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Planung von Schornsteinsprengungen

Ein Software-System der Ruhr-Universität Bochum vermag die komplexen Deformationsvorgänge beim Sprengabbruch von Industrieschornsteinen zu modellieren und ihren Fall vorherzusagen. Die Methoden weden derzeit auf den Hochhausabriß übertragen.


Das Errichten von Bauwerken unterliegt in der Bundesrepublik strengen Regeln, die beispielsweise vorab umfangreiche statische Berechnungen verlangen. Beim Abbruch hingegen sind die Anforderungen weitaus geringer. Selbst eine Sprengung in dicht bebautem Gebiet obliegt häufig allein den Erfahrungen des Sprengmeisters.

An der Fakultät für Bauingenieurwesen der Ruhr-Universität Bochum werden deshalb Planungssystematiken entwickelt, die solches Praxiswissen mit physikalisch-mathematischer Modellierung kombinieren. In einem ersten, mittlerweile abgeschlossenen Projekt konzentrierten sich Dieter Hartmann und seine Mitarbeiter im Auftrag des Deutschen Sprengverbandes und gefördert durch die Stiftung für Industrieforschung auf dünnwandige, oft mehrere 100 Meter hohe Industrieschornsteine aus Stahlbeton. Weil es mühsam und vor allem gefährlich ist, solche Konstruktionen von Arbeitern von Gerüsten aus brockenweise abtragen zu lassen, ist es sinnvoller, sie durch Heraussprengen einer Öffnung knapp über dem Erdboden zum Kippen zu bringen – und das oft innerhalb eines meist dicht bebauten Werksgeländes.

Anders als ein gemauerter Schornstein, der aus einzelnen Steinen mit nur mäßigem Verbund besteht, verhält sich einer aus Stahlbeton wegen der eingelassenen Bewehreisen als kompakte Masse. Werden diese aber bei einer Sprengung unsachgemäß durchtrennt, kann er auf unvorhersagbare Weise in sich zusammenfallen oder in schräger Lage stehenbleiben. Aber auch wenn der Schornstein in die richtige Richtung fällt, muß genau vorausberechnet werden, wie weit ihn die Fliehkräfte auseinanderziehen.

Die Forschungsgruppe hatte also die üblichen Sprengverfahren detailliert zu untersuchen, zu modellieren und in ein leicht bedienbares Computerprogramm umzusetzen. Das sollte nämlich auch direkt an der Baustelle einsetzbar sein, damit man aktuelle Parameter – darunter sogar Richtung und Stärke des Windes berücksichtigen kann.

Der Ablauf einer Schornsteinsprengung


Ähnlich wie Holzfäller in hohe Bäume eine tiefe Kerbe sägen, wird nach der gängigen Praxis am Fuß von Stahlbetonschornsteinen ein sogenanntes Sprengmaul aus dem Schaft gesprengt, das bis unter den Schwerpunkt reicht. Unter dem somit exzentrisch wirkenden Eigengewicht beginnt das Bauwerk wie um ein Drehgelenk zu kippen.

Als Sprengmaulform hat sich – daher der Name – die eines lachenden Mundes bewährt. Die Sprengmeister bringen dazu mehrere Bohrungen an, füllen sie mit Explosivstoff und zünden die Ladungen nacheinander.

Zudem wird unter Umständen ein Teil der Bewehrung auf der Rückseite durchtrennt, etwa um eine kontrollierte Drehbewegung vorzubereiten. Andererseits soll die verbleibende rückseitige Bewehrung den Restquerschnitt so weit stabilisieren, daß der Schaft nur durch Biegung bricht; gäbe der Schornstein dagegen unter dem entstehenden Druck nach, könnte er vertikal kollabieren.

Des weiteren muß man mit seitlichen Begrenzungsöffnungen –Fallschlitzen – verhindern, daß sogleich Schutt das Sprengmaul blockiert. Mitunter sind wiederum bereits vorhandene Öffnungen vor der Sprengung zu verschließen, damit sie nicht die Fallrichtung verändern.

