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Seltene Beobachtung: Der verschwindende See

Tausende Schmelzwasserseen bedecken Grönlands Eiskappe im Sommer - und verschwinden in den Spalten der Gletscher. Doch dieser Prozess läuft anders ab als gedacht.
See, der in einer Spalte verschwindet und dabei Spray aufwirft.

Grönlands Eis schmilzt immer häufiger. Im Sommer bildet das Schmelzwasser ein malerisches, tiefblaues Mosaik aus Tümpeln auf der Oberfläche und verschwindet dann in den Tiefen des Eispanzers. Wie allerdings dieser Absturz durch hunderte Meter Eis hindurch im Detail abläuft, ist noch rätselhaft. Dabei entstehen bei dem Vorgang nicht nur die wohl höchsten Wasserfälle der Welt – die Schmelzwasserseen auf Grönlands Gletschern steuern womöglich das Verhalten der tausende Quadratkilometer großen Eisströme.

Zu diesem Schluss kommt jedenfalls nun eine Arbeitsgruppe um Thomas R. Chudley von der University of Cambridge, die mit Glück und Geschick einen solchen See beim Verschwinden beobachteten. Wie sie jetzt in »PNAS« berichtet, machte sie dabei eine bemerkenswerte Entdeckung: Es ist keineswegs das Kriechen und Bersten des Gletschers, das dem Wasser einen Pfad in den Untergrund öffnet – vielmehr bahnt sich das Wasser selbst den Weg zur Sohle des Gletschers, sobald es eine Gelegenheit bekommt.

© Cambridge University
Der verschwindende See

Zeitrafferaufnahme des leerlaufenden Schmelzwassersees auf der Oberfläche des Store-Gletschers. Bis zu zehn Kubikmeter Schmelzwasser pro Sekunde flossen in den See – bis dieser mit seinem Rand auf einen alten Riss traf. Anschließend lief der See nicht nur in die Spalte, sondern stemmte die alte Schwächezone immer weiter auf. Das unter dem Eis verschwindende Wasser hob die Oberfläche des Gletschers an, so dass die Arbeitsgruppe das Abflussmuster unter dem Eis verfolgen konnte.

Veröffentlicht am: 02.12.2019

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Mit Hilfe von speziellen arktistauglichen Drohnen beobachtete das Team, wie in einer Senke an der Oberfläche des Store-Gletschers in Westgrönland ein über einen Quadratkilometer großer See erst durch stetigen Wasserzufluss anwuchs – um dann auf eine Spalte zu treffen und binnen kurzer Zeit zwei Drittel seines Volumens zu verlieren. Dabei entstanden zwei neue Schlucklöcher, die man als »Gletschermühlen« bezeichnet und in denen das Wasser von der Oberfläche des Eisstroms bis zum Gestein an seinem Boden stürzte. Innerhalb von nur fünf Stunden liefen 4,8 Millionen Kubikmeter Wasser zur Sohle des Gletschers hinab – genug, um 32 000 000 Badewannen zu füllen.

Das Wasser des Sees lief aber nicht einfach nur über die Kante in die Tiefe: Es stemmte den Eispanzer durch seine Masse buchstäblich auf. In den wenigen Stunden, die der See zum Leerlaufen brauchte, verlängerte sich der tiefe Riss um 500 Meter in den See hinein. Dabei nutzte das Wasser eine bereits bekannte Schwächezone im Eis. Schon 2017 war in der gleichen Senke ein See entstanden, der durch seine Masse eine Bruchzone im Eis aufstemmte. Ein Jahr später war die Bruchzone nicht nur scheinbar wieder geschlossen, sondern auch mit dem gesamten Gletscher einige hundert Meter Richtung Südwesten weitergewandert. Das verhinderte allerdings nicht, dass das Wasser die alte Schwächezone weiter aufriss, sobald es die Spitze des verheilten Risses erreichte.

Die Beobachtung hat aus Sicht der Arbeitsgruppe möglicherweise weit reichende Konsequenzen: Gletscherseen auf schnell fließenden Eisströmen wie dem Store-Gletscher laufen oft gruppenweise gemeinsam leer. Diese »Kaskaden« von in Gletscherspalten verschwindenden Seen bestimmen mutmaßlich das Verhalten solcher Gletscher über tausende Quadratkilometer – Millionen Kubikmeter Wasser verringern die Reibung an der Gletschersohle und lassen den Eisstrom einen deutlichen Satz Richtung Meer machen.

Was solche Kaskaden auslöst, ist bisher noch unklar. Nun scheint es, als könnten die Schmelzwasserseen selbst die Kontrolle übernehmen und wie Reiter auf dem Rücken gigantischer Tiere ihren Gletschern die Sporen geben. Die Eisschmelze an der Oberfläche der Eiskappe spielt mengenmäßig nur eine geringe Rolle. Aber sie trägt entscheidend dazu bei, dass die Gletscher schneller zum Meer fließen, und an ihrer Front immer wieder Eisberge abbrechen – der wichtigste Faktor für den Massenverlust des grönländischen Eisschildes.

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