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Rennräder - Abstimmung von Fahrer und Konstruktion


Wie bei anderen technischen Sportdisziplinen bedarf es auch im Radsport steter Optimierung der Geräte. In den letzten Jahren zeigte sich insbesondere bei Zeitfahr-Wettbewerben in der Halle deutlich, daß Innovationen über Sieg oder Niederlage entscheiden können. Den Anstoß zur jüngsten Phase intensiver Entwicklungsarbeiten gab 1984 der Italiener Francesco Moser durch den Einsatz windschlüpfiger Scheibenräder (er umging so das Reglement, das Verkleidungen, die sich nicht selbst tragen, verbietet); zudem beugte er den Oberkörper extrem nach vorn, um den Luftwiderstand zu verringern.

Eine weitere auffällige Neuerung, die mit einer langen Tradition brach, waren sogenannte Monocoque-Rahmen: Sie bestehen nicht nur vollständig aus Kunststoff, sondern sind auch aus einem Stück gefertigt. Gegenüber Metall- und Kunststoffrahmen aus Einzelkomponenten sind sie steifer, dämpfen also die Antriebskraft weniger; zudem lassen sie sich aerodynamischer bauen, da Verbindungsnuten fehlen. Bei den Olympischen Sommerspielen in Seoul gewann das Team der DDR mit solchen Rahmen, die an unserem Institut konzipiert und gebaut wurden, 1988 die Goldmedaille im 100-Kilometer-Mannschaftsfahren.

Mit einer Weiterentwicklung dieses Prinzips, einem plattenförmigen Rahmen, bei dem die Räder nicht in Gabeln, sondern seitlich aufgehängt waren, errang der Brite Chris Boardman bei den Olympischen Sommerspielen 1992 den Sieg in der 4000-Meter-Einzelverfolgung. Die Körperhaltung war noch weiter abgesenkt. Dazu stemmte er die Ellenbogen in schalenförmige Vorrichtungen und lenkte über zusätzliche Bügel.

Mit einem solchen von Triathlon-Rennrädern übernommenen Lenkeraufsatz sicherte sich 1989 der Amerikaner Greg le Mond beim abschließenden Zeitfahren den Gesamtsieg der Tour de France. Seitdem hat sich diese Konstruktion bei Rennrädern für das Zeitfahren durchgesetzt. Einer konsequenten Fortführung der Triathlon-Position verdankte der Schotte Graham Obree 1993 seinen Weltmeister-Titel: Indem er die Schultern bis zu den Händen absenkte, legte er die Arme am Körper an und verringerte so den Luftwiderstand weiter. Diese Haltung wurde allerdings im letzten Jahr per Reglement für alle Disziplinen auf Bahn und Straße verboten.


Integration von Mensch und Gerät

Die Olympischen Sommerspiele in Atlanta 1996 erfordern für Radsportler, die in Zeitfahr-Wettbewerben Spitzenplätze belegen sollen und wollen, demnach wieder neue Ideen und systematische Untersuchungen. Nach den Erfahrungen unseres Instituts müssen drei Komponenten im Zusammenhang gesehen werden:

- das Sportgerät unter den Aspekten Aerodynamik, Steifigkeit und Gewicht,

- der Sportler samt entsprechender Kleidung, der auch mit geeigneten Geräten trainieren sollte, sowie

- das Zusammenwirken beider, also die Fahrerhaltung auf dem Rad.

Entwicklung und Bau neuer Typen gliedern sich in mehrere Phasen, die den drei Aspekten unterschiedliches Gewicht beimessen. Während der Definitionsphase werden die einzelnen Aufgaben analysiert und die Haltungsuntersuchungen durchgeführt. Bei der Konzeption sind Randbedingungen wie die Rahmengeometrie, Profilformen von Rohren und Steifigkeiten festzulegen. Wie die Faserverbunde herzustellen sind und welche Technologien bei der Fertigung zum Einsatz kommen, klären die Konstrukteure, die mittels CAD- und Finite-Element-Programmen die Geometrien detailliert entwickeln und deren Belastungen beim Wettkampf simulieren. In der Realisierungsphase werden Modelle sowie Werkzeuge und Prototypen hergestellt. Tests etwa in der Nationalmannschaft dienen der Erprobung und Anpassung. Schließlich muß die benötigte Stückzahl gefertigt werden.

Dieser komplexe Ablauf ist außerdem äußerst flexibel zu halten. Denn es gilt, Erkenntnisse selbstkritischer Analyse, auch ausgefallene spontane Ideen und unter Umständen kurzfristige Reglement-Änderungen zu berücksichtigen.