Labor- und Felduntersuchungen


Zunächst werteten die Forscher die einschlägige Literatur, Datensammlungen von Schornsteinen, Berichte von Sprengungen sowie Analysen dabei aufgetretener Schäden aus. Im europäischen Raum gibt es zwar seit 1985 einige Untersuchungen, sie reichten aber nach Einschätzung der Bochumer Ingenieure nicht hin und beruhten zum Teil auf unzutreffenden Annahmen. So entschlossen sie sich zu Laborexperimenten an kurzen Rohrstücken und Felduntersuchungen, um verläßliche Daten für die Modellierung und ein daraus ableitbares Regelwerk zu gewinnen.

Bei den Versuchen zum Bruchverhalten in den Kippzonen wurde an zwölf 2,50 Meter hohen Stahlbetonrohren jeweils ein Sprengmaul ausgesägt und dann das Eigengewicht eines Schornsteins mit einer hydraulischen Presse simuliert. So ließen sich Formen der Öffnung und unterschiedliche Bewehrungen testen.

Mit steigender Belastung bildeten sich an den Seiten der Versuchszylinder Risse aus, die längs der Bereiche größter Spannung zu den Enden der Öffnung verliefen. Schließlich wurden die Zonen hinter dem Sprengmaul auf beiden Seiten zerstört, und ein horizontaler Riß durchtrennte das Restmaterial (Bild 1).

Eine Analyse der Meßwerte zeigte, daß die Deformation über den Querschnitt nicht gleichmäßig verläuft – eine Folge der Verformung vom Kreis zum Oval. Zum einen wird das Rohr in der Achse des Kippgelenks gedehnt (also quer zur Fallrichtung durch Verlängerung deformiert), zum anderen senkrecht dazu gestaucht (längs deformiert).

Somit stehen die seitlichen, sich stärker als zuvor krümmenden Außenflächen unter Zug, die Innenflächen dort dagegen unter Druck. Umgekehrt verhält es sich auf der Rückseite, die sich bei der Verformung auf das Sprengmaul zu bewegt, wobei die Innenfläche dort quasi auseinandergezogen wird. Auf den von der Presse nicht belasteten Sprengmaullippen schließlich wird nur Querdeformation wirksam.

Eine zugespitzte Maulform erwies sich als besonders vorteilhaft, weil sie als Kippgelenk länger stabil bleibt als etwa eine rechteckige oder abgerundete. Diese Ergebnisse bestätigte auch eine Finite-Element-Modellierung Allerdings ergaben diese Experimente nichts über das Bewegungsverhalten eines kippenden Schornsteins, denn dazu müßte man auch Rotation und Drehverhalten der normalerweise viel höheren Objekte nachahmen. Darum erhoben die Forscher Daten bei realen Sprengabbrüchen. Die dazu neuentwickelten Dehnungsmeßgeräte erfassen die Änderung des elektrischen Widerstands in einem Stahldraht und haben gegenüber konventionellen Dehnmeßstreifen den Vorteil, noch einige Sekunden nach der Sprengung Verschiebungswerte zu liefern (sofern nicht, wie in einem Fall, die elektrischen Leitungen zerstört werden).

Insbesondere die Rotationsträgheit machte sich bei einem realen Abbruch bemerkbar, weil sie die Biegebrüche wesentlich verlangsamte. Brach der Schaft während des Kippens, verkürzte sich dagegen die Fallzeit; sie verlängerte sich wiederum, wenn der Schornstein unplanmäßig in sich zusammensackte, weil er dann gebremst über seine Vorderkante weiterkippte. Ansonsten wurden Druck- und Zugzonen wie in den Laborexperimenten festgestellt.

Aufbau einer Regelbasis


Diese Befunde und die Ergebnisse der Literaturrecherche gingen in eine Wissensbasis in Form von Regeln ein:

– Die Sprengebene soll möglichst tief liegen, um ein eventuelles Zwischensacken schnell zu beenden.

