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Coronavirus: Was tun gegen Aerosolübertragung?

Fachleute fordern, Aerosole als Ansteckungsweg besser zu berücksichtigen. Die WHO will nun ihre Empfehlungen überarbeiten. Doch was bedeutet das?
Lehrerin und ihre Klasse mit Masken im Klassenraum

Am 10. März diesen Jahres trafen sich in der Presbyterian Church der 35 000-Einwohner-Stadt Mount Vernon im Bundesstaat Washington — rund eine Autostunde nördlich von Seattle — die Mitglieder des Amateurchors Skagit Valley Chorale zu einer Probe. Zu diesem Zeitpunkt gab es in der Region Skagit Valley keinen bekannten Fall von Covid-19. Die örtliche Gesundheitsbehörde riet Menschen über 60 Jahren aber, von der Teilnahme an größeren Veranstaltungen abzusehen. Trotz der scheinbar geringen Infektionsgefahr hatte der Chorleiter seine Sängerinnen und Sänger auch dazu aufgerufen, nicht zu kommen, falls sie Symptome einer Erkältung hatten. Dieser Bitte waren alle anwesenden Chormitglieder nachgekommen. Bis auf eines.

In den Tagen nach der Probe wurde ein Teilnehmer nach dem anderen krank. PCR-Tests bestätigten den Verdacht: Sie alle hatten sich bei jenem einen Sänger mit Covid-19 angesteckt. Am Ende, so ein Bericht der amerikanischen Seuchenschutzbehörde CDC, waren insgesamt 53 der 61 Sänger erkrankt, drei mussten ins Krankenhaus, zwei starben. Der Bericht der CDC kommt zu dem Schluss, dass Tröpfchen- und Schmierinfektionen wahrscheinliche Infektionswege waren, da manche Sänger nahe beieinandergesessen, sich Snacks geteilt und am Ende der Probe gemeinsam Stühle gestapelt hatten. Zwar könne auch das Singen eine Rolle gespielt haben, heißt es: »Gewisse Personen, manchmal als Superspreader bezeichnet«, würden schließlich mehr Aerosolpartikel abgeben als andere. Doch insgesamt scheint diese Hypothese im Bericht der CDC ein Nebenschauplatz zu sein.

Die Evidenz für Aerosole

Ein etwas anderes Bild zeichnet eine unabhängige Analyse, die ein internationales Forscherteam am 15. Juni im Fachjournal »Indoor Air« veröffentlichte. Die Teilnehmer seien allesamt dazu aufgefordert gewesen, sich nicht die Hände zu geben, sich nicht zu umarmen und sich die Hände zu desinfizieren. Die Verteilung der Infektionen im Proberaum durch direkte Übertragung sei vor diesem Hintergrund nicht plausibel. Mit 7 Grad Celsius sei es draußen so kalt gewesen, dass während der zweieinhalbstündigen Probe alle Türen und Fenster geschlossen waren. Die Autoren kommen daher zu dem Schluss: »Die Inhalation von respiratorischem Aerosol dominierte höchstwahrscheinlich die Infektionsübertragung während dieses Ereignisses.«

»Das widerspricht einem alten medizinischen Dogma« sagt Professor Lidia Morawska. Die Direktorin des Internationalen Labors für Luftqualität und Gesundheit an der Queensland University of Technology in Brisbane, Australien, hat die besagte Analyse mit verfasst. »Das alte Dogma lautet: Abstand halten reicht, um sich zu schützen«, sagt Morawska. Diese Vorstellung gehe auf Studien in den 1930er und 1940er Jahren zurück, die zeigten, dass große Tröpfchen beim Husten oder Niesen sofort zu Boden fallen. »Noch heute sind manche Mediziner felsenfest davon überzeugt, dass eine Aerosolübertragung von Viren unmöglich sei«, sagt Morawska. Das sei auch der Grund, warum die WHO 1,5 Meter Abstand für ausreichend halte.

Wie entwickelt sich die Pandemie? Welche Varianten sind warum Besorgnis erregend? Und wie wirksam sind die verfügbaren Impfstoffe? Mehr zum Thema »Wie das Coronavirus die Welt verändert« finden Sie auf unserer Schwerpunktseite. Die weltweite Berichterstattung von »Scientific American«, »Spektrum der Wissenschaft« und anderen internationalen Ausgaben haben wir zudem auf einer Seite zusammengefasst.