Haltungsuntersuchungen

Der Beitrag der Technik zu sportlichen Erfolgen ist begrenzt; das Gerät kann den Athleten nur unterstützen, den Wettbewerb zu bestehen hat er allein. Deshalb sind im Radrennsport Haltungsuntersuchungen sehr wichtig, um die Fahrposition mit minimalem Luftwiderstand individuell zu ermitteln. Dieser macht immerhin etwa 90 Prozent des zu überwindenden Gesamtwiderstands aus (andere Anteile sind insbesondere Reibungs- und Rollwiderstand sowie Trägheitskräfte); drei Viertel davon verursacht der Körper des Sportlers.

Die Grundidee ist, durch verbesserte Haltung auf dem Rad die erforderliche Antriebsleistung zu verringern, so daß Reserven für höhere Geschwindigkeit bei hinreichender Ausdauer bleiben. Selbst gegenüber einer extremen Triathlon-Position ersparte die noch gebücktere Haltung von Obree etwa zehn Prozent Leistungsaufwand.

Zur Abstimmung von Fahrerhaltung, Aerodynamik und Kraftübertragung im Zusammenhang entwickelten wir ein verstellbares Meßrad, das praxisnähere Versuche als die üblichen Windkanal- und Labortests ermöglicht. Es wird in der Halle mit 50 Kilometern pro Stunde über eine Strecke von 1000 Metern gefahren, um die durchschnittliche Leistung zu bestimmen. Bei mehreren Läufen mit unterschiedlichen Körperhaltungen zeigen sich dann aufschlußreiche Leistungsdifferenzen.

Das Meßfahrrad B93-1 besteht aus einer Plattenkonstruktion mit zwei Hinterradstreben und einem horizontalen Verstellrohr (Bild 1), auf dem sich die Sattelposition gegenüber dem Tretlager beliebig fixieren läßt; außerdem kann man darüber die Radlänge ändern. Eine weitere Variationsmöglichkeit bieten unterschiedliche Laufrad-Durchmesser, um verschiedene Lenkerlagen einzustellen. So läßt sich die Haltung des Sportlers optimieren.

Wir kombinierten bei diesem Rad moderne Fertigungstechniken der Kunststoff-Verarbeitung. Einzelne Streben wurden im Blasformverfahren hergestellt, bei dem ein Schlauch mit dem getränkten Laminat umwickelt, dann aufgepumpt und gegen eine äußere Form gepreßt wird. Eine Folie verband die Teile im Vakuum-Ziehverfahren; dabei wird die Luft zwischen Folie und Träger abgesaugt, was beide verpreßt; man erhält damit sehr gute Oberflächen und nahtlose Übergänge.

Im Rad selbst befinden sich Sensoren, die Parameter wie Leistung, Geschwindigkeit, Tritt- und Herzfrequenz erfassen. Es wird eine Meßeinrichtung der Firma Schoberer in Jülich benutzt, bei der Dehnmeßstreifen am Kettenblatt dessen Verformungen infolge der aufgewandten Kräfte zur Leistungsbestimmung erfassen. Alle Informationen lassen sich per Induktion vom Kettenblatt zu einem Meßaufnehmer im Rahmen übermitteln, von wo aus sie einem Speicherchip zugespielt werden. Zur Auswertung muß man die Daten derzeit in einen Laptop auslesen, doch soll noch in diesem Jahr eine Funkübertragung den Betreuern ermöglichen, alle Werte direkt zu verfolgen und jede Testfahrt unmittelbar zu beeinflussen.

Mit diesem System lassen sich selbst Auswirkungen kleiner Verschiebungen der Sattelposition auf das Leistungsspektrum deutlich nachweisen. Allerdings ist die Haltung mit dem geringsten Leistungsaufwand nicht unbedingt auch für den Wettkampf optimal – die Gelenkwinkel können für die Kraftentwicklung ungünstig sein, oder es sprechen gesundheitliche Aspekte dagegen. Zudem läßt sich der Oberkörper nicht beliebig zur äußersten Verringerung des Luftwiderstands nach vorn absenken, weil gleichzeitig die Sicht behindert wird. Ein dauerndes Anheben des Kopfes ist zwar bei einem nur Minuten dauernden 4000-Meter-Rennen gerade noch akzeptabel, wäre über 50 Kilometer Straße aber nicht zu tolerieren. Letztlich ist immer auch das strenge Reglement zu beachten.


