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Über den Versuch, Forschung nach Wunschvorstellungen auszurichten



Trotz aller bisherigen Forschungsförderungs-Programme der Europäischen Union hat Europa in den letzten beiden Jahrzehnten aufgrund ungenügender Innovation eine große Anzahl industrieller Arbeitsplätze verloren. Gleichzeitig sind in den USA und Japan zusätzliche Arbeitsplätze entstanden. Das fünfte EU-Rahmenprogramm zur Förderung von Forschung und technologischer Entwicklung behauptet zum wiederholten Mal die Wichtigkeit von Forschung für die Zukunft und will nun besonders durch technologische, organisatorische und soziale Innovationen die Konkurrenzfähigkeit Europas in den wesentlichen Industriezweigen verbessern. Es sei so konzipiert, wird gesagt, daß sich die Forschungsanstrengungen deutlicher als bisher in konkreten und sichtbaren Ergebnissen niederschlagen werden – durch die Konzentration auf eine begrenzte Anzahl von Themen will man größtmögliche Wirkung erzielen.

Man glaubt, die angestrebten besseren Ergebnisse dadurch erreichen zu können, daß man die Forschungsthemen generell und allesamt politischen Zielen unterordnet. Die definierten Programme geben in ihren Titeln denn auch primär politische Wunschvorstellungen wieder wie "Qualität des Lebens", "Wettbewerb und Wachstum" oder "Erhaltung des Ökosystems" – die Forschungsthemen des Programms sind nicht sonderlich konkret und könnten auch in fast jedem Programm irgendeiner Partei zu finden sein. Das EU-Rahmenprogramm erinnert zudem in fataler Weise an die Fünfjahresprogramme unserer weiland sozialistischen östlichen Nachbarstaaten. Auf jeden Fall ist es erklärtes Ziel des fünften Rahmenprogramms, durch eine Abkehr von der bisherigen Zielsetzung – nämlich technische Leistungen hervorbringen zu wollen – und einer Neuorientierung der europäischen Forschungsförderung auf gesellschaftliche, soziale und wirtschaftliche Bedürfnisse, eine "wesentliche Effizienzsteigerung" zu erreichen.

Der Hauptblock des fünften Rahmenprogramms besteht aus vier thematischen Programmen, die etwa 80 Prozent des Finanzvolumens ausmachen und sehr allgemein formuliert sind. Somit entziehen sie sich auch weitgehend einer konkreten Kritik. Drei weitere, sogenannte horizontale Aktivitäten wie die Förderung des Mittelstandes, internationale Kooperationen oder Förderung der Ausbildung und Mobilität von Forschern enthalten meines Erachtens zwar gute und bewährte Ansätze für kreative Forschung und Entwicklung, sind aber finanziell zu gering ausgestattet.

Am Beispiel des vertikalen Hauptprogramms "Förderung eines wettbewerbsorientierten und nachhaltigen Wachstums" mit einem Finanzvolumen von mehr als 3 Milliarden ECU (das ist mehr als das Gesamtbudget aller 80 Max-Planck-Institute in Deutschland über den gleichen Zeitraum – daran messe man den Effekt!) möchte ich versuchen, die mangelnde Effizienz des neuen Ansatzes zu verdeutlichen: Unter der Leitaktion "Innovative Produkte, Verfahren und Organisationsverfahren" findet man als Forschungsprioritäten Aussagen wie "fortgeschrittene Produktions- und Konstruktionstechniken, Maschinen und Ausrüstungen mit höherer Präzision und Zuverlässigkeit sowie Abbau der Schranken zwischen Konstrukteuren und Anwendern". Schöne Ziele sind das – aber leider sehr unspezifisch. Je tiefer man in die Formulierungen des Programms einsteigt, um so mehr verschwimmen die Begriffe Forschung und Innovation vor einem Hintergrund aus unzähligen Worthülsen. Mit den Detailprogrammen will man offenbar versuchen, die europäische Forschung präzise auf unscharf definierte Ziele auszurichten.

Die Fragestellungen der Hauptprogramme sind inter- und multidisziplinär. So positiv dieser Ansatz auch anmutet, so schwierig ist seine Umsetzung und so gering sind seine Erfolgschancen. Multidisziplinarität hat in Europa keine Tradition. Der von der Europäischen Union formulierte breite und unspezifische Ansatz für die Lösung komplexer Probleme erforderte darum eigentlich umfangreiche Vorarbeiten und den Rückgriff auf vieljährige Erfahrungen bei den beteiligten Wissenschaftlern. Die sind, soweit ich das erkennen kann, nicht vorhanden. Es wäre sicher angebracht und auch wünschenswert, anhand einzelner, überschaubarer interdisziplinärer Probleme die neue Fördermethodik zu testen. Sie gleich in der gesamten Breite der Forschung anwenden zu wollen, erscheint mit übereilt und unausgegoren. Mit einem solchermaßen schwammigen Forschungs-Rahmenprogramm kann es Europa meines Erachtens nicht schaffen, seine Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen.

