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Studienfachwahl: Unlust an der Technik?

Hauptursache für den Rückgang der Studienanfängerzahlen in natur- und ingenieurwissenschaftlichen Fächern ist ein Phänomen, das auf den gesellschaftlichen Wandel zurückgeht: mangelnde "Techniksozialisation".


Ganze Branchen suchen nach Ingenieuren und Naturwissenschaftlern, der Arbeitsmarkt scheint leergefegt. Der Grund: Immer weniger Studierende wählen natur- und ingenieurwissenschaftliche Fächer. In Baden-Württemberg zum Beispiel nahm die Zahl der Studienanfänger in diesen Fachbereichen von 1994 bis 1998 im Durchschnitt um etwa 20 Prozent ab. Einige Fächer sind ganz besonders betroffen: So sank die Zahl der Studienanfänger in den Fächern Physik/Astronomie und Bauwesen um jeweils 32 Prozent, in Chemie um 30, in Mathematik um 24 und in Elektrotechnik um 21 Prozent. Zudem weisen diese Fächer hohe Zahlen von Studienabbrechern und -wechslern auf. Dies ergab eine Studie der Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg.

Für diese Entwicklung ist ein ganzes Bündel von Ursachen verantwortlich. Die Hälfte des allgemeinen Studentenschwundes ist zunächst eine Spätfolge des seit Mitte der 60er Jahre ablaufenden Geburtenrückgangs. Warum aber sind die meisten natur- und ingenieurwissenschaftlichen Fächer besonders stark vom Rückgang der Studentenzahlen betroffen?

Interviews, die wir mit Oberstufenschülern und mit Studienanfängern der Fächer Bauwesen, Chemie, Betriebswirtschaftslehre und Germanistik durchführten, ergaben: Die Entscheidung zu Gunsten eines bestimmten Studienfachs beruht insbesondere auf Begeisterung und Interesse für die Materie. Hingegen werden die vermeintlichen Arbeitsmarkt- und Karrierechancen kaum berücksichtigt – im Gegensatz zu der typischen Situation vor einer Generation. Die jungen Leute haben wahrgenommen, dass auf langfristige Arbeitsmarktprognosen und Karriereversprechen in der heutigen schnelllebigen Zeit kein Verlass mehr ist und keiner weiß, wie die Situation nach dem Examen sein wird.

Nur allzu gut ist die einschneidende Entlassungswelle bei den Ingenieuren zu Beginn der 90er Jahre noch in Erinnerung – sie hat dem Image dieses Berufsfeldes nachhaltig geschadet. Doch diejenigen, die sich für einen technischen oder ingenieurwissenschaftlichen Studiengang entschieden, haben dies trotz Wahrnehmung besonders schlechter Arbeitsmarktchancen getan! Dies lässt vermuten, dass auch umgekehrte Kampagnen der Industrie, wie die gegenwärtige, fast panisch anmutende Suche nach Ingenieuren und IT-Spezialisten, bei den jungen Menschen nur wenig fruchtet.

Was sollen die Studierwilligen aber tun, wenn der Arbeitsmarkt keine rationale Berufswahl mehr zulässt? In den 80er Jahren hatte die Jugend auf schlechte Arbeitsmarktchancen noch mit "no future" und depressivem Kopf-Hängen-Lassen reagiert. Doch diese Zeiten sind passé: In der Gesellschaft hat ein "postmaterialistischer Wertewandel" die Idee der persönlichen Selbstverwirklichung ganz nach oben gespült. Zugleich scheinen sich die jungen Menschen mit der Verkürzung überschaubarer Zeiträume und der wachsenden Unkalkulierbarkeit der Zukunft arrangiert zu haben. Was heute zählt ist "Spaß": Studienfach und Beruf sollen individuelle Neigungen und Interessen befriedigen, an persönliche Erfahrungen und Kompetenzen anschließen, abwechslungsreich sein und langfristig motivieren.

