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News: Punkt, Punkt, Komma, Strich...

... fertig ist das menschliche Gesicht? Was als Handzeichnung noch recht einfach und schnell gehen mag, ist tatsächlich ein ungleich komplexer Ablauf. Die Natur gibt sich viel Mühe, bis sie ein persönliches Gesicht gestaltet hat, das einmalig ist und unverwechselbar. Als Grundlage dienen, natürlich, die Gene. Eltern legen sie uns in die Wiege mit dem Ergebnis, dass wir unseren Erzeugern recht ähnlich sehen. Wenn aber jemand meint, seine Ohren würden zu sehr abstehen oder die Nase sei zu lang, dann könnte in der Entwicklung ein Fehler passiert sein. Langsam vollziehen Wissenschaftler einzelne Schritte der Entwicklung nach und lernen, wie die Natur Gesichter zeichnet.
Forscher, die sich mit der Ausbildung des Gesichtes befassen, sind dankbar für solche Auffälligkeiten. Denn sie bekommen mehr Antworten auf ihre Fragen, welche Gene wann und wie beteiligt sind, wenn sie das Stolpern der Natur unter die Lupe nehmen, das den Prozess sichtbar stört. In milden Fällen führt dieses zu den abstehenden Ohren, in drastischen zu Fehlbildungen, die das gesamte Gesicht betreffen.

Der Embryo beginnt in der vierten Woche mit der Ausbildung des Gesichtes, ab der achten Woche sind die Grundzüge zu erkennen. Zunächst teilen sich die noch undifferenzierten Zellen und bewegen sich zu ihrem Bestimmungsort, wo sie die frühe Organisation von Zellen und Geweben regulieren. Erst später beginnt die Ausgestaltung der Einzelorgane. Entscheidend ist für die Koordination der Abläufe und somit für den Gesamtprozess, die verschiedenen Vorgänge miteinander zu verzahnen. Anlage und Wachstum so unterschiedlicher Partien wie Knochen und Muskeln, Augen und Zähne müssen aufeinander abgestimmt werden. Es ist wie ein großes Chorwerk, in dem die Stimmen aufeinander hören müssen. Fällt eine aus, leiden auch andere darunter. Das kann bedeuten, dass selbst gesichtsferne Strukturen dadurch in Mitleidenschaft gezogen werden. Viele Betroffene mit Mutationen in "Gesichtsgenen" zeigen dann zusätzlich zu Beeinträchtigungen von Nase, Mund, Augen oder Stirn auch Fehlbildungen des Gehirns, der Finger und Füße oder anderer Organe.

