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Covid-19: Schlecht vorbereitet in die Pandemie

In Deutschland mangelt es an zentralen Strukturen der öffentlichen Gesundheitsfürsorge, etwa an einer systematischen Datenerhebung sowie an einer einheitlichen Meldesoftware. Angesichts der Covid-Krise hat sich das als Schwachstelle erwiesen.
Für einen Covid-Schnelltest fahren die Kundinnen und Kunden des Medicare-Testzentrums im Auto am Drive-in-Schalter zur Probenahme vor (gestellte Szene)

Deutschland ist viele Monate lang vergleichsweise gut durch die Covid-19-Pandemie gekommen. Weltweit blickten Menschen bewundernd auf das Land, seine relativ niedrigen Fallzahlen und sein augenscheinlich effizientes Krisenmanagement. Dazu trug sicherlich bei, dass die Bereitschaft, den AHA+L-Regeln zu folgen, in der Frühphase der Epidemie vergleichsweise stark ausgeprägt war. Virusmutanten waren noch kein Thema und das Infektionsgeschehen noch nicht so diffus wie heute; all das gepaart mit einer einheitlichen Kommunikation seitens der Politik erleichterte es, die Pandemie zu kontrollieren. Im Frühjahr 2021 hat sich die Situation verändert, und nicht zum Besseren. Bund und Länder sind sich zunehmend uneins über die richtigen Schritte, und die gesellschaftlichen Maßnahmen, um die Pandemie zu bekämpfen, erscheinen in wachsendem Maß widersprüchlich und für die Bevölkerung schwer nachvollziehbar.

Das hat sicher viele Gründe, aber einer von ihnen ist offensichtlich der Mangel an belastbaren Daten. Ein Jahr nach Beginn der Krise werden weiterhin kaum systematisch Daten auf Bevölkerungsebene erhoben, die widerspiegeln, welche Wirkungen die diversen Maßnahmen haben, welche Unterschiede es zwischen den Altersgruppen gibt, wie hoch die Dunkelziffer der Infizierten ist und vieles mehr. Virusproben wurden in Deutschland lange Zeit nur sporadisch sequenziert; erst Mitte Januar 2021 ordnete die Bundesregierung an, fünf bis zehn Prozent der positiven Proben einer genetischen Untersuchung zu unterziehen, um die Verbreitung kursierender Virusvarianten verfolgen zu können. Und das DIVI-Intensivregister, das die intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten in Deutschland laufend dokumentiert, begann nicht früher als im März 2020 mit der Datenerhebung. Die Liste ließe sich fortsetzen, und sie betrifft maßgeblich einen Bereich, der in Deutschland systematisch schwach aufgestellt ist: die »Public Health«, wie die öffentliche Gesundheitsfürsorge heute meist genannt wird.

Das interdisziplinäre Fachgebiet befasst sich mit gesellschaftlichen Initiativen, um Krankheiten zu vermeiden und die Gesundheit zu fördern. Dazu nimmt sie alles in den Blick, was wichtig dafür ist, die Gesundheit der Bevölkerung zu erhalten und zu verbessern: soziale, gesellschaftliche und wirtschaftliche Faktoren ebenso wie physikalische, chemische und biologische. Das Gesundheitswesen zu gestalten, medizinische und soziale Dienstleistungen bereitzustellen oder Bürgerinnen und Bürger vor Gesundheitsrisiken zu schützen – all das fällt unter Public Health. Sie betrachtet das Gesellschafts-, Gesundheits- und Sozialsystem somit ganzheitlich.

Bis um 1900 herum versuchte die Public Health in Deutschland, damals oft als »Sozialhygiene« bezeichnet, vornehmlich hygienische Bedingungen zu fördern und Infektionskrankheiten zu vermeiden. Zur Mitte des 20. Jahrhunderts setzte in den meisten westlichen Ländern ein Prozess namens »epidemiologische Transition« ein: Infektionskrankheiten verursachten nicht mehr die meisten Sterbefälle; an die Spitze der Todesursachen rückten nun chronische und altersbedingte Leiden wie Herz-Kreislauf-Komplikationen sowie Krebs- und degenerative Erkrankungen. Deutschland ging dabei einen Sonderweg, weil die Nationalsozialisten den Begriff der Volksgesundheit mit ihrer so genannten Rassenhygiene und ihrem Euthanasie-Programmen pervertiert hatten. Deshalb hatte Public Health hier in der Nachkriegszeit einen schweren Stand. Hinzu kam, dass die deutsche Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg viel weniger in Kontakt mit tropischen Ländern oder Überseegebieten kam als etwa die französische, belgische oder britische und sich daher selten mit dort grassierenden Infektionskrankheiten konfrontiert sah. All dies führte in der Bundesrepublik zu einem relativ geringen Interesse an Infektionskrankheiten und anderen Aspekten der Volksgesundheit.

