtet. Die Technologietransferstellen "müssen verstärkt im frühen Vorfeld von Forschungs- und Entwicklungsarbeiten Kontakte zwischen Wissenschaft und Wirtschaft herstellen", heißt es dazu im Forschungsbericht, und die Wissenschaftler seien für den erfolgreichen Transfer ihres Wissens zu motivieren.

Auf deren Interessen und Gemütslage nimmt Forschungsminister Jürgen Rüttgers freilich wenig Rücksicht, wenn er in den "Leitlinien zur strategischen Orientierung der deutschen Forschungslandschaft" vom 11. Juli verlangt, als "Knotenpunkte" im Innovationsnetzwerk müßten die HGF-Zentren ihre Forschungsthemen und -strategien an den Interessen der Wirtschaftsunternehmen orientieren. Das ruft den Verdacht von unkeuscher Vergewaltigung hervor und widerspricht der von der DFG eingeleiteten sanften Trendwende sowie der gleichberechtigen Partnerschaft, selbst wenn von einer "parallelen Zusammenarbeit von Forschern, Entwicklern und Anwendern" die Rede ist.

Die Leitlinien sind der Beginn einer tief in die Wissenschaftsinstitutionen eingreifenden Reform. Sie sind zwar auch als Reaktion auf die magere Ausstattung des BMBF-Haushalts 1997 mit 15 Milliarden Mark – 4,5 Prozent weniger als für 1996 ursprünglich angesetzt – zu verstehen, aber sie erwecken dennoch den Anschein, als wolle Rüttgers quasi in letzter Minute doch noch eine durchdachte Forschungspolitik anstreben. Die Studie "Visionen für die Forschungs- und Technologiepolitik", die langfristige Perspektiven aufzeigte (Spektrum der Wissenschaft, Mai 1996, Seite 119), ist noch immer wenig verbreitet und blieb weitgehend unbeachtet. Um so wichtiger wären jetzt konkrete Vorgaben.

Angesichts der wirtschaftlichen Globalisierung komme es in der Forschung auf internationale Kooperation und Vernetzung an. "Pluralität, Eigenständigkeit, Dezentralität bleiben Erfolgsbedingungen eines innovativen Wissenschaftssystems"; dieses müsse indes organisatorisch modernisiert werden, und die Verantwortungs- und Handlungsspielräume öffentlich geförderter Forschung in Deutschland seien neu zu orientieren und zu vermessen, heißt es in den Leitlinien.


DFG wird aufgewertet

"Forschung in Deutschland war und ist vor allem Forschung in den Hochschulen", stellt Rüttgers ferner fest. Damit wertet er die Rolle der DFG, die er als "Drehscheibe des Wettbewerbs" sieht, deutlich auf. Bislang veranstaltet sie diese Konkurrenz mit ihrem international vorbildlichen Gutachtersystem, dem alle zu fördernden Projekte unterworfen sind, fast ausschließlich unter den Hochschulen. Doch nach den Vorstellungen des BMBF sollen nunmehr auch die Institute der Wissenschaftsgemeinschaft Blaue Liste (WBL), die Bund und Länder institutionell fördern, sowie die HGF-Zentren in dieses Auswahlverfahren einbezogen werden.

Mit den Bundesländern will Rüttgers vereinbaren, daß zunächst fünf Prozent der Grundfinanzierung der WBL-Institute der DFG zufließen. Bisher erhalten diese DFG-Projektmittel nur für universitätsnahe Vorhaben. Ähnliches soll bei den HGF-Zentren geschehen. Ungeachtet dessen, daß gerade diese sich auf ihr eigenes Auswahlverfahren berufen und dem Rüttgers-Vorschlag skeptisch gegenüberstehen (Zitat: "Wir müssen uns nicht unter die DFG fügen, die leistet uns Hilfe nur, soweit der Senat der HGF sie darum bittet"), wird die Aufwertung vor allem der DFG erhebliche Probleme bringen. Selbst wenn sie dafür zusätzlich Geld erhält – wie können ihre Geschäftsstelle und ihre Gutachter die neuen Aufgaben von ihrem Selbstverständnis her strukturell bewältigen, und welche personellen Probleme ergeben sich? Diese Fragen sind noch völlig offen.