Irma Thesleff vom Institut für Biotechnologie der Universität Helsinki nennt als Schlüssel zum Verständnis die Signal-Netzwerke. Deren Teile dienen dazu, Wachstums- und Differenzierungssignale an andere Zellen weiter zu leiten und diese Befehle umzusetzen. Sie lassen sich in drei Gruppen einteilen. Signalmoleküle übermitteln die Botschaft von Zelle zu Zelle. Rezeptoren nehmen diese auf und leiten sie bis in den Zellkern zu den Transkriptionsfaktoren, die dann neue Gene anschalten. Da einzelne Mitglieder an verschiedenen Entwicklungswegen beteiligt sind, beispielsweise für Zähne und Knochen, Schädel und Extremitäten, vernetzen sie diese Schritte miteinander. Thesleff untersucht mit ihrer Gruppe die Entwicklung der Zähne. Kürzlich konnten sie bei Mäusen zeigen, welche Rolle der Transkriptionsfaktor Cbfa1 dabei spielt. Während die Anfangsschritte noch ohne sein Mitwirken ablaufen, ist er für die späteren Prozesse, beispielsweise die Ausbildung des Zahnschmelzes, notwendig. Bekannt ist das menschliche Gen für CBFA1 aber bereits aus der Knochenentwicklung. Hier ist es schon am Anfang von Bedeutung, indem das Genprodukt dazu beiträgt, dass unspezifische Vorläuferzellen zu Knochenzellen differenzieren. Wie so häufig wird diese Doppelfunktion "für Zähne und Knochen" auch klinisch sichtbar. Stefan Mundlos (Universität Mainz) und Florian Otto (Universität Freiburg) haben gezeigt, dass Mutationen in dem menschlichen CBFA1-Gen zu einer Erbkrankheit führen, der cleidocranialen Dysplasie. Die Betroffenen haben nicht nur ein "Loch" in der Schädeldecke auf Grund der gestörten Knochenentwicklung, sondern auch überdurchschnittlich viele Zähne: Anders als beim normalen Gebiss wachsen bei ihnen immer wieder neue Zähne nach. Ein intaktes CBFA1-Gen ist zwar notwendig für die Zahnentwicklung, aber nicht ausreichend. Auch das MSX1-Gen codiert für einen Transkriptionsfaktor, der an der Entwicklung beteiligt ist. Mutationen in diesem Gen führen allerdings zu einer dem CBFA1-Gendefekt entgegengesetzten Wirkung: Die Patienten haben weniger Zähne als normal. Noch handelt es sich bei solchen Ergebnissen um teilweise isolierte Mosaiksteine, aber wenn Molekularbiologen die noch fehlenden Faktoren identifizieren, werden sie vermutlich langsam die einzelnen Hierarchien und Regulationsstufen erkennen.

Zu der Gruppe der Signalmoleküle gehört das Protein, das von dem Gen Sonic hedgehog (SHH) codiert wird. Beim Menschen führen Defekte in dem Gen zur Holoprosenzephalie Typ 3 (HPE3), einer Störung des Gesichtes und Gehirns, bei der sich die zwei Hemisphären des Gehirns nicht trennen. Das Erscheinungsbild ist sehr variabel. Einige Patienten sehen nahezu unauffällig aus, und nur ein ungeteilter vorderer Schneidezahn gibt den Hinweis auf den genetischen Defekt. In anderen Fällen kann die Entwicklung so stark beeinträchtigt sein, dass es zur Zyklopie kommt: Hierbei bildet sich nur ein Auge auf der senkrechten Mittellinie des Gesichtes. Maximilian Muenke von den National Institutes of Health untersucht seit Jahren die genetische Grundlage dieser dominanten Erbkrankheit. Neben dem SHH-Gen hat er zusammen mit anderen Wissenschaftlern weitere Gene identifiziert, in denen Mutationen ebenfalls zu einer HPE führen können. In beiden Fällen sind es wiederum Transkriptionsfaktoren, die in der Hierarchie eines Signalweges vermutlich weiter unten stehen. Das Beispiel HPE verdeutlicht, dass Fehlbildungen häufig genetisch heterogen sind, das heißt, die Mutation, die der Störung zu Grunde liegt, muß man in verschiedenen Genen suchen.