Erst in den zurückliegenden drei Jahrzehnten gewann die Public Health hier zu Lande wieder an Bedeutung – getrieben von der Globalisierung und der internationalen Vernetzung der Wissenschaft und unterstützt durch Fördermaßnahmen des Bundesforschungsministeriums. Seit den 1990er Jahren wurden mehrere Lehrstühle und Institute für entsprechende Fächer (etwa Epidemiologie, Community Health und Global Health) eingerichtet. Orientiert an angloamerikanischen Konzepten, ging der Begriff »Public Health« dabei aus dem Englischen ins Deutsche über. Gesundheitliche Folgen der Globalisierung, des Klimawandels und der Urbanisierung; die Zunahme von Suchterkrankungen sowie die Malaria in Schwellenländern – all das sind jetzt nicht mehr nur Themen deutscher Entwicklungspolitik, sondern ebenso deutscher Forschungsprojekte.

Infektionskrankheiten: Eine jahrzehntelang unterschätzte Gefahr

In der öffentlichen Wahrnehmung haben Infektionskrankheiten bis zur Covid-19-Krise freilich kaum eine Rolle gespielt. Die Aufmerksamkeit flackerte hin und wieder sporadisch auf, etwa als es 1996 um die durch Nahrungsmittel hervorgerufene Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit ging, später dann um vermeintliche Milzbrand-Attacken nach den Terroranschlägen 2001, um die Ehec-Epidemie 2011, um die Vogelgrippe 2013 oder um die eher diffuse Angst vor dem Ebolavirus. Doch nur die Aids-Pandemie ab den 1980er Jahren blieb (mehr oder weniger) anhaltend im öffentlichen Bewusstsein präsent.

Covid-19 hat das gründlich geändert. Vermutlich zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik rücken die institutionellen Einrichtungen der Public Health dauerhaft in den gesellschaftlichen Fokus. Das sind vor allem das Robert Koch-Institut (RKI) sowie die staatlichen und kommunalen Gesundheitsämter. Auch auf europäischer Ebene gibt es eine solche Einrichtung, das ECDC (European Centre for Disease Prevention and Control) mit Sitz im schwedischen Solna. Es orientiert sich am Vorbild der US-amerikanischen CDC (Centers for Disease Control and Prevention), hat aber nicht so weit gehende Zuständigkeiten wie diese.

Glossar: Epidemiologische Begriffe zur Pandemie

In der täglichen Berichterstattung rund um Covid-19 tauchen immer wieder epidemiologische Maßzahlen und Begriffe auf. Um sie richtig einordnen zu können, ist es wichtig, ihre Bedeutung zu kennen.

(7-Tage-)Inzidenz: Gemeldete Infektionsfälle der zurückliegenden sieben Tage pro 100 000 Einwohner. Mitunter ist die Rede von »Meldeinzidenz«, um deutlich zu machen, dass sie nichts über die Dunkelziffer aussagt. Epidemiologen definieren »Inzidenz« oft als Quotient aus aufgetretenen Fällen und Zahl der Personen, die ein Infektions- oder Erkrankungsrisiko tragen. Übertragen auf die 7-Tage-Inzidenz von Covid-19 müsste man die Fallzahl nicht auf die Populationsgröße beziehen, sondern auf die Populationsgröße abzüglich der Geimpften und der Genesenen.

Exponentielles Wachstum: Begriff, der im Alltagsgebrauch einen starken Anstieg der Fallzahlen bezeichnet, abgeleitet von der Exponentialfunktion f(x) = ex. Er ist missverständlich, denn die Zahl der Infizierten entwickelt sich in einer Pandemie immer exponentiell, wenn auch mit zeitlich variierender Reproduktionszahl. Ist die Reproduktionszahl kleiner als eins, fällt sie; ist sie größer als eins, steigt sie. Ist sie gleich eins, bleibt die Zahl der Neuinfektionen konstant, lässt sich aber dennoch mit einer Exponentialfunktion (mit Exponent 0) darstellen.

