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Pflanzenphotographien von Karl Blossfeldt - Ausstellung in Stuttgart


"Kunstformen der Natur" und "Die Natur als Künstlerin" hatte der Zoologe und Philosoph Ernst Haeckel (1834 bis 1919), der Charles Darwins Evolutionstheorie in Deutschland zum Durchbruch verhalf, zwei seiner reich illustrierten Werke genannt. Unter dem Titel "Urformen der Kunst", der diese Begriffsverbindung paraphrasiert und anders akzentuiert, erschien dann 1928 ein Buch mit 120 Pflanzenphotographien – es machte seinen Autor quasi über Nacht berühmt.

Karl Blossfeldt (1865 bis 1932) stand damals als Professor an der Unterrichtsanstalt des Berliner Kunstgewerbemuseums schon kurz vor seiner Emeritierung. Aber mit dem Generalthema seines Schaffens war der Sohn eines Gemeindedieners, Kleinbauern und Dorfkapellmeisters früh vertraut geworden: Bereits während seiner Lehrjahre von 1881 bis 1884 in der Kunstgießerei des Eisenhüttenwerks von Mägdesprung im Harz beschäftigte er sich eingehend mit den Pflanzenarten seiner Umgebung, denn die Gitter und Tore, die dort gefertigt wurden, waren mit einer Fülle verschiedenartiger floraler Ornamente versehen. So machte er es sich zur Gewohnheit, ein natürliches, frisches Blatt neben sich zu legen, um seine Modellierarbeit noch interessanter gestalten zu können.

Die Lehrherren erkannten die außergewöhnliche Begabung des jungen Burschen, sein sicheres Gefühl für Formen und die gekonnte Umsetzung in den Guß. Es gelang Blossfeldt, ein Stipendium für die Anstalt zu bekommen, an der er später selber unterrichtete. In Berlin begann er auch, für sein Studium bestimmte Pflanzen photographisch festzuhalten. Bei einem der Professoren, Moritz Meurer, fand er für diese Methode Zustimmung und Anregung, denn dessen Lehre zielte darauf, die Studenten nicht mehr – wie bis dahin üblich – Musterbücher historischer Ornamente kopieren zu lassen, sondern durch unmittelbare Anschauung gewachsener Strukturen zum eigenständigen Arbeiten anzuleiten.

Als Meurer 1890 den Auftrag erhielt, für die Unterrichtsanstalt eine Lehrmittelsammlung zum Studium und Nachbilden von Naturformen aufzubauen, wählte er als Mitarbeiter auch Blossfeldt aus. Die sechsjährige Forschungsarbeit führte sie nach Rom, Griechenland und Nordafrika, wo sie typische Pflanzen zeichneten und modellierten sowie antike architektonische Formen und Ornamente zum Vergleich aufnahmen.

Nach Berlin zurückgekehrt, setzte sich Meurer für die Neueinrichtung eines Faches ein, das gänzlich auf Blossfeldt zugeschnitten war: Modellieren nach lebenden Pflanzen. Im Jahre 1898 nahm er die Lehrtätigkeit auf.

Dies war auch der eigentliche Beginn seiner systematischen Arbeit mit Photographie. Er benutzte eine selbstgebaute Plattenkamera und drei Negativformate: 6 × 9, 9 × 12 und 13 × 18 Zentimeter. Die meisten Aufnahmen machte er im Makrobereich, also im Negativ bereits im Maßstab 1:1 oder größer. Beim Kopieren wurden sie dann nochmals vergrößert.

Blossfeldt wäre mit den Bildern wohl nie an die Öffentlichkeit gegangen. Der Berliner Galerist Karl Nierendorf erkannte darin aber mehr als Lehrmittel und stellte 1926 eine Auswahl aus; Zeitungen und Zeitschriften feierten sie als Entdeckung einer neuen Sehweise. Als zwei Jahre später der Band "Urformen der Kunst" im Verlag Ernst Wasmuth erschien, nahmen auch namhafte Rezensenten wie der Bauhaus-Meister László Moholy-Nagy, der Kunsthistoriker Julius Maier-Graefe und der Schriftsteller Walter Benjamin diese Werkschau mit Begeisterung auf. Ausgaben in Paris, London, New York und Stockholm folgten; in Deutschland sind bisher zehn Auflagen erschienen.