Die Rezeptoren für Signalmoleküle bilden eine dritte Klasse der Mitglieder von Netzwerken. Recht gut untersuchte Beispiele sind die Rezeptoren für die Fibroblasten-Wachstumsfaktoren (FGF). Nach Bindung eines FGFs an einen Rezeptor (FGFR) lagern sich zwei gleiche oder verschiedene Rezeptormoleküle zu einem Paar aneinander. Der Rezeptor ist somit aktiviert und gibt das Signal ins Zellinnere weiter, was schließlich Vorgänge wie die Zelldifferenzierung auslöst. Die bisher bekannten 18 FGFs müssen sich vier verschiedene Rezeptortypen teilen. Mit Mutationen in den FGFRs 1 bis 3 verbinden sich etliche Fehlbildungen, die unter die Bezeichnung Craniosynostosen fallen. Gemeinsam ist ihnen, dass der Schädel an einzelnen Stellen zu früh sein Wachstum einstellt. Hier läßt sich das klinische Erscheinungsbild mit den Kenntnissen über die Funktion der Moleküle im Zellgeschehen erklären. Während im Normalfall die Rezeptoren an- und abgeschaltet und somit kontrolliert werden, führt die Mutation bei Craniosynostose-Patienten zu dauernder Aktivität der Rezeptoren. Die Zellen erhalten letztlich das Signal, ihre Teilung einzustellen, und die so genannten Schädelnähte zwischen den Schädelplatten schließen sich. Da aber das Gehirn und auch andere Schädelnähte weiterwachsen, kommt es zu Verformungen und zu den klinischen Zeichen wie einem übermäßig breiten oder langen Schädel und hervorstehenden Augen. Mittlerweile kennen die Wissenschaftler viele Mutationen und können diese den äußeren Erscheinungsformen zuordnen. Maria Rita Passos-Bueno vom Institut für Biowissenschaften der Universität von Sao Paulo gehört zu den Genetikern, welche die zahlreichen Mutationen charakterisieren und mit den klinischen Fällen in Verbindung setzen. Ähnlich wie der Transkriptionsfaktor CBFA1 beschränkt sich die Funktion der FGFRs nicht auf einen Entwicklungsweg. In bestimmten Fällen von Craniosynostosen treten Fehlbildungen der Extremitäten hinzu wie verwachsene oder verkürzte Fingerglieder. Bemerkenswerterweise stellte sich mehrfach heraus, dass der gleiche Gendefekt nicht immer zu der gleichen Störung führt, sondern auch verschiedene Erscheinungen hervorrufen kann. Gerade in der Untersuchung dieses Phänomens sieht Passos-Bueno eine Herausforderung für die Zukunft.

Während man von einigen Mitgliedern der Signal-Weiterleitungsketten die Funktion kennt, aber nicht die Pathogenese erklären kann, gibt es umgekehrt Proteine, deren Funktion noch Rätsel aufgibt. Trotzdem erlauben zellbiologische Daten Hypothesen darüber, wie die Fehlbildung entstehen könnte. Das Opitz-Syndrom zählt wie die HPE zu den Mittellinien-Defekten. Zu seinen Auffälligkeiten gehören beispielsweise ein übermäßig weiter Augenabstand und eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte. Als einen möglichen Auslöser konnte man Mutationen in dem MID1-Gen nachweisen. Susann Schweiger und Hans-Hilger Ropers vom Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik in Berlin haben gezeigt, dass das Produkt dieses Gens mit Mikrotubuli assoziiert ist. Diese Strukturen des Cytoplasmas gehören zum Zellskelett. Anders als ein Knochenskelett unterliegen die Mikrotubuli einem Umbau, der sie immerzu verlängert oder verkürzt. Da sie mit der Zellmembran verbunden sind, bestimmen sie die Form der Zelle und sind unerläßlich für Teilung und Bewegung. Schweiger konnte zeigen, wie das MID1-Protein die Mikrotubuli stabilisiert. Ihre Ergebnisse legen den Gedanken nahe, dass das defekte Protein in den Zellen der Patienten mit Opitz-Syndrom die Differenzierung und Bewegung der Zellen stört. Besonders in der Embryogenese, wenn die Zellen wandern, um spezifische Strukturen wie die Mittellinie anzulegen, führt eine Funktionsbeeinträchtigung zu erheblichen Auswirkungen, die im Gesicht erkennbar werden. Diese Beispiele stehen stellvertretend für eine Vielzahl einzelner Gene, deren Beteiligung an der Gesichtsentwicklung Wissenschaftler schon herausgearbeitet haben und die jeweils Teilaspekte des Gesamtprozesses erhellen. Der Weg zum vollen Verständnis ist allerdings noch lang und dornenreich: Auch wer alle Gene an der Hand hat, verfügt allenfalls über einzelne Stimmen aus der Partitur. Erst mit dem Wissen, welche Gene und Proteine miteinander interagieren und sich gegenseitig regulieren, kann man das ganze Orchester dirigieren.

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