Tatsächlich mehren sich seit einigen Jahren die Anhaltspunkte dafür, dass die Aerosolübertragung bei der Ausbreitung von Atemwegserkrankungen wichtiger ist als gedacht. Beim Atmen, Sprechen, Singen, Grölen oder Schreien stoßen wir Speicheltröpfchen verschiedener Größe aus. Eine Studie aus dem Jahr 2010 im »Journal of Aerosol Science« berichtete etwa, dass Tröpfchen, die beim Atmen allein erzeugt werden, zwischen 0,01 und 2 Mikrometer groß sind. Zum Vergleich: Die feinsten menschlichen Haare haben einen Durchmesser von etwa 17 Mikrometern, eine menschliche rote Blutzelle ist 6 bis 8 Mikrometer groß. Einer Studie im Journal »Nature Scientific Reports« aus dem Jahr 2019 zufolge sind Aerosolpartikel, die beim Sprechen der Silbe /a/ ausgestoßen werden, im Mittel zirka einen Mikrometer groß, wobei ihre Anzahl mit der Lautstärke steigt.

Die Wege der Tröpfchen

Forscher von der Universität Amsterdam berichteten im Mai 2020 in einem Kommentar im Journal »Lancet Respiratory Medicine«, dass beim Sprechen und Husten zwei verschiedene Arten von Tröpfchen ausgestoßen werden: große mit 100 bis 1000 Mikrometern beim Husten und kleine mit ein bis zehn Mikrometern. Die großen Tropfen fallen demnach bei einer Fluggeschwindigkeit von zwei bis sieben Metern pro Sekunde innerhalb einer Sekunde zu Boden. Die kleinen Tröpfchen, jene mit einem Durchmesser um die fünf Mikrometer, werden deutlich häufiger ausgestoßen und brauchen aus Sprechhöhe bis zu neun Minuten, um den Boden zu erreichen.

Dass Sars-Cov-2 in solchen Aerosoltröpfchen überleben kann, legt eine Studie nahe, die am 22. Juni im Journal »Emerging Microbes & Infections« erschien. Die Autorinnen und Autoren vom Defense Science and Technology Laboratory des britischen Verteidigungsministeriums hatten Aerosol aus künstlichem Speichel oder Zellkulturmedium mit Tröpfchengrößen von ein bis drei Mikrometer Durchmesser hergestellt — mit konzentriertem Sars-CoV-2-Virus als Fracht. In einer dunklen Aerosolkammer konnten sie »lebensfähiges« Virus bei hoher und bei niedriger relativer Luftfeuchtigkeit noch nach 90 Minuten nachweisen. Bereits im April hatte eine Studie im »New England Journal of Medicine« Ähnliches berichtet: dass Sars-CoV-2 in Aerosolen von fünf Mikrometer Größe für mindestens drei Stunden überleben kann.

»Aerosolübertragung ist die einzige logische Erklärung für solche Infektionsgeschehen«Lidia Morawska

Derartige Erkenntnisse über das Verhalten von Aersosolen und darin transportierten Viruspartikeln zeigen, dass Aerosolübertragung zumindest ein plausibler Infektionsweg ist. Zwar ist nicht klar, wie hoch die infektiöse Dosis von Sars-Cov-2 ist, wie viel infektiöses Aerosol man also einatmen muss, um sich anzustecken. Superspreader-Events wie beim Chor aus Skagit Valley oder auch in einem Restaurant in der chinesischen Stadt Guangzhou zu Beginn der Pandemie sprechen aber dafür, dass die Infektionswahrscheinlichkeit mit der Konzentration infektiösen Aerosols im Raum steigt und mit der Zeitspanne, während derer sich Menschen in einem solchen Aerosol aufhalten.

