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Sintern ohne Schrumpfen

Keramiken sind hart und dauerhaft, doch Rohlinge daraus schrumpfen bei der Herstellung. Statt sie entsprechend größer auszulegen, läßt sich der Schwund durch Reaktionssintern kompensieren.


Sie sind sehr hart und halten hohen Temperaturen ebenso stand wie Säuren oder anderen korrosiven Medien. Der Mensch hat sich der Keramiken schon sehr früh bedient und fertigte Gefäße daraus. Seit vielen Jahren nutzt man sogenannte Neue Keramiken (Spektrum der Wissenschaft, Digest "Moderne Werkstoffe", 1994) für technische Anwendungen. Das sind entweder äußerst feste und zähe Oxid- und Nichtoxidkeramiken wie Zirkoniumdioxid (ZrO2) beziehungsweise Siliciumnitrid (Si3N4) etwa für den Maschinen- und Automobilbau, oder Funktionskeramiken mit speziellen physikalischen Eigenschaften wie das piezoelektrische Bleizirkonattitanat (Pb(Zr,Ti)O3), das sich für Sensoren und Aktoren eignet.

Allerdings haben auch diese Materialien ihre Nachteile. So sind sie nicht nur sehr spröde, sie lassen sich auch nicht so einfach wie Kunststoffe oder Metalle in die gewünschte Form spritzen oder gießen. Ihre gute thermische Beständigkeit beruht nämlich unter anderem auf hohen Schmelzpunkten. Statt dessen preßt man zunächst keramische Pulver zu Rohlingen, die dann gebrannt, das heißt, gesintert werden (siehe Kasten nächste Seite). Ein Binder verklebt meist die Pulverteilchen – der Rohling zerfiele sonst wie ein Sandkuchen.

Das Problem ist nun, daß bis zur Hälfte des Volumens eines Pulverrohlings – auch Grünling oder Grünkörper genannt – aus Hohlräumen besteht. Vereinfacht ausgedrückt verschmelzen die Partikel beim Sintern, die Porosität schwindet, und der Rohling verdichtet sich zur festen Keramik. Damit ist jedoch zwangsläufig auch ein Schrumpfen verbunden – und zwar in jeder Raumrichtung um meist 15 bis 20 Prozent.

Dem begegnet der Fertigungsingenieur meist, indem er den Grünling von vornherein größer auslegt. An Modellen untersucht man empirisch, wie Temperaturführung und Sinterzeiten das Schwinden bestimmen, so daß sich die erforderliche Dimensionierung berechnen läßt. Doch mitunter schrumpft der Rohling nicht exakt gleichmäßig, und das Produkt muß nachgeschliffen werden. Das ist allerdings häufig zu kostspielig, beispielsweise bei der Fertigung maßgetreuer Replikate von Urformen der Mikrosystemtechnik oder bei komplexen Einzelstücken wie etwa Zahnkronen.

Eine Lösung bietet das sogenannte Reaktionssintern: Enthält der Grünling Komponenten, die sich unter Volumenzunahme in andere Stoffe umwandeln, läßt sich das Schwinden ausgleichen. Diese Precursoren reagieren mit der umgebenden Sinteratmosphäre, die entstehenden Produkte sind Teil der Keramik.

Auf diese Weise fertigt man Siliciumnitrid aus Silicium in einer Stickstoffatmosphäre. Wir haben nun ein solches Verfahren für Oxidkeramiken entwickelt. Die Reaktionsatmosphäre ist im einfachsten Fall Luft sorgfältig definierter Zusammensetzung. Eine Verbindung aus zwei Metallen wirkt als aktive Komponente. Als besonders günstig hat sich dafür Zirkoniumdisilicid (ZrSi2) erwiesen, denn die relative Volumenzunahme bei der Oxidation ist deutlich größer als bei reinen Metallen. Zudem reagiert es selbst als sehr feines Pulver kaum bei Raumtemperatur mit dem Luftsauer-stoff, so daß es problemlos zu hand-haben ist.

Die chemischen Reaktionen bei hohen Temperaturen sind uns gut bekannt: Zunächst entstehen Zirkoniumdioxid sowie Siliciumdioxid (ZrSi2 + 3 O2 ' ZrO2 + 2 SiO2), daraus wiederum das gewünschte Zirkoniumsilikat, auch Zirkon genannt (ZrO2 + SiO2 ' ZrSiO4). Besteht der Zusatz aus reinem Zirkoniumsilicid, bildet sich zudem SiO2 in der Form von Cristobalit; mischt man Zirkoniumsilicid und Zirkoniumoxid zu gleichen Teilen, entsteht das reine Silikat "Zirkon" (ZrSi2 + ZrO2 + 3O2 ' 2 ZrSiO4).

