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Geschwister: Mamis und Papis kleiner Liebling

Auch wenn Eltern alle ihre Kinder gleich lieben wollen, ziehen sie häufig eines vor. Das kann Folgen haben – selbst für das Lieblingskind.
Eine Familie mit zwei Kindern sitzt im Wohnzimmer. Mutter und Vater kümmern sich um das eine Kind, während das andere Kind mit einer Gitarre auf dem Schoß traurig etwas abseits sitzt.
Laut Studien haben die meisten Mütter und Väter ein Lieblingskind. Dennoch sollten Eltern darauf achten, dass sich niemand vernachlässigt fühlt. (Symbolbild)

Ein Vater hat zwölf Söhne. Einen mag er besonders gern. So gern, dass er ihn klar bevorzugt und ausnehmend gut einkleidet. An den Brüdern geht das nicht spurlos vorbei: Kurzerhand verkaufen sie das Lieblingskind des Vaters in die Sklaverei.

So erzählt es zumindest das Buch Genesis, in dem die Geschichte von Josef, dem Sohn Jakobs, niedergeschrieben ist. Auch abseits der Bibel ist elterliche Liebe bisweilen ungleich verteilt: Obwohl die meisten Menschen sich Mühe geben, alle ihre Kinder gleichermaßen zu lieben, sind doch einige einem ihrer Sprösslinge mehr zugeneigt. Wie häufig das der Fall ist, zeigt eine Studie, für die Forscherinnen und Forscher der University of California in Davis 384 Geschwisterpaare und deren Eltern beobachteten. Ihr Fazit: 65 Prozent der Mütter und 70 Prozent der Väter hatten ein Lieblingskind.

Ähnliche Zahlen liefert eine Untersuchung aus dem Jahr 2009 von einem Team um Jill Suitor von der Purdue University. Die Gruppe nutzte den Datensatz der Within-Family Differences Study, einer großen Längsschnittstudie in den USA, die die Beziehungen zwischen Eltern, Kindern und Enkelkindern analysiert. Befragungen von rund 300 Familien ergaben, dass knapp die Hälfte der erwachsenen Kinder den Eindruck hatten, ihre Mutter hätte sie und ihre Geschwister in der Kindheit manchmal oder häufig unterschiedlich behandelt. Zum Zeitpunkt der Befragung waren sogar rund 86 Prozent der Versuchspersonen davon überzeugt, dass ihre Mutter eines der Kinder bevorzugte. Psychologen sprechen in diesem Zusammenhang von »favoritism«.

Erstgeborenes oder Nesthäkchen: Wer bevorzugt wird, ist unterschiedlich

Welche Umstände dafür sorgen, dass ein Kind zum Liebling avanciert, lässt sich nur schwer sagen. Das hängt auch damit zusammen, dass Bevorzugung und Benachteiligung eng mit subjektiven Empfindungen verknüpft sind: Kommt ein Geschwisterchen zur Welt, wird das erste Kind erst einmal unsanft vom Thron gestoßen. Das kratzt automatisch am Selbstbewusstsein und kann so dafür sorgen, dass der oder die Erstgeborene sich anschließend weniger geliebt fühlt.

Das Team von der University of California beobachtete 2005, dass das Lieblingskind der Väter meistens die jüngste Tochter ist. Mütter bevorzugen hingegen vielfach den ältesten Sohn. Alexander Jensen von der Brigham Young University und Susan McHale von der Pennsylvania State University in Henderson kamen 2017 wiederum zu dem Schluss, dass die jüngeren Geschwister oft ganz grundsätzlich eine engere Bindung an die Eltern haben. Sowohl Mütter als auch Väter berichteten in der Studie davon, ihrem zweitgeborenen Kind im Schnitt etwas mehr Zuneigung zu zeigen als ihrem erstgeborenen. Das deckte sich mit dem Eindruck der Kinder, die sich häufiger von ihren Eltern bevorzugt fühlten, wenn sie das Nesthäkchen der Familie waren.