Besonderheiten der Konstruktion

Die in der Definitions- und Konzeptphase erarbeiteten Eckwerte setzt der Konstrukteur in ein leistungsfähiges, hochspezialisiertes Sportgerät um. Dabei entwirft er nicht nur den Rahmen, sondern auch Einzelteile und Komponenten wie Lenker, Gabeln, Laufräder oder spezielle Naben. Wichtig ist dabei die vom 3D-CAD-Modell ausgehende Finite-Element-Berechnung, etwa um unzulässige Spannungsspitzen in Bauteilen zu entdecken, die erforderliche Laminatstärke einer Kunststoff-Struktur zu ermitteln oder aus den berechneten Verformungen auf das Fahrverhalten zu schließen.

Sollen die Simulationen realistisch sein, müssen Parameter wie Randbedingungen am Übergang des simulierten Systems zu anderen Radkomponenten oder zur Straße, Belastungen sowie Werkstoff- und Steifigkeitskennwerte präzise vorliegen. Exakte Lastannahmen werden beispielsweise in aufwendigen Meßfahrten, Materialkennwerte in Laborversuchen an Probeprofilen gewonnen (Bild 3).

Finite-Element-Berechnungen und experimentelle Untersuchungen lassen sich mitunter gleichzeitig vornehmen, um die mathematischen Modelle zu überprüfen und gegenenfalls zu modifizieren. Dabei sollten die Eingangsparameter von virtueller und physischer Realität verständlicherweise übereinstimmen.

Die damit gewonnenen Daten über Spannungen und Verformungen lassen sich nun interpretieren, etwa um die Grenzen der Belastbarkeit von Werkstoffen und Querschnitten auszuloten. Sieht man von Extremlast-Situationen wie beispielsweise dem Sturz ab, ist das Hauptziel bei Rennrädern, die größtmögliche Steifigkeit bei geringstem Gewicht zu erzielen. Die Leistung des Athleten soll in den Vortrieb, nicht in die Verformung des Sportgeräts eingehen; die Kraft ist optimal auf die Räder zu übertragen. Allerdings ist das Rad immerhin zu einem Viertel am Luftwiderstand beteiligt; deshalb sucht man optimale Querschnitte, die bei minimalen Anströmflächen und windschlüpfiger Form noch größtmögliche Steifigkeit geben.

Stellt man nun unzulässige Spannungsspitzen fest, wie sie beispielsweise an Übergängen von sehr unterschiedlichen Querschnitten als sogenannte Kerbwirkung auftreten können, muß unter Umständen die Konstruktion geändert werden. So könnte man versuchen, zu anderen Querschnitten überzugehen oder durch mehr Material in diesem Bereich die Spannungen aufzufangen. Umgekehrt kann man Laminatstärken und Querschnitte zur Gewichtsreduzierung so lange variieren, bis unzulässige Spannungsspitzen und Verformungen erstmals auftreten.

Die derart ausgereiften 3D-CAD-Modelle müssen sodann zu Daten für computergesteuerte Fräsmaschinen oder Rapid-Prototyp-Anlagen verrechnet werden, wie man sie im Modellbau einsetzt (Spektrum der Wissenschaft, April 1995, Seite 90). Jede Konstruktion wird dann als physischer Prototyp eingehend getestet, um Mängel der Entwicklung und Fertigung aufzudecken beziehungsweise die Simulationen und damit das mathematische Modell zu überprüfen.

Nur durch ein solch ausgefeiltes schrittweises Vorgehen lassen sich Verbesserungen erreichen, denn die Grundmodelle der Rennrad-Komponenten sind sehr ausgereift. Das gilt insbesondere für den sogenannten Diamantrahmen, dem seit dem letzten Jahrhundert gängigen Grundtyp des Straßenrades.

Einer unserer Prototypen für die nächsten Olympischen Spiele weicht gleichwohl von diesem Muster ab. Weil es nun einmal vier wesentliche Punkte – Hinterradlagerung, Tretlager, Sattel und Gabelanschluß (Steuersatz) – zu verbinden gilt, konstruierten wir einen Kreuzrahmen (Bild 2). Durch gezieltes Weglassen von Verstrebungen ließ sich der Mate-rialeinsatz weiter reduzieren. Allerdings betraten wir damit nicht wirkliches Neuland: Bereits 1885 war ein stählerner Kreuzrahmen Grundlage – allerdings nicht Gegenstand – eines Patents des englischen Unternehmens Hillman, Hermann & Cooper.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1995, Seite 105
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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