Kumulative Fallzahl: Gesamtzahl der Fälle, die seit Beginn der Pandemie in der jeweils interessierenden Region gemeldet worden sind.

Reproduktionszahl: Mittlere Anzahl der Personen, an die ein Infizierter die Erreger weitergibt, solange er ansteckend ist. Ist die Zahl kleiner als eins, gehen die Neuinfektionen zurück.

Sterbefälle: Anzahl Verstorbener, die nachweislich mit Sars-CoV-2 infiziert waren und im Zusammenhang mit dieser Infektion gestorben sind. Ihren Tod eindeutig der Viruserkrankung zuzuschreiben (»Kausalattribuierung«), ist – wie bei vielen anderen Erkrankungen auch – allerdings schwierig. Wahrscheinlich sterben viele Patienten nicht an, sondern mit der Erkrankung; umgekehrt gibt es zahlreiche Menschen, die an Covid-19 sterben, ohne dass dies als Todesursache erkannt wird. In welchem Ausmaß Covid-19 zu mehr Todesfällen (»Übersterblichkeit«) führt, wird laufend untersucht.

Verdopplungszeit: Zeit, in der sich die Zahl der Fälle verdoppelt. Ein ähnlicher Parameter, die Halbwertszeit, dient zum Beschreiben radioaktiver Zerfälle – nur dass sie die Dauer einer Halbierung angibt.

Weil Deutschland in der Public Health vergleichsweise schwach aufgestellt war und die hiesigen Gesundheitsämter stark unter Einsparungen litten – ersichtlich etwa an der mangelhaften Ausstattung mit digitalen Datenerhebungsinstrumenten und dem verbreiteten Fehlen einer einheitlichen Meldesoftware –, traf die Covid-Pandemie das Land besonders unvorbereitet. Unter anderem deshalb übernahm die politisch-öffentliche Debatte diverse epidemiologische Begriffe ziemlich unreflektiert (siehe Glossar) und stellte sie auf inkonsistente Weise in den Fokus. War es zu Beginn der Krise noch die Verdopplungszeit, die es zu verlängern galt, avancierten zwischenzeitlich der R-Wert und jetzt die Inzidenzzahl zum vermeintlich entscheidenden Maß, an dem sich Lockdowns, Ausgangsbeschränkungen und Lockerungen orientieren sollen.

Aus wissenschaftlicher Sicht ist es wenig sinnvoll, sich auf eine einzelne Maßzahl zu konzentrieren. Einerseits lässt sich ein komplexes Pandemiegeschehen kaum mit einem einzigen Parameter beschreiben, zumal wenn er von diversen Einflussfaktoren abhängt, etwa der Testhäufigkeit, dem Funktionieren der Meldeketten oder der Anzahl bereits geimpfter Personen. Andererseits verlieren Maßzahlen deutlich an Wert, wenn sie direkt zum Ziel von Interventionen gemacht werden – denn das verführt zu einem Ausweichverhalten, welches ihre Aussagekraft reduziert. Dieses Phänomen ist als Goodharts Gesetz bekannt (siehe Kasten »Goodharts Gesetz«). So könnte die Orientierung an der Inzidenzzahl zur Folge haben, dass Verantwortliche weniger testen (lassen) oder Testergebnisse verzögert melden, um die Inzidenz eines Gebiets nicht über bestimmte Schwellenwerte steigen zu lassen, ab denen Einschränkungen in Kraft treten.

Goodharts Gesetz

Der britische Ökonom Charles Goodhart, Berater der Bank of England und Professor an der London School of Economics, hat in den 1970er Jahren ein Prinzip zur Verwendung von Zielzahlen formuliert: »Jede beobachtete statistische Kennzahl ist nur zu gebrauchen, solange auf sie kein Druck ausgeübt wird.« Anders ausgedrückt: Wird eine Maßzahl zu einem Ziel erklärt, ist sie nicht länger eine gute Maßzahl.

