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Ökobilanzen - Zahlenbasen für den betrieblichen Umweltschutz


Der Erhalt einer lebensfähigen – und lebenswerten – Umwelt ist längst einvernehmliches politisches Ziel in vielen westlichen Staaten. Selbst weltweit operierende Konzerne geraten unter den Druck der Öffentlichkeit, wenn sie in den Geruch kommen, Umweltsünder zu sein. Nicht selten aber begründen Unternehmen ein Nachlassen ihrer Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt mit den strengen heimischen Umweltvorschriften und damit verbundenen Kosten.

Andere hingegen haben erkannt, daß nachhaltiges Wirtschaften unerläßlich ist, und positionieren sich auf ihrem Markt neu, indem sie beispielsweise zu einer umweltschonenden Produktionsweise übergehen und dies als Marketing-Argument verwenden. Häufig gelingt es dabei, Kosten zu mindern, weil etwa weniger Rohstoffe eingesetzt werden müssen, Energie effizienter genutzt werden kann oder bislang zu entsorgende Abfälle sich in einen Recyclingprozeß zurückführen lassen.

In den vergangenen Jahren wurde für den betrieblichen Bereich ein Instrumentarium zur Analyse und Bewertung von Umweltproblemen entwickelt, das sich durchaus mit staatlichen Regularien wie der Umweltverträglichkeitsprüfung messen kann. Wesentlich dabei ist die Ökobilanz, wenngleich dieser populäre Begriff kaum konkret zu fassen ist und eher als Symbol für eine ganze Klasse unterschiedlicher Methoden zur Quantifizierung von Umweltauswirkungen steht. Dementsprechend ist daraus ein eigenständiger Teilbereich der Umweltwissenschaften geworden.

Gegenwärtig unterscheidet man im wesentlichen zwei Arten der Ökobilanz, die beide Beeinträchtigungen der Umwelt durch Betriebe aufzeigen sollen: Produktbezogene erfassen die Umweltauswirkungen von Waren, etwa eines Automobils, von der Rohstoffgewinnung über die Herstellung und die Nutzung bis zur Entsorgung, aber auch entsprechend von immateriellen Gütern wie Heizwärme oder Dienstleistungen; betriebliche sind hingegen als Gegenstück zur kaufmännischen Betriebsbilanz standort- oder firmenbezogen.


Geschichte der Produkt-Ökobilanz

Die erste Aufstellung von umweltrelevanten Input- und Output-Größen wurde 1969 unter der Bezeichnung resource and environmental profile analysis (REPA) für verschiedene Getränkeverpackungen des Coca-Cola-Konzerns erstellt. Das beauftragte Midwest-Forschungsinstitut in Kansas City legte damit den methodischen Grundstein der Lebenswegbilanz; den englischen Fachbegriff life cycle assessment (LCA) prägte man allerdings in Europa und verwendete ihn erst seit etwa 1990 auch in den USA.

Bei den ersten REPA-Studien standen Marketing-Aspekte im Vordergrund. So konnte für einige Kunststoffprodukte nachgewiesen werden, daß ihre ökologische Bilanz keineswegs so schlecht war wie in der Öffentlichkeit vermutet.

Als Hilfsmittel für regulatorische staatliche Maßnahmen schied das Verfahren jedoch aus. Die amerikanische Umweltschutzbehörde befand den Aufwand, um vom Produkt ausgehend die Industrie-Emissionen und das Abfallaufkommen zu verringern, Mitte der siebziger Jahre als zu hoch – Tausende von Untersuchungen wären erforderlich gewesen. Indes nutzten immer mehr Firmen die Methode intern bei der Produktentwicklung, wenn auch weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit, da die Untersuchungen und Ergebnisse meist streng vertraulich waren.

In Europa fand die Produkt-Ökobilanz insbesondere verschiedener Packstoffe oder Verpackungssysteme in den achtziger Jahren im Zuge der öffentlichen Diskussion um das Müllproblem zunehmend Interesse (nach wie vor sind etwa 40 Prozent der in Deutschland bekannten LCAs diesem Thema gewidmet). Man erhoffte sich zudem Informationen für den Verbraucherschutz: Welches Produkt ist umweltfreundlicher, auf welches sollte der Konsument verzichten? Die öffentlichen Erwartungen waren groß. Umgekehrt fürchtete die Wirtschaft die Ökobilanz als wettbewerbsverzerrenden Faktor in der Umweltdiskussion.