Einkommens- und Karriereaussichten spielen nur eine untergeordnete Rolle. Die Logik ist, auf der Grundlage von Spaß und Interesse ein gerüttelt Maß an Kompetenzen zu erwerben und sich damit optimistisch dem Arbeitsmarkt zu stellen, wie immer dieser auch aussehen mag. Dabei setzen die jungen Leute auf eine möglichst breite, Disziplinen überschreitende Ausbildung. Sie haben klar erkannt, dass mehr als nur fachspezifisches Wissen gebraucht wird. Soziologisches Organisations- und psychologisches Führungswissen sind ebenso gefragt wie EDV- und betriebswirtschaftliche Kenntnisse.

Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass all jene Studiengänge, die auf Fachspezialistentum setzen, für die jungen Menschen künftig weniger attraktiv sein werden und mit nachlassender Nachfrage rechnen müssen. Integrierte Studiengänge, wie etwa die technisch orientierte Betriebswirtschaftslehre oder Wirtschaftsingenieurwissenschaften liegen hingegen voll im Trend und verzeichnen einen wahren Nachfrageboom. Allerdings sollte sich die Industrie erklären, ob und in welchem Ausmaß Stellen für diese Generalisten zur Verfügung stehen werden.

Die oft zitierte Technikfeindlichkeit spielt keine Rolle, im Gegenteil: Gerade für die Jugend sind Autos und Mobiltelefone zu Prestigeobjekten geworden, der PC hat sich zu einer kulturellen Selbstverständlichkeit gemausert. Für ein Technikstudium braucht es indes mehr als nur Begeisterung für technische Produkte und ihre Anwendung: Der schöpferische Zugang zu den Gestaltungspotenzialen der unbelebten Natur kann nur durch Anleitung und Einübung gewonnen werden. Für diese "Techniksozialisation" spielt das Elternhaus eine entscheidende Rolle. Wie aus den Interviews hervorgeht, sind es vor allem die Väter, die ihre Söhne in die Welt der Technik einführen. Nur durch solch praktisches Lernen, spielerischen Kompetenzgewinn und subjektive Erfolgserlebnisse kann wirkliche Technikbegeisterung entstehen.

Doch die Zeiten haben sich zum Nachteil einer frühen Techniksozialisation gewandelt. Zum einen fordert die "vaterlose Gesellschaft" ihren Tribut: Bundesweit wird mehr als jede dritte Ehe geschieden, in den Metropolen beinahe jede zweite. Die noch verbleibenden männlichen Bezugspersonen werden oftmals durch Karriereorientierung und Verdichtung der Arbeitsanforderungen von den Familien fern gehalten. So wachsen heute viele junge Menschen ohne Väter auf, die aber, wie das Datenmaterial zeigt, für die Techniksozialisation eine entscheidende Rolle spielen.

Auch die Technik selbst hat sich stark gewandelt: Die Attraktivität moderner Geräte beruht weniger auf sinnlich wahrnehmbarer Kühnheit ihrer Konstruktion, sondern auf Spaß und Nutzen versprechenden Anwendungen. Ein Paradebeispiel für die Abstraktheit heutiger Technik ist der PC. Da gibt es nichts mehr zu basteln, zu tunen oder zu löten. Allenfalls einige vorfabrizierte Module können eingebaut oder ausgetauscht werden. Die Faszination des Computers geht fast ausschließlich von den Möglichkeiten aus, welche die Software bietet.

Da braucht es auch nicht zu verwundern, dass das rückläufige Interesse an technischen und ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen mit einer schier überbordenden Nachfrage nach Informatik einhergeht. An manchen Universitäten wurde deshalb der Numerus clausus für dieses Fach eingeführt. Wenn nun die IT-Branche über Nachwuchsmangel klagt, kann dies nicht dem Studienwahlverhalten junger Leute zugerechnet werden. Hier manifestieren sich vielmehr die Folgen des jahrelangen politischen Sparkurses im Bildungsbereich und der nicht hinreichende Ausbau eines sowohl von den Studierenden als auch von der Industrie nachgefragten Studienganges.

Die Defizite in der Techniksozialisation setzen sich in der Schule und der Universität fort. Ist Mathematik bei den Schülern noch umstritten, so sind Chemie und Physik mit Abstand am unbeliebtesten – sie gelten als erfahrungsfremd, theoretisch und als besonders schwer. Offensichtlich liegt hier einiges mit der Didaktik im Argen. Damit das Interesse der Schüler geweckt wird, müssen sie selbst experimentieren und "spielen" können. Zur eigenen praktischen Erfahrung im Umgang mit naturwissenschaftlichen Inhalten gibt es keine Alternative. Auch das Leistungskurssystem, das den Schülern erlaubt, etwa "schwere" Fächer zu Gunsten von "leichten" abzuwählen, um so eine bessere Abiturnote zu erzielen, trägt nicht gerade zu einer Berufsfindung in den Ingenieur- und Naturwissenschaften bei.