Beispielsweise wäre es eine schlechte Idee, Chirurgen nach der Erfolgsquote ihrer Operationen zu beurteilen und zu bezahlen. Ob der Erfolg an der Genesungszeit oder der Überlebensrate der Patienten gemessen würde oder an der Stärke der Nebenwirkungen oder an den Kosten eines Eingriffs – in jedem Fall würden die Chirurgen komplizierte Operationen schon bald vermeiden, da diese ihre Erfolgsbilanz negativ zu beeinflussen drohten. Wird in der Covid-Pandemie die Inzidenzzahl zum Ziel gemacht, entstehen Anreize, sie durch weniger Tests oder verzögerte Meldung von Fallzahlen künstlich zu senken.

Der unzureichend geübte Umgang der Politik mit epidemiologischen Maßzahlen traf auf eine Medienlandschaft, die in weiten Teilen unerfahren im Umgang mit Zahlen überhaupt war. Viele Medienanstalten haben ihre Wissenschaftsredaktionen in den zurückliegenden Jahren reduziert oder ganz aufgelöst, was das unreflektierte Übernehmen epidemiologischer Begriffe und ihre fehlende Einordnung begünstigt hat. So wären mehr seriöse Vergleiche zwischen den Risiken einer Sars-CoV-2-Infektion und anderen Gesundheitsgefahren wünschenswert gewesen.

Angesichts der Verständnislücken bei Politikern und Medienschaffenden, der zunächst sehr akademisch orientierten wissenschaftlichen Politikberatung und der schlecht aufgestellten Test- und Meldeinfrastruktur in Deutschland ist nachvollziehbar, dass vieles in der Pandemie nicht optimal lief. Eine besondere Rolle dabei spielen Computermodelle des Infektionsverlaufs, die wichtige Kennzahlen der Pandemie vorhersagen, etwa die Zahl der zu erwartenden Infizierten und Toten (siehe Kasten »Die Pandemie simulieren«). Dabei kamen mitunter bedrohlich wirkende Ergebnisse heraus, die sich medial rasch verbreiteten (Stichwort »exponentielles Wachstum«), ohne kritisch eingeordnet zu werden. Modellbasierte Hochrechnungen sind unzweifelhaft von Nutzen, gehen aber immer mit großen Unsicherheiten einher – gerade bei begrenztem Wissen über die Erreger und über die Wirkung gesellschaftlicher Maßnahmen wie Lockdowns. Diese Unsicherheiten sind leider oft nicht kommuniziert worden.

Wie ausgestorben | Diverse Lockdowns haben das öffentliche Leben eingeschränkt; das Bild zeigt die Münchner Fußgängerzone im Mai 2020. Nicht immer ist klar, nach welchen Kriterien die Lockdowns in Kraft treten.

Komplexe Phänomene wie eine gesamtgesellschaftliche Pandemie sind extrem schwer bis unmöglich realitätsgetreu zu modellieren. Eines der maßgeblichen Probleme dabei, nämlich dass die Ergebnisse sehr stark von den Anfangsbedingungen abhängen – der so genannte Schmetterlingseffekt –, wurde der Öffentlichkeit aber kaum erläutert. Sowohl Wissenschaftler, darunter einige Modellierer selbst, als auch politische Entscheider haben den Modellen mitunter eine überaus große Bedeutung beigemessen, die fachlich nicht immer zu rechtfertigen ist.

Ein Mangel an nutzbaren Daten

Ein weiteres Problem: Es gibt zwar Institutionen in Deutschland, die sehr viele bevölkerungsbezogene Daten sammeln, doch diese stehen der Wissenschaft nicht oder zumindest erst nach einer gewissen Zeit zur Verfügung. So dokumentieren Mobilfunkanbieter systematisch die Positionsangaben von Smartphones, welche sich sehr gut zur Kontaktverfolgung bei lokalen Krankheitsausbrüchen nutzen ließen, oder, unterstützt durch entsprechende Apps, zur Zugangskontrolle. Nur sind sie aus Datenschutzgründen nicht einsehbar. Andere routinemäßig erhobene Daten der Einwohnermeldeämter oder der Krankenkassen können Forscherinnen und Forscher zwar nutzen, aber oft erst mit erheblicher Zeitverzögerung. Die bundesweite Meldung intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten im DIVI-Register ist mittlerweile etabliert, doch es fehlen dort immer noch grundlegende individuelle Angaben wie Alter, Geschlecht, Vorerkrankungen und wichtige Risikofaktoren der Patientinnen und Patienten.