»Aerosolübertragung ist die einzige logische Erklärung für solche Infektionsgeschehen«, sagt Morawska. Dennoch habe es für die Erforschung der exakten Mechanismen bei dieser Art der Übertragung bisher kaum Forschungsgelder gegeben. Entsprechend wenig sei über das notwendige Maß an Schutz bekannt. Qualitativ könne man jedoch sagen, dass es beim Schutz vor Aerosolübertragung vor allem um die Verdünnung ausgeatmeter Aerosole gehe und darum, die Verweildauer in aerosolschwangerer Luft zu verkürzen.

Was tun gegen Aerosole?

Dass Lüften dabei eine deutliche Wirkung erzielen kann, zeigt die oben zitierte Studie aus Amsterdam. Die Zahl der mit einem Aerosolgenerator erzeugten Tröpfchen von fünf Mikrometer Größe halbierte sich in einem zusätzlichen Experiment in einem gut belüfteten Raum nach nur 30 Sekunden. In einem schlecht belüfteten Raum dauerte es schon 1,4 Minuten, in einem Raum ganz ohne Belüftung ganze fünf Minuten.

Um den Verdünnungseffekt des Lüftens zu nutzen, braucht es also sinnvolle Lüftungskonzepte. Es wäre nicht sinnvoll, wenn in einer Schule die Haupttüren geöffnet, die Korridore also »gut belüftet« sind, alle Schüler aber durch die Zugluft im Eingang laufen. Welche konkreten Lösungen es für die Gebäudelüftung gibt, haben Morawska und 35 ihrer Kollegen in einem Artikel im Journal »Environment International« vom Mai 2020 dargelegt. Darin geht es vor allem darum, Umluft-Ventilation zu vermeiden, die Ventilationsrate zu erhöhen, die Luft nach oben abzusaugen statt zu den Seiten und zugeführte Luft ausreichend zu filtern.

Doch es gibt noch andere Wege, die Aerosolkonzentration in der Luft zu senken: mit den guten, alten Gesichtsmasken. »Abstand halten, lüften und Maske tragen haben alle denselben Effekt, die Aerosolpartikelbelastung in der Atemluft gering zu halten«, sagt Professor Ulrich Pöschl vom Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz. »Gesichtsmasken können große Tropfen, wie sie beim Niesen und Husten entstehen, beim Ausatmen und beim Einatmen fast vollständig zurückhalten«, sagt Pöschl. »Zwar kann ein Teil der Partikel im Mikrometerbereich um den Maskenrand herum ein- oder ausgeatmet werden.« In jedem Fall gebe es aber auch mit einfachen Stoffmasken einen signifikanten Schutz, da ein Teil der Partikel von der Maske abgefangen wird.

Abstand, Lüften, Maske

Einen Vergleich der Effizienz verschiedener Stofftypen hat das Max-Planck-Institut für Chemie in einer bisher nicht begutachteten Untersuchung veröffentlicht und deutliche Unterschiede festgestellt. Klar ist: Unmittelbar nach dem Ausatmen beginnen Aerosolpartikel auszutrocknen. Je trockener die Umgebungsluft, desto schneller und stärker ist dieser Effekt. Dabei verringern die Tröpfchen ihre Größe und schweben daher länger in der Luft. Es macht also Sinn, so viele von ihnen so früh wie möglich herauszufiltern und den entwischenden Rest durch Abstand und Lüften zu verdünnen.

Trotzdem ist vor allem das Lüften bei den Empfehlungen der WHO und der nationalen Gesundheitsbehörden bisher sehr kurz gekommen. Noch heißt der Dreiklang: Hände waschen, Abstand und Maske, wenn es gar nicht anders geht. Aus diesem Grund hat Pöschl zusammen mit 236 anderen Forschern einen offenen Brief unterzeichnet, den Morawska und ihr Kollege Donald Milton von der University of Maryland vor wenigen Tagen im Fachjournal »Clinical Infectious Diseases« veröffentlicht haben.

Darin rufen die Forscher die WHO und die nationalen Behörden dazu auf, die Aerosolübertragung als Infektionsweg ernst zu nehmen und entsprechende Empfehlungen für die Belüftung und Dekontamination von Gebäuden auszuarbeiten. Nach der Berichterstattung über den Brief in der »New York Times« hat die WHO nun angekündigt, ihre Empfehlungen zu prüfen und gegebenenfalls zu überarbeiten.

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