Die Daten der Within-Family Differences Study legen nahe, dass Eltern oft dasjenige Kind ein wenig mehr mögen, von dem sie denken, es sei ihnen am ähnlichsten. Entdecken sie demnach eigene Persönlichkeitsmerkmale beim Nachwuchs, fühlen sie sich dem entsprechenden Kind automatisch mehr verbunden als den Sprösslingen, in denen sie nicht so viel von sich selbst wiedererkennen. In manchen Familien lässt sich allerdings genau die gegenteilige Dynamik beobachten, berichtet die Familien-, Paar- und Erziehungsberaterin Martina Stotz, die zum Thema Lieblingskinder promoviert hat. »Es kann auch sein, dass es bei Eltern und Kindern, die sich sehr ähnlich sind, häufiger zu Reibereien kommt.«

In den Augen von Stotz hat es wenig mit strukturellen Einflüssen wie der Geburtsreihenfolge zu tun, wenn ein Kind mehr geschätzt wird als die anderen. Oft seien eher äußere Faktoren von Bedeutung, denen Eltern ausgesetzt sind. Ein niedriges Selbstwertgefühl, Stress und finanzielle Schwierigkeiten etwa seien Aspekte, die dazu führen können, dass Mütter und Väter ein Kind bevorzugen. »Vieles wird über diese Ungleichbehandlung kompensiert«, sagt Stotz. So käme beispielsweise ein anpassungsfähiges Kind seinen überforderten Eltern entgegen, anders als ein Kind, das sich nicht so gut in das Familiensystem einfügt.

Die Jüngsten trifft es besonders hart

Wenn Kinder permanent das Gefühl haben, von ihren Eltern benachteiligt zu werden, kann sich das auf die Psyche auswirken. Jill Suitor und ihre Kollegen fanden Hinweise darauf, dass die Betroffenen als Erwachsene häufiger Anzeichen einer Depression zeigen. Das galt vor allem dann, wenn sie den Eindruck hatten, dasjenige Kind gewesen zu sein, das am häufigsten in Konflikt mit der Mutter geriet und diese am meisten enttäuschte.

»Handelt es sich nur um eine kurze Phase, in der ein Kind bevorzugt wird, kann das durch den anderen Elternteil kompensiert werden. Geschieht die Ungleichbehandlung über einen längeren Zeitraum, hat das jedoch mitunter starke negative Auswirkungen auf den kindlichen Selbstwert«, sagt Martina Stotz. Laut der Studie von Jensen und McHale leiden vor allem jüngere Geschwister, wenn sie sich von ihren Eltern benachteiligt fühlen. Den Forschern zufolge befassen sich die Nesthäkchen häufiger mit der Frage, welche Rolle sie im Geschwistergefüge einnehmen – weil sie öfter mit ihren älteren Brüdern und Schwestern verglichen werden und sich an ihnen orientieren. Sind die Jüngsten selbst das Lieblingskind von Mutter und Vater, stärkt das die Beziehung zu ihren Eltern umgekehrt in erheblichem Maß und verleiht ihrem Selbstbewusstsein einen enormen Schub. Ältere Geschwister profitieren dagegen von einer Position als Lieblingskind deutlich weniger, leiden aber auch nicht so sehr, wenn sie weniger Zuneigung erhalten.

»Sowohl bei Kindern, die benachteiligt werden, als auch bei Lieblingskindern bleiben Bedürfnisse unerfüllt«Martina Stotz, Familien-, Paar- und Erziehungsberaterin

Die Studie zeigt außerdem, dass das Geschlecht beeinflussen kann, wie schwierig es für ein Kind ist, nicht der Liebling der Eltern zu sein. Wird ein Geschwisterkind des anderen Geschlechts von Mutter oder Vater bevorzugt, wirkt sich das nicht so dramatisch aus wie bei einem gleichen Geschlechts.

Auch Lieblingskinder leiden

Wenn Eltern einem Kind mehr Zuneigung entgegenbringen als einem anderen, mindert das nicht nur das Wohlbefinden des weniger geliebten Kindes; es beeinträchtigt zudem die Beziehung der Geschwister untereinander – oft bis ins Erwachsenenalter hinein. Das entdeckten Helgola Ross und Joel Milgram bereits im Jahr 1982. Die Wissenschaftler wollten damals unter anderem herausfinden, warum einige Geschwisterbeziehungen enger sind als andere, und befragten dafür 75 Studienteilnehmer. Ein Aspekt, der das Verhältnis der Geschwister zueinander verschlechterte, war die Geschwisterrivalität, meist befeuert durch anhaltende Bevorzugung eines Kindes. Diese drückte sich sowohl in einer Vorzugsbehandlung aus als auch in offenen Vergleichen.