Das starre Festhalten an den Datenschutzregularien während der Pandemie erweist sich damit als hinderlich. Aus unserer Sicht wäre hier eine bessere Güterabwägung nötig. Wir halten eine zeitweise und partielle Aussetzung des Datenschutzes für vertretbar; im Online-Schulunterricht geschieht das übrigens längst. Ebenso problematisch erscheint, dass moderne Methoden der Datenauswertung, etwa gezieltes maschinelles Lernen, die adäquate Berechnung von Ursache und Wirkung oder der vermehrte Einsatz von Interventionsstudien, im Bereich der Public Health noch viel zu wenig ausgebildet und eingesetzt werden.

Die Pandemie simulieren

Computermodelle erlauben es, den Verlauf einer Epidemie im Rechner durchzuspielen. Sie verknüpfen das vorhandene Wissen über den Erreger und das Infektionsgeschehen mit verschiedenen Annahmen und berechnen auf dieser Grundlage mögliche Szenarien. Das erlaubt beispielsweise, die voraussichtliche Wirkung einer bestimmten Maßnahme abzuschätzen, etwa des Tragens von Gesichtsmasken. Es gibt im Wesentlichen drei Typen von Modellen, die auf Pandemien angewendet werden:

Compartment-Modelle: Die Bevölkerung wird in Gruppen, so genannte Compartments, eingeteilt. Die Mitglieder jeder Gruppe ähneln sich in gewissen Eigenschaften, die für die Verbreitung der Krankheit relevant sind – etwa Immunstatus, Infektiosität oder empfangene Impfdosen. Das macht es möglich, die zahllosen Interaktionen echter Menschen gewissermaßen in Schubladen einzusortieren und auf Wechselwirkungen zwischen den Compartments zu reduzieren. Diese lassen sich dann mathematisch beschreiben, meist mit Hilfe von Differenzialgleichungen.

Agenten-Modelle: Sie simulieren einzelne Individuen (»Agenten«), denen sie bestimmte Eigenschaften zuweisen. Deren infektionsrelevantes Verhalten – beispielsweise Einkaufen, Pendeln zur Arbeit und so weiter – und dessen Auswirkungen auf das Infektionsgeschehen werden im Computer modelliert. Entscheidender Unterschied zu den Compartment-Modellen ist die Möglichkeit, das Verhalten einzelner Personen und dessen Abhängigkeit von anderen Individuen abzubilden – etwa hinsichtlich der Entscheidungen »Ich fahre auch zur Arbeit, wenn ich mich krank fühle« oder »Wenn mein Kind krank ist, fahre ich nicht zur Arbeit«.

Modelle des maschinellen Lernens: Eigenschaften einer Population wie die Altersverteilung oder das räumliche Muster der Wohn- und Arbeitsorte, Merkmale des Erregers und Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung fließen in einen Algorithmus ein, der zuvor anhand von Beispieldaten selbstständig einschlägige Muster und Gesetzmäßigkeiten erkannt und verallgemeinert hat. Der Algorithmus kann dann die Wirkung der Maßnahmen in gewissen Grenzen voraussagen.

Den drei Modelltypen liegen verschiedene Arten von Unwissenheit zu Grunde. Maximale Unwissenheit besteht, wenn weder der Ausgangszustand noch die bestimmenden Regeln des Infektionsgeschehens bekannt sind – was auf die gegenwärtige Pandemie zutrifft. Erschwerend kommt hinzu: Selbst kleine Variationen der Ausgangslage, zum Beispiel eine einzelne unentdeckte infektiöse Person, können das Langzeitverhalten des Systems nachhaltig verändern. Diese starke Sensitivität gegenüber den Anfangsbedingungen, von Fachleuten auch als »Schmetterlingseffekt« bezeichnet, ist aus der Chaostheorie bekannt.

Gute Infektionsmodelle berücksichtigen die wichtigsten Faktoren des Infektionsgeschehens. Im Fall von Covid-19 gehören dazu die Altersstruktur der Bevölkerung sowie Parameter des Sozialverhaltens: Wer trifft sich mit wem? Wer fährt zur Arbeitsstätte, wer arbeitet im Homeoffice? Digitale Mobilitätsdaten, etwa aus der Überwachung von Smartphones, sind hier hilfreich, sofern sie sich nutzen lassen. Ordnet die Regierung konkrete Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung an und ändern die Bürgerinnen und Bürger daraufhin ihr Verhalten, hat das komplexe Rückwirkungen auf das Infektionsgeschehen, die im Modell sehr schwer zu entwirren sind.

