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Telefonseelsorge: Erste Hilfe für die Seele

Mehr als eine Million Anrufe gehen jährlich bei der Telefonseelsorge ein: Menschen berichten von Einsamkeit und Depressionen, Ängsten und Suizidgedanken. Wie können die Seelsorgenden ihnen helfen? Und wie geht es diesen selbst dabei?
Weinende junge Frau telefoniert
Manchmal genügt es schon, sich die Sorgen von der Seele zu reden. (Symbolbild)

»Mir geht's nicht so gut.« Wer diesen Satz an einen elektronischen Sprachassistenten richtet, erhält automatisch die Antwort, dass er nicht allein ist und unter 0800 1110111 die Telefonseelsorge anrufen kann. Im Telefonbuch steht die Nummer unter »Notrufe« auf der ersten Seite. Ein Hinweis auf die Seelsorge-Hotline erscheint auch unter Zeitungsartikeln, die über Suizide berichten. Patientinnen und Patienten, die noch auf einen Therapieplatz warten, werden ebenfalls auf das Angebot verwiesen. Und sobald man den Satz »Ich will nicht mehr leben« in eine bekannte Suchmaschine eingibt, zeigt sie an erster Stelle die 0800 1110111 an. Darüber steht: »Hier findest du Hilfe. Sprich noch heute mit jemandem.«

Die Telefonseelsorge ist damit so etwas wie die Feuerwehr für die Seele: eine öffentlich anerkannte Notfallinstanz bei psychischer Not – kostenlos, rund um die Uhr und allerorten unter derselben Nummer erreichbar. Seit gut zwei Jahrzehnten wird diese Hilfe auch per Mail und per Chat angeboten.

Wie groß der Bedarf an dieser Hilfe ist, zeigen die Statistiken, die jedes Jahr von der Telefonseelsorge Deutschland veröffentlich werden: Danach wurden 2021 mehr als eine Million Gespräche über Telefon, Chat oder Mail mit der Telefonseelsorge geführt. Rund 8000 Seelsorger und Seelsorgerinnen, zwei Drittel davon Frauen, sind dafür deutschlandweit in 104 Regionalstellen im Einsatz. Dennoch müssen die Hilfesuchenden die Hotline durchschnittlich sechsmal anwählen, bis sie dort durchkommen und mit jemandem sprechen können.

Einer der Telefonseelsorger ist Christian. Sein Nachname wie auch die der anderen Ehrenamtlichen sollen in diesem Artikel nicht genannt werden, damit die Anonymität – eines der obersten Prinzipien der Telefonseelsorge – gewährleistet bleibt. Christian ist 47 Jahre alt und arbeitet als Ingenieur in der Autoindustrie. Zweimal im Monat verlässt er abends nach der Arbeit noch einmal seine Familie, um eine Nacht bei der Telefonseelsorge zu arbeiten.

»Ein Gespräch von 20 Minuten kann manchmal lebensrettend sein«Ruth Belzner, Leiterin der Telefonseelsorge in Würzburg

»An den Tagen, an denen ich Dienst habe, versuche ich möglichst gechillt und ausgeruht dort anzukommen«, sagt der bärtige Mann. Denn die wichtigste Voraussetzung für diese Arbeit sei es, ganz präsent im Kontakt mit den Anrufenden zu sein. »Zuerst hole ich mir einen Tee, mache eine kurze Übergabe mit meiner Vorgängerin. Ich atme noch einmal durch und drücke auf den Knopf, der die Leitung freischaltet. Dann dauert es kaum eine Minute, bis es klingelt.«

Viele der Ratsuchenden könnten ihr Problem nicht auf Anhieb ansprechen, berichtet Christian. »Die meisten brauchen ein bisschen, um zu ihrem eigentlichen Anliegen zu kommen.« Dann lässt der Telefonseelsorger den Gesprächsfluss der anrufenden Person erst einmal in Gang kommen, macht sich Notizen, fragt ein wenig nach und versucht, ihr durch aktives Zuhören beizustehen. Schon diese Erfahrung, dass jemand da ist, der sich wirklich für sie interessiert, der Zeit hat und zuhört, sei für viele eine Erleichterung: »Sie sind mit ihrem Problem nicht mehr allein.«

Die Schwierigkeiten der Anruferinnen und Anrufer sind vielfältig. Laut Statistik der Telefonseelsorge leidet gut ein Fünftel der Hilfesuchenden unter Einsamkeit, etwas weniger klagen über körperliche Probleme und depressive Stimmung. Die anderen erzählen zum Beispiel von Ängsten, Stress oder Erschöpfung, Ärger oder Trauer. Und bei vielen, die sich melden, kommen mehrere Probleme zusammen. Etwas anders sehen die Sorgen und Nöte derer aus, die sich per Mail oder Chat melden: Hier sind depressive Stimmung und Ängste am häufigsten.