Die Praxis widerlegte beide Einschätzungen: Zu komplex beeinflussen die Eingangsdaten die Ergebnisse, zu schwierig ist die Interpretation der umfänglichen Rechenwerke. Im Unterschied zu kaufmännischen Bilanzen steht ja nicht die einheitliche Skala des Geldes zur Verfügung. Eine seriöse Kaufempfehlung anhand einfacher Bewertungsskalen wie etwa Ökopunkten war nur selten möglich. Jedoch erwies sich das LCA mit seiner umfassenden Datenbasis und Auswertemöglichkeit als probates Mittel bei der ökologischen Optimierung der Produktentwicklung und von Produktionsprozessen – allerdings wieder unter Ausschluß der Öffentlichkeit, geht es doch oft um betriebsinterne Planungen und Abläufe.

Die Bedeutung des LCA für die Wirtschaft zeigt sich inzwischen auch an intensiven Normierungsbestrebungen auf nationaler und internationaler Ebene. Die Internationale Standardisierungsorganisation (ISO) hat in den vergangenen Jahren Normen für die Erstellung und Bewertung entwickelt. Mit der Reihe ISO 14000 werden künftig weltweit Mindestanforderungen für Produkt-Ökobilanzen und das Umweltmanagement gelten.


Der methodische Ansatz

Eine Ökobilanz vermag nie mehr Daten zu liefern, als über die Umweltwirkungen von Produktionsprozessen oder menschlichen Tätigkeiten bereits bekannt sind oder eigens dafür erhoben werden. Sie faßt vielmehr dieses Wissen in einem größeren Rahmen zusammen und ermöglicht somit neue Erkenntnisse und Bewertungen. Zwei Aspekte sind dabei bedeutsam:

- Der gemäß dem Produkt-Lebenszyklus umfassende Bilanzraum (Bild 1). Nur so werden die Effekte von Maßnahmen sichtbar, die unter Umständen ein Problem lediglich verlagern. Beispielsweise läßt sich untersuchen, ob der geringere Benzinverbrauch, den leichtere Automobilkarosserien bewirken sollen, nicht möglicherweise durch einen höheren Energieaufwand für Roh- oder Werkstoffe aufgewogen wird.

- Sehr unterschiedliche Indikatoren für Einwirkungen auf die Umwelt. Dazu gehören Ressourcenverbrauch, Emissionen in Luft, Wasser und Boden, Abfallaufkommen und Flächenbeanspruchungen. Damit läßt sich die Verlagerung eines Problems von einem Medium auf ein anderes erkennen. Beispielsweise kann Müllverbrennung zwar Deponieraum sparen und das Risiko einer Grundwasserbelastung verringern, erhöht aber den Schadstoff-Ausstoß in die Luft.

Diese beiden Merkmale, so vorteilhaft sie theoretisch sind, schaffen in der Praxis enorme Schwierigkeiten. Für einen wirklich umfassenden Bilanzraum müßte man jedweden Aspekt eines Produkt-Lebenszyklus erfassen, also ein hochkomplexes System modellieren und analysieren. In letzter Konsequenz wäre das ein Weltmodell. Selbst ein Joghurtbecher steht in einem Zusammenhang von Tierzucht, Landwirtschaft, Agrochemie und Landmaschinenbau sowie Prospektion, Erdölgewinnung und -raffinerie und Kunststoffindustrie, der zum Transport der Rohstoffe wie des fertigen Produkts erforderlichen Fahrzeuge und der zugehörigen Infrastruktur nebst allen Aufwendungen zum Erhalt dieser Funktionsbereiche. Das Ergebnis der Ökobilanz hängt entscheidend davon ab, daß zumindest die relevanten Prozesse berücksichtigt wurden. Vergleicht man auf dieser Grundlage verschiedene Produkte, müssen Bilanzraum und Bilanztiefe (wie detailliert wurden Teilprozesse erfaßt und welche Schadstoffe berücksichtigt?) jeweils weitgehend kompatibel sein. Das Erstellen einer Ökobilanz ist damit eine Arbeit, die Erfahrung und Kenntnis von Daten und System erfordert.

Kardinalproblem Bewertung

Der möglichst alle Umweltmedien berücksichtigende Ansatz wiederum stößt auf eine Schwierigkeit, die in der kaufmännischen Bilanz durch die einheitliche monetäre Skala gelöst ist: Wie werden verschiedene Wirkungsbereiche aggregiert und bewertet?