Was können wir im Hinblick auf die Public Health in Deutschland aus der aktuellen Pandemie lernen? Die Krise hat uns eindrücklich vor Augen geführt, wie verletzlich eine globalisierte Gesellschaft gegenüber Infektionskrankheiten ist. Der belgische Mikrobiologe Peter Piot, einer der Entdecker des Ebolavirus, schrieb schon vor Jahren, zeit seines langen Berufslebens seien ständig neue Krankheitserreger aufgetaucht, und auch weiterhin würden »zweifellos neue Epidemien entstehen, wahrscheinlich durch die Nahrungskette oder auch über Tiere«. Um uns wenigstens minimal darauf vorzubereiten, sind seiner Ansicht nach größere Investitionen in Labor-Infrastruktur, in epidemiologische Überwachungssysteme und besonders in die Ausbildung von Fachleuten nötig. Zu Letzteren zählt er Virologen, Epidemiologen, Datenwissenschaftler, Notfallmediziner, Veterinäre, Wissenschaftskommunikatoren und Experten für Public Health.

Empfehlungen der Royal Statistical Society zur datengestützten Public Health

  • In Public-Health-Daten investieren. Sie sollten als kritische nationale Infrastruktur angesehen werden.
  • Erkenntnisse veröffentlichen. Alle von politischen Entscheidern und ihren Beratern berücksichtigten Daten müssen rechtzeitig veröffentlicht und zugänglich gemacht werden.
  • Für Klarheit und Transparenz sorgen. Die Regierung sollte ein zentrales Datenportal erstellen und unterhalten, über das sich die offiziellen Daten, Analysen und aktuelle Ergebnisse abrufen lassen.
  • Förderung statistischen/epidemiologischen Knowhows. Es sollten Mittel für unabhängige Überprüfungen statistischer Auswertungen bereitstehen.
  • Verantwortungsvolle Medien stärken. Die Regierung sollte Medien unterstützen, die wissenschaftlich und medizinisch fundiert berichten.
  • Entscheidungsträger schulen. Politische und behördliche Entscheider sollten statistische Schulungen durchlaufen.
  • Wirksames Überwachungssystem für Infektionskrankheiten schaffen. Die Regierung sollte ein Echtzeit-Überwachungssystem für künftige Epidemien bereitstellen.
  • Diagnostische Tests kontrollieren. Ähnliche Schritte wie bei der Impfstoff- und Arzneimittelbewertung sollten auch für diagnostische Tests gelten.
  • Gesundheitsdaten und Daten zur Sozialfürsorge verknüpfen. Bei der Auswertung von Gesundheitsdaten ist es von zentraler Bedeutung, auch Angaben zur Auslastung stationärer und ambulanter Leistungserbringer zu berücksichtigen.
  • Evaluierung in den Mittelpunkt der Politik stellen. Kosten-Nutzen-Bewertungen von Maßnahmen sollten von Anfang an in jede Intervention einbezogen werden.

Quelle: rss.org.uk/policy-campaigns/policy/covid-19-task-force/statistics,-data-and-covid/

Da den Datenwissenschaften in Pandemien eine herausragende Bedeutung zukommt, hat die renommierte Royal Statistical Society (RSS) kürzlich eine Liste erstellt, die Anforderungen an Public-Health-Daten und den Umgang damit zusammenfasst (siehe Kasten »Empfehlungen der Royal Statistical Society«). Würden politisch-gesellschaftliche Maßnahmen vollständig auf Daten gestützt und unter sorgfältiger Kosten-Nutzen-Abwägung begründet, wie von der RSS gefordert, würde das ihre Akzeptanz in der Bevölkerung sehr wahrscheinlich deutlich erhöhen.

Unterstützt von geschulten Einsatzgruppen

Weiter erscheint die Einrichtung einer epidemiologischen Einsatzgruppe sinnvoll – mit Fachpersonal, das ein spezielles Schulungsprogramm in epidemiologischen und technischen Vor-Ort-Untersuchungen (»Feldarbeit«) durchlaufen hat. Sie könnte etwa die Kontaktverfolgung bei lokalen Ausbrüchen und in Hotspots unterstützen und mögliche Übertragungswege analysieren. Die derzeit praktizierte telefonische Kontaktverfolgung stößt bei etlichen Gesundheitsämtern an ihre Grenzen, nicht zuletzt wegen fehlender digitaler Infrastruktur. Eine persönliche Vor-Ort-Befragung mit Betroffenen kann detailliertere Resultate erzielen, wenn es gelingt, ein Vertrauensverhältnis zwischen Befragtem und Interviewer aufzubauen. Mit Hilfe eines entsprechend ausgebildeten epidemiologischen Einsatzteams ließe sich vielleicht auch dem Problem beikommen, dass sehr viele Ansteckungen in der aktuellen Pandemie unter ungeklärten Umständen erfolgen – vor allem bei Kindern und Jugendlichen sowie an Schulen.