Zur Herstellung exakt schrumpfungsfrei sinternder Keramiken müssen Art und Menge reaktiver Verbindungen, Porosität von Grünling und Keramik berücksichtigt werden. Theoretisch kann man Rohlinge aus reinem ZrSi2 unter Beibehaltung ihrer ursprünglichen Dimensionen in eine dichte ZrSiO4/SiO2-Mischkeramik umwandeln, wenn sie eine Anfangsporosität von etwa 55 Volumenprozent aufweisen. Bei höheren Gründichten mischen wir zusätzlich ZrO2 bei – der höhere Zirkoniumoxid-Anteil verbessert die mechanischen Eigenschaften der Keramik.

Auch die Wahl des Binders beeinflußt das Sinterergebnis. Ein konventioneller verbessert zwar die Preßbarkeit des aus dem Pulver gebildeten Granulats – die Dichte des Rohlings wird gesteigert. Wird der Binder aber ausgebrannt, bleiben Hohlräume zurück. Es lassen sich aber auch feste Polymere auf Silicium-Basis – etwa Polymethylsilsesquioxan (PMSS, [Si(CH3)O1,5]n) – als sogenannte low-loss binder einsetzen. Sie verbrennen nicht vollständig, vielmehr entsteht SiO2, also ein Bestandteil der gesinterten Keramik. Das Schrumpfen wird so im Vergleich zur Verwendung eines konventionellen Binders von vornherein minimiert.

Aus den drei Ausgangsstoffen – der intermetallischen Komponente ZrSi2, PMSS und der keramischen Komponente ZrO2 – lassen sich nun Mischungen definieren, die eine schrumpffrei sinternde Keramik ergeben. Je höher die Gründichte und je geringer der Anteil an Binder ist, desto weniger ZrSi2 muß im Granulat enthalten sein.

Wie erhält man nun das Ausgangsmaterial? Dazu werden die pulverförmigen Substanzen ZrO2 und ZrSi2 intensiv miteinander vermahlen und in einem Lösemittel suspendiert. Nachdem das in Ethanol gelöste PMSS dazu kam, entfernt man das Lösemittel durch Sprühtrocknen, wie es beispielsweise auch in der Lebensmitteltechnik zur Herstellung von Milchpulver oder Pulverkaffee üblich ist. Übrig bleibt das Granulat aus den anorganischen Pulverpartikeln aus ZrSi2 und ZrO2, die im Idealfall gleichmäßig mit einer Schicht PMSS überzogen sind.





Reaktionssintern in der Praxis




Dieses Material wird bei bis zu 120 Grad Celsius mit einem Stempel verdichtet. Das Prägewerkzeug ermöglicht auch, strukturierte Keramiken zu fertigen. Die Grünlinge sind recht fest und aufgrund des ZrSi2-Anteils grau-schwarz gefärbt. Falls erforderlich, kann man sie vor dem Sintern noch schleifen, bohren oder fräsen.

Das Reaktionssintern erfolgt in einem Hochtemperaturofen bei einer definierten Luftzusammensetzung und gemäß eines bestimmten Temperaturprofils (siehe Graphik). Dabei wird das PMSS bis etwa 600 Grad Celsius verbrannt beziehungsweise zu SiO2 umgesetzt; dementsprechend bleiben die Dimensionen einer Probe zunächst weitgehend erhalten, nur die Masse nimmt geringfügig ab. Doch ab etwa 450 Grad Celsius beginnt auch die Oxidation des ZrSi2, und jenseits von 600 Grad Celsius wachsen Masse und Volumen der Probe sprunghaft.

Ab etwa 1100 Grad Celsius bildet sich ZrSiO4, und der eigentliche Sinterprozeß setzt ein. Der Körper beginnt nun zu schrumpfen, während die Masse noch wächst, Sintern und Oxidation des ZrSi2 überlagern sich also in diesem Temperaturbereich. Bei etwa 1300 Grad Celsius ist die Oxidation abgeschlossen, die Masse des Körpers ändert sich nicht mehr. ZrO2 und SiO2 haben sich bereits großteils zu ZrSiO4 umgesetzt. Bei weiterer Temperaturerhöhung auf 1600 Grad Celsius erfolgt diese Umsetzung nahezu vollständig, und der Körper wird zu einer dichten, weißen Keramik mit den ursprünglichen Dimensionen gesintert. Das Schrumpfen wurde also vollständig kompensiert.

Das Material erreicht bis 95 Prozent der theoretischen Dichte und ist vergleichbar fest und zäh wie schrumpfende ZrSiO4-Keramiken. Es eignet sich für Anwendungen, die sehr hohe Anforderungen an die Formtreue der Bauteile stellen und eine mechanische Bearbeitung nach dem Sintern weitgehend ausschließen. Allerdings ist das Verfahren derzeit noch nicht im technischen Maßstab wirtschaftlich durchführbar. Interessant ist auch die eingangs erwähnte Möglichkeit, direkt im Dentallabor paßgenaue vollkeramische Kronen und Inlays herzustellen. Die mechanischen Eigenschaften der schrumpfungsfreien ZrSiO4-Keramiken sind denen üblicher Dentalkeramiken vergleichbar, die weiße Farbe der Keramik sollte eine Verblendung mit Porzellan oder Kunststoff erleichtern.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1999, Seite 95
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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