– Das Sprengmaul soll bei massiven, jedoch nur schwach bewehrten Schornsteinen etwa die Hälfte, bei sehr dünnwandigen, stark bewehrten, ungefähr zwei Drittel des Umfangs ausmachen.

– Für ein gesichertes Weiterkippen nach dem Schluß des Sprengmauls reicht ein Öffnungswinkel von 10 Grad meist aus; haben die Bewehrungsstäbe 20 Millimeter Durchmesser, müssen 20 Grad, bei noch dickeren bis 45 Grad ausgesprengt werden.

– Auf der Seite, die der Fallrichtung entgegengesetzt ist, sollten Sägeschnitte die Zugtragfähigkeit der Bewehrung ab Stabdurchmessern von 20 Millimetern mindern; die seitlichen Bereiche sollten dagegen nicht angeschnitten werden, um dort die volle Belastbarkeit zu erhalten.

Die Wissensbasis führt den Benutzer bei der Planung eines Schornsteinabbruchs, indem er angewiesen wird, geometrische und konstruktive Details wie etwa vorhandene Schaftöffnungen sowie Materialkennwerte aufzunehmen, die Sprengzone zu bemessen und die Windverhältnisse zu erfassen.

Numerische Simulation


Der Berechnung des Sprengens und seiner Folgen wurde das Modell eines starren Körpers zugrunde gelegt, dessen Masse sich im Schwerpunkt konzentriert und der sich um einen Kippunkt dreht. Dabei wirken keine Spreng-, jedoch Gewichts-, Auflage-, Luft- und Massenträgheitskräfte. Die Lagen von Kipp- und Schwerpunkt verändern sich, während der Schornstein stürzt.

Bei dieser Bewegung sind Kippen und Rotation zu unterscheiden, dafür lassen sich separate Gleichungen aufstellen und numerisch lösen. Die Windkräfte in den Richtungen längs und quer zur Fallrichtung werden unter dem jeweiligen Anströmwinkel und -profil berechnet. Auch das Verhalten der Stahlbewehrung kann anhand ihrer Stärke und von Stoffgesetzen für die Zug- und Druckbereiche modelliert werden. Daraus läßt sich dann die Kippachse ermitteln.

Der Vergleich antreibender und widerstehender Momente ergibt überdies ein Maß der Kippsicherheit. Schließlich läßt sich auch berechnen, welches Risiko besteht, daß der Schornstein zusammensackt und Objekte im Umkreis bei möglichen Abweichungen vom idealen Fall gefährdet.

Praxis


Das Programmsystem wurde mittlerweile mehrmals erfolgreich zur Begutachtung und Planung eingesetzt (Bild 2). Je nach Bebauungsgrad steht aber unter Umständen nicht der Platz für einen kippenden Schornstein zur Verfügung. In einem weitergehenden Anschlußprojekt wurde deshalb die Möglichkeit einer Faltung durch mehrere gegeneinander versetzte Sprengmäuler entlang des Schaftes implementiert. Aus dem starren Körper wird dann eine Kette starrer Segmente, die jeweils durch Fließgelenke miteinander verbunden sind.

Zudem arbeiten die Bochumer Ingenieure an der Modellierung des Sprengabbruchs von Hochhäusern. Durch gezielte Sprengungen innerhalb der Gebäudestruktur wird aus dem ursprünglichen Bauwerk ein Mehrkörpersystem mit flexiblen Einzelkomponenten. Weil diese kollidieren und brechen können, muß das dynamische Verhalten im Zeitverlauf modelliert werden.

Für diese Komplexität sind nach Ansicht der Bochumer Wissenschaftler die bisher im Ingenieurwesen verwandten prozeduralen Programmiersprachen weniger geeignet; statt dessen sind objektorientierte Techniken vorzuziehen. Der derzeitige Forschungsschwerpunkt in Bochum liegt denn auch auf der Entwicklung eines dynamischen Objektmodells, das die Kollapsvorgänge wirklichkeitsnah wiedergibt.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1995, Seite 14
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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