Blossfeldts Ruhm begründete sich in der äußersten Stringenz, mit der er die einmal entwickelte Methode seiner Aufnahmen beibehielt: Stets wählte er einen neutralen Hintergrund, der je nach Motiv völlig monochrom bis diffus erscheint; und er photographierte lediglich in strenger Vertikal- oder Horizontalsicht bei gleichbleibend weichem Tageslicht. Was daraus entstand, ist ein mehr als 6000 Bilder umfassendes typologisches Kompendium von Pflanzenformen, singulär in der Geschichte der Photographie.

Das Leitmotiv seiner Arbeit sprach Blossfeldt selbst in seinem zweiten, 1932 im Verlag für Kunstwissenschaft erschienenen Buch "Wundergarten der Natur" an: "Die Pflanze ist als ein durchaus künstlerisch-architektonischer Aufbau zu bewerten. Neben einem ornamental-rhythmischen schaffenden Urtrieb, der überall in der Natur waltet, baut die Pflanze nur Nutz- und Zweckformen. Sie war gezwungen, in stetem Daseinskampfe widerstandsfähige, lebensnotwendige und zweckdienliche Organe zu schaffen. Sie baut nach denselben statischen Gesetzen, die auch jeder Baumeister beachten muß."

Als Beispiel mag die architektonische Strenge des Winterschachtelhalms (Bild 2) gelten: Diese Photographie wurde schon 1926 in der populären Zeitschrift "Uhu" mit Turmformen ägyptischer Mameluckengräber verglichen. Maier-Graefe entdeckte in den Pflanzenformen die Strukturen romanischer Kandelaber, gotischer Chorgitter aus Eisen und dünngeschmiedeter goldener Weihgefäße.

Tatsächlich ist das botanische Interesse bei Blossfeldt immer zweitrangig geblieben; dementsprechend ordnete er seine Aufnahmen in den zu Lebzeiten erschienenen Publikationen hauptsächlich nach formalen Gesichtspunkten. Um der Klarheit des strukturellen Aufbaus willen ging er verschiedentlich so weit, Pflanzenteile zu beschneiden, oder er isolierte bestimmte Details derart, daß eine Bestimmung der Art selbst geübten Fachleuten bisweilen schwerfällt. Wenn es ihm um die Darstellung des "Ornamental-Rhythmischen" ging, arrangierte er etwa eine Anzahl in Aufsicht gesehener Blüten zu einem dekorativen Muster: Die Aufnahme der Weinraute (Bild 1) enthüllt auf diese Weise gleichermaßen die Unterschiedlichkeit der einzelnen Blüten wie die Gleichförmigkeit der symmetrischen Anlage.

Darin liegt Blossfeldts eigentliche künstlerische Bedeutung: daß er seine Sujets in einer Weise darzustellen wußte, in der sich die natürliche wie eine künstlerisch gestaltete Form geriert, Zweckmäßigkeit und Schönheit sich als Momente ein- und desselben Bildungsprozesses erkennen lassen.

Die vom Kunstmuseum Bonn initiierte und dort schon gezeigte Ausstellung ist vom 27. Oktober bis zum 4. Dezember im Württembergischen Kunstverein in Stuttgart sowie vom 5. Februar bis zum 17. April 1995 im Sprengel-Museum in Hannover zu sehen. Es werden ausschließlich die Vintage Prints (Originalabzüge aus der Zeit der Aufnahmeherstellung) des von Ann und Jürgen Wilde betreuten Blossfeldt-Archivs gezeigt, die auch den Katalog mit Texten von Jürgen Wilde und Christoph Schreier herausgegeben haben (erschienen im Cantz-Verlag, Ostfildern).


Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1994, Seite 134
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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