In einer Analyse der Statistiken von 2013 und 2014 weisen Sozialwissenschaftler der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen KatHO allerdings darauf hin, dass die Daten der Telefonseelsorge mit Unsicherheit behaftet sind. Technisch ist sie so eingerichtet, dass die Anrufenden unter keinen Umständen identifiziert werden könnten. Während der Gespräche werden bewusst keine Namen genannt und keine persönlichen Daten abgefragt. Alle vorliegenden Daten basieren auf subjektiven Einschätzungen der Seelsorgerinnen und Seelsorger, heißt es in der Auswertung.

Und in der Regel handelt es sich bei ihnen nicht um Psychologen oder Psychiaterinnen, sondern um Lehrerinnen und Finanzbeamte, Rentner und Krankenschwestern – qualifizierte Ehrenamtliche, die sich nicht als Expertinnen und Experten verstehen, sondern als Gesprächspartner auf einer Ebene von Mensch zu Mensch. »Die Ehrenamtlichen wissen, dass sie keine Therapeuten sind. Ein Telefonseelsorgerin oder ein Telefonseelsorger ist ein Mensch, der in einer akuten Situation für einen anderen da ist«, sagt Ruth Belzner, Psychologin und Leiterin der Telefonseelsorge in Würzburg. »Aber auch ein Gespräch von 20 Minuten kann manchmal lebensrettend sein.«

Die 50-jährige Ruth Belzner und ihr Kollege Joachim Schröter, ein Theologe, sind die einzigen Hauptamtlichen in ihrer Regionalstelle. Gemeinsam betreuen sie rund 90 Ehrenamtliche, die hier abwechselnd Dienst am Telefon oder Computer leisten. Sie bilden die Seelsorgenden aus, stehen ihnen nach schwierigen Gesprächen zur Seite, sorgen für regelmäßige Fortbildungen und Supervision. Ihr Büro befindet sich in einem Gebäude der evangelischen Kirche.

»Missionierung ist tabu«Ruth Belzner, Psychologin

Doch obwohl die Telefonseelsorge Deutschland von den beiden großen Kirchen gemeinsam finanziert wird, gehört auch die weltanschauliche Neutralität zu ihren obersten Prinzipien. »Missionierung ist tabu«, sagt Belzner knapp und deutlich. »Leute, die ihren Glauben vor sich hertragen und für die einzige Lösung aller Probleme halten, nehme ich nicht.« Die Ehrenamtlichen müssten »offen, kritikfähig und interessiert an der Welt und anderen Menschen sein«, sagt die Psychologin, »und sie sollten ein Gespür für die eigenen Grenzen und die Grenzen anderer Menschen haben.« In einer einjährigen Ausbildung erhalten die Seelsorge-Anwärter ein fundiertes Wissen zu Psychologie, Krankheitsbildern und Gesprächsführung, sie erproben sich in Übungstelefonaten und hospitieren bei erfahrenen Telefonseelsorgenden.

»Als Lehrerin war ich eigentlich gewöhnt, anderen Zielvorgaben, Motivation und Ratschläge zu geben«, erinnert sich Annette. »Aber hier musste ich lernen, dass man mit Patentlösungen nicht weiterkommt.« Die sportliche Frau mit den kurzen grauen Haaren arbeitet schon seit zwölf Jahren ehrenamtlich bei der Telefonseelsorge. Wenn die Anrufenden sie fragen, was sie denn machen sollen, wirft Annette heute lieber den Ball zurück: »Was wünschen Sie sich denn? Was könnte Ihr Plan sein?« Häufig erkundigt sie sich nach vergrabenen Ressourcen: »Was haben Sie denn früher gerne gemacht? Schwimmen? Freunde treffen? Fotografieren? Könnten Sie das heute noch mal versuchen?«

Den Brand eindämmen, die Gefahrenzone verlassen

»Out of the problem!«, lautet die Strategie, bei der die Seelsorgenden den Blick der Anrufer von der akuten Krise weglenken. Das hilft häufig schon, um aus der Erstarrung zu kommen und Alternativen zu erkennen. Auch da fungiert die Telefonseelsorge wie die Feuerwehr: Es geht erst mal darum, den Brand einzudämmen und die Betroffenen aus der Gefahrenzone zu bringen. Oft verweisen die Seelsorgenden ihre Gesprächspartner dann auch an Organisationen wie den psychologischen Dienst, eine Trauergruppe oder die Drogenhilfe, die in ihrer speziellen Notlage weiterhelfen können.

Wie hilfreich die Erste Hilfe am Telefon sein kann, hat auch Hiltrud oft erlebt. Die Telefonseelsorgerin mit dem bunten Sommerkleid ist Logopädin und hat eine Ausbildung in Atemtherapie. Als Hiltrud an einem Abend den Hörer abnimmt, hört sie sofort, dass die Anruferin in einer akuten Panikattacke steckt. Sie fragt: »Soll ich mit Ihnen atmen?« Danach atmet die Telefonseelsorgerin hörbar ein und aus, zählt mit sanfter Stimme den Atemrhythmus vor, und die Anruferin kommt zur Ruhe.