Nach dem Vorbild der CDC sollte eine solche Einsatzgruppe sowohl Forscher als auch Organisatoren und Berater umfassen. Die enge Verknüpfung mit der Wissenschaft ist nötig, um neue Erkenntnisse über einen Erreger rasch in die Arbeit zu integrieren. Das Zentrum für Internationalen Gesundheitsschutz, seit Kurzem am RKI etabliert, bietet vielleicht ein Beispiel dafür, wie eine solche Verzahnung funktionieren kann. Es wäre wünschenswert, wenn die dort für den internationalen Einsatz entwickelten Konzepte auch in Deutschland umgesetzt würden.

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Eine epidemiologische Taskforce könnte systematisch belastbare wissenschaftliche Daten gewinnen. Viele pandemiebezogene Studien lassen sich ethisch nicht vertreten – etwa das Experiment, in einer Hotspot-Region ein Kino mit bestimmten Hygienemaßnahmen zu öffnen und ein Kino in einer anderen Hotspot-Region zur Kontrolle geschlossen zu halten. Derartige Versuche sind aber nicht unbedingt nötig; auch das natürliche Pandemiegeschehen lässt sich zur wissenschaftlichen Datensammlung nutzen. Ein Beispiel: Im thüringischen Jena fiel in der ersten Februarhälfte 2020 bei klirrenden Minusgraden die Fernwärmeanlage eines Stadtteils aus, woraufhin die Verantwortlichen das Kontaktverbot für 15 000 betroffene Einwohner vorübergehend aufhoben. Ein mobiles Einsatzteam hätte bei dieser Gelegenheit wertvolle Daten zum Infektionsgeschehen erheben können, die – ergänzt um eine passende Kontrollgruppe – wissenschaftlichen Qualitätsstandards genügt hätten. So hätte man schon während der ersten Welle belastbare Erkenntnisse über die Wirksamkeit einzelner Maßnahmen erhalten, weit über rückblickende und damit zwangsläufig unvollständige und verzerrte Analysen hinaus.

Aus Sicht der Public Health erscheint eine wissenschaftlich-operative Einrichtung wünschenswert, die der Bekämpfung aller gesundheitlichen Bedrohungen dient – egal ob Infektionskrankheiten oder chronische Leiden wie Krebs, Diabetes oder psychische Probleme. Diese Institution darf aber nicht den Schwierigkeiten unterliegen, die aus der föderalen Struktur der Bundesrepublik folgen und in der aktuellen Krise täglich schmerzhaft sichtbar werden. Denkbar wäre eine aus Bund, Ländern und Kommunen paritätisch zusammengesetzte und finanzierte Organisation, an der Fachleute der bereits genannten Disziplinen mitwirken und die unabhängig von politischen Vorgaben arbeitet. Idealerweise sollte sie neben der engen Verzahnung mit den regionalen Gesundheitsämtern auch sachkundige und betroffene Bürgerinnen und Bürger einbinden.

Dass ein solcher Wunsch nicht völlig illusorisch ist, macht Großbritannien vor. Dort hat man aus der Covid-19-Krise gelernt und bündelt entsprechende Kompetenzen und Aufgaben in einer neuen Organisation für Gesundheitsschutz, der UK Health Security Agency.

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  • Quellen

Griffith, G. J. et al.: Collider bias undermines our understanding of Covid-19 disease risk and severity. Nature Communications 11, 2020

Kieckbusch, I. et al.: Germanys expanding role in global health. The Lancet 390, 2017

Mina, M. J. et al.: Rethinking Covid-19 test sensitivity – a strategy for containment. New England Journal of Medicine 383, 2020

Wagner, C. et al.: Maßgeschneiderte Eindämmungsinterventionen. Deutsches Ärzteblatt 118, 2021

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