Die bisherigen EU-Programme zur Förderung von Forschung und technologischer Entwicklung hatten das Ziel, die europäische Wirtschaft im Vorfeld der Konkurrenz ihrer Produkte auf dem Markt zu fördern. Von der Industrie wurden sie generell gutgeheißen, im Bereich der kleineren und mittleren Unternehmen führten sie wohl auch zu einer wettbewerbsverbessernden Kooperationsstruktur. Die Erfolge der bisherigen Programme sind aber dennoch wohl eher bescheiden, denn ganz offensichtlich wurden zu viele Themen gefördert und bearbeitet. Tatsache ist, daß Europa im Bereich der technologischen Innovation zunehmend gegenüber den USA und Japan zurückfällt. Selbst im Bereich der elektronischen Industrie, einem Wettbewerbsfeld, in dem sie traditionell stark ist, verliert die europäische Industrie kontinuierlich Marktanteile. So ist in den letzten 15 Jahren der Umsatz der Elektronik- und Kommunikationsindustrie von 12 Prozent auf 9 Prozent Weltmarktanteil zurückgegangen – zurückzuführen übrigens eindeutig auf zu geringe Investitionen. Während Europa hier nur 20 Milliarden US-Dollar investierte, hat der Ferne Osten ohne Japan in diesem Zeitraum mit Investitionen in Höhe von 30 Milliarden US-Dollar einen Marktanteil von 12 Prozent (von praktisch Null ausgehend) erreichen können. Da der Bereich der Kommunikationsindustrie heute bereits – bezogen auf den Umsatz – der dominierende Industriezweig der Welt ist, wird Europa hier mithalten müssen, wenn es nicht zur industriellen Bedeutungslosigkeit schrumpfen will.

Gute europäische Förderprogramme machen also wirklich Sinn. Etwa große konzentrierte Programme wie MEDEA – das Akronym steht für Micro-Electronics Development for European Applications – können helfen, die Industriestruktur zu verbessern. Dieses Programm hat die Entwicklung der Mikroelektronik in Europa zum Ziel, und Europa hat, so meine ich, immer noch die Fähigkeit, auch auf technologischen Gebieten weltweit führend zu sein. Beispiele hierfür sind der 64-Megabit- und 256-Megabit-DRAM- Speicher von Siemens, der die im weltweiten Vergleich fortschrittlichste Technologie aufweist.

Das fünfte Rahmenprogramm der EU ist gut gemeint, aber ungeeignet im Ansatz. Seine Protagonisten wollen Forschung in solcher Weise steuern und lenken, daß die Bedürfnisse der Politik erfüllt werden. Dabei wird übersehen, daß die internationale Entwicklung zur Globalisierung durch die Bedürfnisse des Marktes und von technischen Innovationen angetrieben ist und somit Fakten vorgibt, die von der Politik nicht einfach ignoriert werden können.

Die Erfolgswege der Forschung sind Kreativität, das Suchen nach neuen Lösungswegen und das Erzeugen neuen Wissens. Diese Wege lassen sich aber nicht vorgeben und reglementieren. So kann zum Beispiel ein Forschungsprogramm zur Verbesserung der Kerzenbeleuchtung weder die Erfindung der Glühbirne noch der Leuchtdiode hervorzwingen. Ein top down approach in der Forschungsförderung eignet sich nicht zur Stärkung der Innovationskraft.

Innovationen entstehen vorwiegend nach Bottom-up-Prinzipien; dabei werden die wissenschaftlichen und technologischen Möglichkeiten ausgelotet. Die Forschungs- und Innovationspolitik Europas sollte sich deshalb meines Erachtens darauf konzentrieren, optimale Rahmenbedingungen für Kreativität und Produktinnovation zu schaffen – wobei darauf zu achten wäre, Forschungsergebnisse nicht ausschließlich anhand des Kriteriums "welches Produkt wurde hervorgebracht" zu messen. Natürlich ist es angebracht und wohl auch in verstärktem Maße notwendig, nach einer besseren Umsetzung von Forschungsergebnissen in Produkte zu suchen – schließlich soll Europa als Industriestandort erhalten bleiben. Mir scheint allerdings, wir wären gut beraten, den Weg dahin bei unseren erfolgreichen Konkurrenten wie etwa den USA nachzuahmen.

Kurzum: Das fünfte Rahmenprogramm ist nun verabschiedet und in Kraft gesetzt. Wir sollten darauf achten, daß zu seiner Erfolgskontrolle die gleichen Maßstäbe angesetzt werden, wie sie für jedes einzelne kleine Projekt gelten: Die Vorgabe von klar definierten und meßbaren milestones, also von Zwischenergebnissen, und deren Einhaltung beziehungsweise Erreichung. Und: Wenn nach vier Jahren eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit Europas nicht feststellbar wäre, hätte uns das fünfte europäische Rahmenprogramm für Forschung und technologische Entwicklung wertvolle Zeit geraubt.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1999, Seite 965
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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