Konkurrenzdenken innerhalb der Familie kann selbst Lieblingskindern das Leben schwer machen. So zeigen die Daten der Within-Family Differences Study überraschenderweise, dass selbst jene, die vor ihren Geschwistern bevorzugt werden, später im Leben häufiger depressive Symptome entwickeln. Als Ursache dafür machten die Autoren Geschwisterspannungen infolge der Ungleichbehandlung aus. Allerdings könnte dazu auch ein stärkeres Verantwortungsgefühl beitragen, das Lieblingskinder im Gegenzug häufig der Mutter gegenüber verspüren (die Daten von Vätern wurden für die Untersuchung nicht ausgewertet). »Sowohl bei Kindern, die benachteiligt werden, als auch bei Lieblingskindern bleiben Bedürfnisse unerfüllt«, resümiert Stotz.

Nicht gleich behandeln, sondern fair

Wie sieht die Lösung aus? Sollten Eltern alles daransetzen, ihre Kinder möglichst gleich zu behandeln? Studienautor Alexander Jensen ist nicht dieser Meinung. Da jedes Kind anders sei und andere Bedürfnisse habe, sei es in Ordnung, Unterschiede zu machen. Das betont auch Martina Stotz: »Eine Gleichbehandlung ist nicht sinnvoll: Jedes Kind braucht individuelle Behandlung.«

Eltern sollten sich aber Mühe geben, alle Geschwister fair zu behandeln. Fühlt sich eines vernachlässigt, muss es gehört werden. »Es ist wichtig, die Gefühle ernst zu nehmen und gemeinsam nach Strategien zu suchen, damit sich das Kind nicht zurückgesetzt fühlt«, erklärt die Familienberaterin.

»Eine Gleichbehandlung ist nicht sinnvoll: Jedes Kind braucht individuelle Behandlung«Martina Stotz, Familien-, Paar- und Erziehungsberaterin

Eine solche Strategie können zum Beispiel feste Zeiten sein, in denen sich Mütter und Väter exklusiv mit einem Kind beschäftigen, etwas mit ihm unternehmen und ihm zuhören. Bei älteren Heranwachsenden ab dem späten Grundschulalter hilft zudem eine offene Kommunikation: Benötigt ein Geschwisterkind mehr Aufmerksamkeit, etwa weil es krank ist oder sich gerade in einer schwierigen Phase befindet, sollten Eltern dies den Geschwistern gegenüber offen ansprechen.

Bemerken Eltern wiederholt, dass sie eines ihrer Kinder bevorzugen, lohnt es sich, die Umstände genauer zu betrachten. Möglicherweise triggert sie das Verhalten eines Kindes oder erinnert sie an Situationen aus der eigenen Vergangenheit. Ist das Gefühl stark ausgeprägt, kann es hilfreich sein, sich professionelle Hilfe bei einem Therapeuten oder einer Therapeutin zu suchen. Auch Familienberatungsstellen unterstützen, wenn Eltern allein nicht weiterkommen.

Dass Josef von seinem Vater Jakob so offensichtlich bevorzugt wurde, ist sicher nicht fair. Hätte der Vater allen Brüdern die Zuwendung geschenkt, die sie brauchten, hätte die Geschichte vielleicht eine andere Wendung genommen. Dass Eltern ein Lieblingskind haben, lässt sich wohl nicht immer vermeiden. Sie können aber beeinflussen, wie sie damit umgehen.

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  • Quellen

Jensen, A., McHale, S.: Mothers', fathers', and siblings' perceptions of parents' differential treatment of siblings: Links with family relationship qualities. Journal of Adolescence 60, 2017

Shebloski, B. et al.: Reciprocal links among differential parenting, perceived partiality, and self-worth: a three-wave longitudinal study. Journal of Family Psychology 19, 2005

Suitor, J. et al.: Role of Perceived Maternal Favoritism and Disfavoritism in Adult Children’s Psychological Well-Being. The Journal of Gerontology 72, 2015

Suitor, J. et al.: The role of perceived maternal favoritism in sibling relations in midlife. Journal of Marriage and Family 71, 2009

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