Im Zuge der Normierungsdiskussion hat es sich eingebürgert, die Ökobilanz in vier Teilschritte zu gliedern (Bild 2) und Bewertungen immer deutlich auszuweisen. In der Zieldefinition muß der Untersuchungsrahmen abgesteckt und der Zweck wie Produktoptimierung, Produktvergleich oder anderes festgelegt sein. Dann werden die technisch-naturwissenschaftlichen Einzeldaten relevanter Prozesse, etwa Energieverbräuche oder Schadstoffemissionen, gesammelt und in einem Prozeßnetz zusammengefügt; diesen zweiten Schritt bezeichnet man im Deutschen als Sachbilanz, obwohl er durch die Auswahl der Prozesse und der zu bilanzierenden Stoffe bereits Bewertungen enthält (vergleiche nebenstehenden Kasten). Dessen Ergebnisse werden in der Wirkungsbilanz auf mögliche Umwelteinflüsse untersucht; so kann man Emissionen von Gasen wie Kohlendioxid oder Methan entsprechend ihrem Potential, den Treibhauseffekt der Atmosphäre zu verstärken, zu Kohlendioxid-Äquivalenten zusammenfassen. Im letzten Schritt, der eigentlichen Bewertung, wichtet man die verschiedenen ökologischen Wirkungskategorien nach dem gesetzten Ziel. Dafür müssen die Prioritäten für die Optimierung des Untersuchungsgegenstandes benannt sein.

Während man in den vergangenen Jahren bei der Methodik der Sachbilanzierung gut vorangekommen ist, bedarf es bei den Folgeschritten noch erheblicher Entwicklungsarbeit. Zwar sind inzwischen wichtige Wirkungskategorien festgelegt (Bild 3), doch gestaltet sich die Behandlung komplexer Bereiche wie die Human- oder die Ökotoxikologie mit ihren verschiedenen Wirkungen und Hunderten oder Tausenden relevanter Einzelsubstanzen sehr schwierig. Einem umfassenden Ansatz steht meistens eine mangelhafte, zudem systemimmanent stets veraltete und unausgewogene Datenbasis entgegen.

Gerade die Bewertungsprobleme erfordern weiterhin eine gewissenhafte Zieldiskussion. Sinnvoll ist eine Ökobilanz vor allem dann, wenn sie dazu beiträgt, jene Umwelteinflüsse zu verringern, die durch ein starres nationales Ordnungsrecht im Immissions- oder Arbeitsschutz nicht weiter optimierbar sind und trotzdem ein Problem – etwa im globalen Maßstab – darstellen. Auf jeden Fall ist ein gesellschaftlich-politischer Diskurs über Prioritäten im Umweltschutz erforderlich. Dazu wären Qualitätsziele quantitativ festzulegen, wie das die Bundesregierung mit der anzustrebenden Verringerung der Kohlendioxid-Emission getan hat.


Die betriebliche Ökobilanz

Mittlerweile erheben Firmen nicht allein LCAs für ihre Produkte, sondern Ökobilanzen für ganze Produktionsstandorte oder gar das Unternehmen insgesamt. Sie entsprechen noch am ehesten den Bilanzen im herkömmlichen Sinne: Für ein Geschäftsjahr erfaßt man alle einfließenden Stoff- und Energieströme wie Rohstoffe und Vorprodukte, Elektrizität und Prozeßwärme sowie alle ausfließenden wie Schadstoffe, Abwärme und Müll. Die Ergebnisse lassen sich mittels Kennzahlen etwa auf den Umsatz, die Produktionsmenge oder die Beschäftigten beziehen und mit denen anderer Geschäftsjahre beziehungsweise anderer Firmen der Branche vergleichen. Zwar ist man hier noch weit von einer Standardisierung entfernt, doch lassen sich auch in diesem Bereich meist Sach- und Wirkungsbilanz unterscheiden.

In den letzten Jahren nutzten zahlreiche Unternehmen in der Schweiz und in Deutschland diese neue Methode; in anderen Ländern ist sie kaum verbreitet. Sie ergibt oft die Basis für einen Umweltbericht, dient aber auch der Formulierung von firmen- und standortbezogenen Zielen beziehungsweise geeigneten Maßnahmen zur ökologischen Optimierung (Bild 4).

