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News: Umzug im Gehirn

Ein Schlaganfall setzt in der Regel ganze Teile des Gehirns außer Kraft. Untersuchungen zeigen nun, daß das Sprachzentrum nach einer solchen Beschädigung in gesunde Bereiche auswandern kann. Dieser Umzug ermöglicht es dem Gehirn, entstandene Schäden schnell zu kompensieren.
Nach den Ergebnissen von Hirnwissenschaftlern der Carnegie Mellon University und der University of Pittsburgh können sich die höheren Hirnfunktionen spontan reorganisieren, wenn dies notwendig ist. Dieser Prozeß setzt unmittelbar nach dem Schlaganfall ein und zeigt beim erwachsenen Gehirn eine Flexibilität, von der man bisher nur bei Kindern in den ersten Lebensjahren ausgegangen war. Die Erkenntnisse widersprechen der bisherigen Meinung, daß die Fähigkeit von Patienten, nach einem Schlag das Sprechen neu zu erlernen, mit der Heilung von Hirngewebe in Zusammenhang steht – wie zum Beispiel einem Abklingen von Schwellungen.

Eine besondere Art der magnetischen Resonanz-Untersuchung (functional magnetic resonance imaging, fMRI) zeigt vielmehr, daß die Sprachfunktionen vom geschädigten Bereich in ein entsprechendes Areal auf der gesunden Seite des Gehirns verschoben werden (Stroke, April 1999, Abstract). Das menschliche Hirn ist demnach in seiner Selbstorganisation äußerst flexibel und ähnelt während des Genesungsprozesses einer Schauspielertruppe, die den Verlust eines Hauptdarstellers kompensieren muß. Der Ausgleich kann innerhalb von einem bis zwei Tagen nach dem Schlaganfall beginnen und sich über viele Monate fortsetzen. Neue Rehabilitationsstrategien könnten sich diese Ergebnisse zunutze machen.

Mit Hilfe der fMRI-Methode wurden die Gehirne zweier Schlaganfall-Patienten untersucht, während diese lasen und zeigten, was sie verstanden. In gesunden Gehirnen werden Sprachfunktionen von einem Netzwerk spiegelbildlicher Gehirnbereiche in der linken und rechten Seite des Gehirns durchgeführt, wobei meistens die linke dominiert. Die untergeordnete Seite, also gewöhnlich die rechte, gibt sich entweder mit einer Statistenrolle zufrieden oder spezialisiert sich auf bestimmte Aufgaben. Werden nun die Bereiche auf der dominanten Seite beschädigt, tritt die entsprechende Komponente auf der gesunden Seite schnell und spontan aus ihrer Statistenrolle heraus, wird aktiv und übernimmt ein normales Maß an Sprachverarbeitung. Dies zeigte sich bei den 34- und 45-jährigen Patienten. Während sie kurz nach dem Schlaganfall Sätze zu lesen und zu verstehen lernten, wurden die bis dahin inaktiven Sprachzentren der rechten Gehirnhäften zunehmend aktiv – es handelte sich dabei um die Entsprechungen der Broca- und Wernick-Bereiche, die eigentlich in der linken Hälfte angesiedelt sind.

"Sicherlich freut sich niemand darauf, einen Schlaganfall zu erleiden", sagt Marcel Just, der neben Keith Thulborn und Patricia Carpenter dem Forscherteam angehört. "Es ist jedoch ein gewisser Trost zu wissen, daß wir alle einen Satz denkender Ersatzteile mit uns herumschleppen, die wissen, wie sie sich selbst installieren müssen, sollte dies erforderlich werden."

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