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News: Genetisch bedingte Sprachprobleme

Die Kinder mit den größten Schwierigkeiten beim Sprechenlernen haben vermutlich einen genetischen Defekt. Die Auswirkungen der Umwelt sind zumindest in dieser Gruppe weniger stark, meinen Wissenschaftler nach einer umfangreichen Untersuchung mit zweijährigen Zwillingen.
Robert Plomin vom Institute of Psychiatry in London und Philip Dale von der University of Washington leiteten die Studie, für die mehr als 3 000 in England und Wales geborene Zwillingspaare untersucht wurden. Ihre Arbeit galt sowohl dem Spracherwerb insgesamt bei Kindern als auch den fünf Prozent Kleinkindern, die am meisten Schwierigkeiten dabei hatten.

Die Forscher fanden heraus, daß Zwillinge – gleichgültig ob sie eineiig oder zweieiig sind – im allgemeinen bei einem Sprachtest im Alter von zwei Jahren sehr ähnlich abschnitten. Werden die Kinder aber nach ihren Fähigkeiten beim Spracherwerb in Gruppen eingeteilt und nur die fünf Prozent im unteren Bereich betrachtet, sehen die Ergebnisse ganz anders aus. Wurde ein eineiiger Zwilling in diese Kategorie eingestuft, dann betrug die Wahrscheinlichkeit, daß sein Zwillingsbruder bzw. seine -schwester ebenfalls in diese Gruppe gehörte, 81 Prozent. Bei zweieiigen Zwillingen lag die Wahrscheinlichkeit, daß der andere ebenfalls zu den unteren fünf Prozent zählte, nur bei 42 Prozent. "Dies deutet auf einen genetischen Einfluß hin, da eineiige Zwillinge dieselbe genetische Veranlagung haben, während zweieiige genetisch gesehen nur zu 50 Prozent identisch sind", sagte Dale. "Für die meisten Kinder scheinen Umwelt und Ernährung wichtiger zu sein. Bei schneller, durchschnittlicher und sogar gemäßigt langsamer Sprachentwicklung scheint die genetische Veranlagung keine so große Rolle zu spielen wie die Umwelt, obwohl sie in gewisser Weise wichtig sind. Bei Kindern auf den unteren Stufen der Sprachentwicklung ist dies jedoch auffallend. Bei diesen Kindern sind die Gene entscheidend..."

Die Wissenschaftler gehen davon aus, daß ein- und zweieiige Zwillinge von ihren Eltern ähnlich behandelt werden, insbesondere in Bezug auf sprachliche Zuwendung und Vorlesen. Da in der untersuchten Gruppe eineiige Zwillinge meist beide schlecht abschnitten, der Spracherwerb bei zweieiigen jedoch häufig unterschiedlich schnell voranschreitet, ist anzunehmen, daß genetische Ursachen dafür verantwortlich sind. Außerdem machte es keinen Unterschied, ob die zweieiigen Zwillinge gleichen oder unterschiedlichen Geschlechts waren.

Um die Sprachakquisition zu überprüfen, konnten Dale und Plomin die Hilfe der Eltern von 3 039 Zwillingspaaren gewinnen, die einer Studie über Frühentwicklung bei Zwillingen teilgenommen hatten, bei der alle 1994 in England und Wales geborenen 7 756 Zwillingspaare untersucht wurden. Ihre Studie umfaßte 1 044 eineiige Zwillingspaare, 1 006 zweieiige Zwillinge gleichen Geschlechts und 989 Zwillinge unterschiedlichen Geschlechts. Die Eltern erhielten eine Liste von 100 Wörtern und wurden gebeten, alle Wörter anzukreuzen, die ihre Zwillinge benutzen.

Der Wortschatz von zweijährigen Kindern weist eine riesige Bandbreite auf: Manche Kinder können noch keine erkennbaren Wörter sprechen, während andere Kinder bereits alle 100 Wörter auf der Liste verwenden. Bei Betrachtung aller Zwillinge betrug die durchschnittliche Anzahl der verwendeten Worte 48, für die unteren fünf Prozent jedoch nur 4,2 Wörter. Einundsechzig Kinder beherrschten noch keine Wörter.

Nach Dales Ansicht bedeutet eine anfängliche Verzögerung bei der Sprachakquisition nicht notwendigerweise, daß ein Kind später im Leben Sprach- oder Leseprobleme haben wird. "Wir wissen, daß die Hälfte von ihnen keine Probleme haben und ihre gleichaltrigen wieder einholen wird. Die andere Hälfte wird Probleme haben, und wir würden gerne wissen, wie man diejenigen identifiziert, die nicht mehr aufholen werden. Aus dieser Studie wissen wir, daß ein Teil des Grundes genetischer Art ist. In zukünftigen Forschungsprojekten möchten wir nach spezifischen genetischen Markern sowohl für vorübergehende als auch andauernde Verzögerung suchen."

Nach Aussage von Dale begleiten die Forscher die Zwillinge in ihrer Studie weiter, um herauszufinden, welche Kinder aufholen und welche nicht. Bisher haben sie keinen Zusammenhang zwischen verzögerter Sprachakquisition und anderen Fähigkeiten, wie räumlichen und nicht-verbalen Fertigkeiten, entdeckt.

Die Studie, die in der August-Ausgabe 1998 von Nature Neuroscience veröffentlicht wurde, bestätigt auch schon bekannte Geschlechterunterschiede in der Sprachverzögerung: Jungen haben dieses Problem öfter als Mädchen. Eine Analyse der Daten zeigt aber, daß Eltern Jungen und Mädchen nicht unterschiedlich behandeln.

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