Diejenigen jungen Leute, die sich schließlich doch zum Studium in einem dieser Fächer entschlossen haben, stellen den Hochschulen kein besonders gutes Zeugnis aus. Die von uns befragten Studienanfänger übten unerwartet deutliche Kritik an der Universität im Allgemeinen und den gewählten Studienfächern im Besonderen: In allen vier untersuchten Studiengängen wurde die zum Teil schlechte Qualität von Lehrveranstaltungen, Theorielastigkeit, organisatorisches Chaos und eine unzureichende Betreuung durch die Dozenten beklagt. Bei den beiden natur- und ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen stand jedoch die Kritik an überzogenen Leistungsanforderungen und teilweise weltfremden Inhalten im Vordergrund. Vor allem die Studienanfänger im Fach Chemie fühlen sich durch die Leistungsanforderungen und Zeit raubenden Praktika regelrecht "abgeschreckt". So wundert es wenig, wenn 54 Prozent von ihnen bereits in den ersten beiden Semestern erwägen, das Fach zu wechseln oder das Studium abzubrechen. Will man mehr erfolgreiche Hochschulabgänger, dann müssten aus der Kritik der Studierenden wenigstens vier Konsequenzen gezogen werden:

- Die Lehre (einschließlich der Betreuung der Studierenden durch die Dozenten) ist aufzuwerten und zu verbessern;

- die Leistungsanforderungen sind an ein realistisches Maß anzupassen;

- organisatorische Klarheit und Übersichtlichkeit sind zu schaffen, und das Informationsangebot für die Studierenden ist zu verbessern;

- die Studieninhalte sind zu entrümpeln, der Praxisbezug ist zu verbessern und um fachübergreifende Qualifikationen zu ergänzen.

Im freien Wettbewerb der angebotenen Studienfächer entscheidet die Attraktivität der einzelnen Fächer über Fachwechsel- und Abbruchquoten, über den Zu- und Abstrom von Studierenden und darüber, wie viele Studierende mit Examen in den Arbeitsmarkt entlassen werden. Auch hierbei spielt der "Spaßfaktor" eine wichtige Rolle: In Studiengängen, die als überhart oder wenig interessant gelten, ist die Abwanderung der Studierenden eine logische Folge.

Insgesamt wird deutlich, dass die rückläufige Attraktivität technischer und ingenieurwissenschaftlicher Studienfächer und Berufsbilder ein facettenreiches Phänomen ist, für das es keine einfachen Patentlösungen geben kann. Sowohl der abgelaufene Wertewandel als auch der massive Strukturwandel und die zunehmende Un-gewissheit über die Zukunft sind unumkehrbare Entwicklungen, die unsere Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten durchlaufen hat. Hinzu kommt, dass die Eigenlogik des Bildungs- und Ausbildungssystems und seiner Akteure einer kontinuierlichen "naturwissenschaftlich-technischen" Sozialisation von Kindern und Jugendlichen eher entgegenwirkt anstatt sie zu fördern.

Technisches Interesse und Technikbegeisterung jedoch sind nur zwei Instrumente im großen Konzert interessanter Phänomene, Optionen und Genüsse. Werden sie nicht frühzeitig erlernt und kontinuierlich gepflegt, dann verlieren sie sich allzuleicht und treten hinter andere Interessen und Motive zurück. Es wäre viel gewonnen, wenn all jene, die sich einen Zuwachs an Technikern und Ingenieuren erhoffen, begriffen, dass auch dieses Feld mittlerweile über Konkurrenzmechanismen geregelt wird.

Literaturhinweis

Die Attraktivität von technischen und ingenieurwissenschaftlichen Fächern bei der Studien- und Berufswahl junger Frauen und Männer. Von Michael M. Zwick und Ortwin Renn, Stuttgart 2000.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 2000, Seite 96
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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