Man unterscheidet mitunter zwischen Kern- und Komplementärbilanz. Erstere betrachtet den Standort ausschließlich innerhalb des Werkzauns. Meist beeinflußt ein Unternehmen aber auch die Auswahl der Transportmittel für angelieferte Vorprodukte und die Verteilung seiner Erzeugnisse; ebenso wählt es zwischen verschiedenen Energiequellen und Abfallentsorgungsmöglichkeiten oder kann den Mitarbeitern die Benutzung umweltfreundlicher Verkehrsmittel für den Arbeitsweg erleichtern. In der Schweiz werden solche Aspekte in der Komplementärbilanz ausgewiesen.

Produkt- und Betriebs-Ökobilanz ergänzen sich, zumal sie oft von den gleichen Grunddaten ausgehen. Maßnahmen, die nur eine standortspezifische Entlastung der Umwelt zum Ziel haben, etwa durch das Auslagern bestimmter Herstellungsprozesse, wirken sich bei der betrieblichen Ökobilanz positiv aus, können die LCA jedoch nicht beeinflussen. Umgekehrt verrät eine gute Produkt-Ökobilanz nichts über Auswirkungen am Fertigungsstandort, die wesentlich von der Lage und der Menge der Produkte abhängen.

Beide Bilanzierungsarten ermöglichen also die Optimierung des Systems unter verschiedenen Gesichtspunkten. Eine nachhaltige Umweltpolitik mit globaler Perspektive muß beide angemessen berücksichtigen.


Fundiertes Öko-Audit

Das derzeit vieldiskutierte standortbezogene Umweltzertifikat der Europäischen Union soll helfen, den betrieblichen Umweltschutz durch ein Umweltmanagementsystem genanntes Analyse- und Entscheidungsverfahren auf freiwilliger Basis kontinuierlich zu verbessern (der englische Begriff audit bedeutet eigentlich Buch- oder Rechnungsprüfung und beinhaltet die Überprüfung dieses Systems). Ähnlich dem Qualitäts- ist also ein Umweltmanagement zu etablieren, das außer effizienten Strukturen eben auch quantitativer Analyseinstrumente wie beispielsweise der betrieblichen Ökobilanz bedarf.

Langfristig ergeben sich daraus Anforderungen, die über eine reine Input-Output-Bilanz hinausgehen, die einen Betrieb lediglich von außen betrachtet. Schließlich müssen auch die internen Schwachstellen identifiziert werden. Eine betriebliche Ökobilanz sollte deshalb dafür die wesentliche Prozeßstruktur innerhalb des Unternehmens mit den umweltrelevanten Material-, Energie- und Schadstoffströmen abbilden; Bestände und Lagerhaltung müssen dabei mitbetrachtet werden. Es entsteht so ein fließender Übergang zur umfassenden ökologischen Stoff- und Energiestromanalyse.

Aber auch bei der betriebsorientierten Untersuchung ist entscheidend, wie die Daten der Sachbilanz zu interpretieren und zu bewerten sind und in welchen Handlungsfeldern Prioritäten gesetzt werden müssen. Die Erfahrungen aus der internationalen LCA-Diskussion liefern dafür eine gute Basis. Immerhin handelt es sich meistens um die gleichen Indikatoren und Wirkungskategorien.

Der weitere Erfolg insbesondere des betrieblichen Umweltschutzes wird – von politischen Vorgaben und gesamtwirtschaftlichen Bedingungen abgesehen – wesentlich von den bereitgestellten Informationen über Material-, Energie-, Schadstoff- und Produktströme sowie ihre Auswertemöglichkeit und Bewertung abhängen. Dies gilt um so mehr, als viele augenfällige ökologische Mißstände inzwischen beseitigt wurden und zahlreiche weitere Schwachstellen sich nur mehr nach intensiver Analyse identifizieren lassen. Dazu kommen komplexe Abwägungen im Optimierungsprozeß, bei denen gegenläufige Folgen in verschiedenen ökologischen Wirkungskategorien bewertet werden müssen. Die Ökobilanz ist nach mehr als zwei Jahrzehnten der Anwendung und aufgrund einer inzwischen sehr weit gediehenen Normung dafür ein hervorragend geeignetes Analyse- und Bewertungsinstrumentarium.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1996, Seite 94
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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