Innovationsmotor Fraunhofer-Gesellschaft

Die MPG und die DFG kommen mit ihrer neuen Politik inhaltlich in den Leitlinien recht gut weg. Auch die Fraunhofer-Gesellschaft (FhG) als "Innovationsmotor" erntet mit ihren jüngsten Aktivitäten großes Lob. In bisher drei privatwirtschaftlich geführten Innovationszentren sieht sie Chancen zu einem noch besseren Technologietransfer durch die Forscher selbst. Zwischen acht und zehn Prozent der Wissenschaftler verlassen jährlich die FhG und bringen ihr Know-how in Positionen in Wirtschaft und Staat ein. Rund 1000 Personen sind heute bereits in 250 von ehemaligen FhG-Mitarbeitern neu gegründeten Unternehmen tätig. Das Potential wäre indes weit größer, wenn dem nur nicht die fehlenden Erprobungsmöglichkeiten am Markt entgegenstünden.

Innerhalb von sogenannten Strategischen Innovationsinitiativen schließen sich Arbeitsgruppen mehrerer Fraunhofer-Institute, andere Partner in der Forschung sowie Anwender zu übergreifenden, zeitlich befristeten Verbundprojekten zusammen. Diese Kooperation soll für die FhG neue wichtige Innovationsfelder erschließen und ihre Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den von Bund und Ländern höher finanzierten Forschungseinrichtungen sicherstellen. Um international wettbewerbsfähige Auftragsforschung auf Spitzenniveau anzubieten, hat die FhG zunächst in den USA Kompetenz- beziehungsweise Forschungszentren zu Laser- und Produktionstechnik sowie Computergraphik aufgebaut. Diese Einrichtungen erschließen neue Kundenkreise, erwerben zusätzliche Kompetenzen und sind für deutsche Unternehmen, die sich in den USA engagieren, wichtige Partner. In Südostasien (Kuala Lumpur und Singapur) hat die FhG Verbindungsbüros aufgebaut, in Schanghai beteiligt sie sich an der Gründung eines Wissenschaftsbüros.


Evaluation der Blaue-Liste-Institute

Die in den kommenden fünf Jahren vorgesehene, auf den Erfahrungen der Evaluation der ostdeutschen Institute beruhende Gesamtbewertung aller WBL-Institute durch den Wissenschaftsrat unterstützt das BMBF als Modell für die gesamte Forschungslandschaft in Deutschland. Die WBL muß dafür eigene Qualitäts- und Leistungskriterien entwickeln. Das BMBF stellt ihr flexible Rahmenbedingungen wie für die anderen Forschungseinrichtungen in Aussicht, kündigt allerdings auch an, daß es diejenigen der 45 Institute, für die es zuständig ist, nicht weiter fördern wird, die der Wissenschaftsrat negativ beurteilt. Die Zuweisungen des Bundes sollen nicht an die Zentren, sondern an das jeweilige Sitzland gehen, das bereits jetzt die Federführung hat. Das soll bürokratische Doppelarbeit vermeiden.

Die HGF-Zentren fordert das BMBF nicht nur zu größerer Industrienähe auf, sondern auch dazu, "ein klares Aufgaben- und Leistungsprofil" zu zeigen, in ausgewählten und aktuellen Schlüsselfeldern Kompetenz zu konzentrieren und Herausforderungen interdisziplinär anzugehen. Ihre Aktivitäten sollen stärker nach Fachbereichen und Handlungsbedarf zusammengefaßt werden. Dazu wäre aus Teilen der Grundausstattung ein HGF-Orientierungsfonds zu bilden. Die einzelnen Zentren sollen Prioritäten setzen und sich auf bestimmte strategische Forschungsfelder konzentrieren. Zur Förderung des Nachwuchses schaffen die HGF-Zentren nicht nur 500 neue Stellen für Postdoktoranden, sondern wollen auch zunächst 100, später 200 weitere im Rahmen eines Talentsicherungsprogramms bereitstellen. Nach den Vorstellungen des BMBF sollen sie sich zudem stärker in privatwirtschaftlichen Unternehmensformen betätigen, etwa indem sie Ausgründungen von Mitarbeitern und junge Technologieunternehmen unterstützen.

Die größte Resonanz in der Presse erzielten die Leitlinien freilich nicht mit den relativ komplizierten neuen Aufgaben der Forschungsorganisationen, sondern mit der Ankündigung, die Deutsche Agentur für Raumfahrtangelegenheiten (DARA) werde mit der Deutschen Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt (DLR), einem HGF-Zentrum, vereinigt. Die erst 1989 gegründete DARA sollte das damals noch als große Aufgabe angesehene Raumfahrt-Management übernehmen. Inzwischen haben sich jedoch die Anzahl der rein deutschen Projekte und auch die Teilhabe an internationalen Programmen erheblich verringert, so daß diese Einrichtung durchaus der DLR zurückgegeben werden könnte. Das Schicksal der DARA und ihres Personals sind damit zu einem lokalen und regionalen Bonner Problem geworden.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1996, Seite 116
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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