Hiltrud, Annette, Christian: Im Gespräch mit diesen drei wird deutlich, wie verschieden die Ehrenamtlichen hier sind. Jede und jeder von ihnen bringt sich mit der eigenen Person in die Seelsorge ein. Wenn sie ausdrücklich darum gebeten wird, ist Annette auch bereit, für die Hilfesuchenden zu beten: »Auf dem Heimweg zünde ich in der Kirche eine Kerze für Sie an.« Christian hingegen spielt manchmal Tabu mit einem Anrufer: Er fordert den Mann, der pausenlos über seine Krankheiten redet und an gar nichts anderes mehr denken kann, dazu auf, in den nächsten zehn Minuten versuchsweise kein Wort darüber zu verlieren. Gelegentlich hilft auch ein Witz.

Zur Hilfe am Telefon gehöre nicht nur Empathie und Verständnis, sagt die Stellenleiterin Ruth Belzner, sondern zuweilen auch Konfrontation. Wenn ein Anrufer etwa über Einsamkeit klagt, aber alle Kontaktmöglichkeiten mit Nachbarn oder Vereinen ablehnt, fordert sie Mut zur Veränderung. »Jeder Kontakt ist eine Investition an Energie«, sagt sie dann. »Dafür braucht man die Bereitschaft zum Risiko.«

Bei Suizidgedanken gibt es keine Patentlösung

Am schwersten ist der Dienst, wenn die Anrufenden nicht mehr leben wollen. Sobald sie entsprechende Andeutungen hört, spricht Annette das direkt an: »Reden Sie von Suizid?« Oft ändere sich die Situation schon dadurch, dass der Gedanke einmal ausgesprochen sei.

Doch auch hier gibt es keine Patentlösung, sondern nur die Beziehung, die sich über das Reden und Zuhören aufbaut. Suizidgedanken seien »kein Problem, das man allein in einem Gespräch lösen kann, das ist ein längerer Prozess», sagt Hiltrud. Als Telefonseelsorgerin könne sie aber zu den Betroffenen »in ihren dunklen Raum mit hineingehen und vielleicht ein Fenster öffnen«. Christian nimmt suizidalen Menschen häufig das Versprechen ab, sofort zum psychologischen Dienst zu gehen. »Allerdings wissen wir nicht, ob sie es dann auch wirklich tun.« Die Unsicherheit sei oft eine schwere Belastung, »und manchmal kann ich danach kein anderes Gespräch mehr annehmen«.

Wege aus der Not

Denken Sie manchmal daran, sich das Leben zu nehmen? Erscheint Ihnen das Leben sinnlos oder Ihre Situation ausweglos? Haben Sie keine Hoffnung mehr? Dann wenden Sie sich bitte an Anlaufstellen, die Menschen in Krisensituationen helfen können: Hausarzt, niedergelassene Psychotherapeuten oder Psychiater oder die Notdienste von Kliniken. Kontakte vermittelt der ärztliche Bereitschaftsdienst unter der Telefonnummer 116117.

Die Telefonseelsorge berät rund um die Uhr, anonym und kostenfrei: per Telefon unter den bundesweit gültigen Nummern 08001110111 und 08001110222 sowie per E-Mail und im Chat auf der Seite www.telefonseelsorge.de. Kinder und Jugendliche finden auch Hilfe unter der Nummer 08001110333.

Aber warum machen die Ehrenamtlichen das überhaupt? Diese Frage hat die Gesellschaft für Arbeits-, Wirtschafts- und Organisationspsychologische Forschung GAWO im Jahr 2011 untersucht. In der heutigen Gesellschaft erscheine es »kaum nachvollziehbar, sich ohne Entgelt um die Sorgen und Nöte anderer Menschen zu kümmern«, schreibt die GAWO in einer Analyse. Demnach handelt es sich bei den Ehrenamtlichen überwiegend um Frauen, Ältere und Personen mit hohem Bildungsabschluss. Ein großer Anteil stehe nicht oder nicht mehr im Erwerbsleben.

Die Wertvorstellungen der Ehrenamtlichen unterschieden sich erheblich von denen der Gesamtbevölkerung, heißt es weiter. Die Seelsorgenden seien stärker an zwischenmenschlichen Werten und sozialer Verantwortung orientiert als an äußeren Faktoren wie Geld oder Status. Als immaterieller Ertrag der Arbeit werde die Erfahrung von Sinn und Selbstwirksamkeit genannt, aber auch die Erweiterung des eigenen Horizonts und die Erfahrung, sich dabei selbst weiterzuentwickeln.

»Nein, wir sind keine Heiligen», sagt Annette auf Nachfrage und winkt ab. Es sei vielmehr spannend, »hinter die Maske eines Menschen zu gucken und die Lücke zu finden, durch die ich meine Zuwendung rüberbringen kann. Dieser Knackpunkt, wenn das passiert, das ist das, was mir Freude macht.« Hiltrud ergänzt: »Meine Fähigkeit, das, was ich kann und bin, wird hier gebraucht. Mir tut die Anerkennung gut.« Und Christian erklärt: »Bevor ich hier anfing, konnte ich zwar physikalische Vorgänge erklären, hab' aber die Menschen nicht verstanden.« Inzwischen habe er gelernt, sich in andere einzudenken, und könne sich besser ausdrücken. »Was sagt eigentlich deine Frau dazu?«, fragt ihn Annette. »Die findet's toll!«, antwortet Christian und lacht.

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