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Übertriebene Ode

Chemie ist etwas Wunderbares, versuchen zwei Autoren zu vermitteln – und schießen dabei übers Ziel hinaus.

Chemie, das ist eigentlich alles um uns herum, auch die Natur. Daher beklagen der Chemiker Nuno Maulide und die Wissenschaftsjournalistin Tanja Traxler das einseitige und negative Image, das der Chemie anhaftet. Also berichten sie in ihrem Buch über positive Aspekte des Fachs. Chemie, schreiben sie, helfe, unsere globalen Probleme zu lösen wie den Klimawandel, die Ernährung der Weltbevölkerung und die wachsenden Müllberge, und sie ermögliche die Entwicklung von Medikamenten.

Das Buch wendet sich an Menschen, die bislang mit Chemie nicht so viel am Hut hatten. Also beißt Maulide zunächst sinnbildlich in einen Apfel und will mit der Aufzählung von dessen Inhaltsstoffen wie Riboflavin, Ascorbinsäure, Phosphor und Chlor die Angst vor Chemie mindern. Denn diese Stoffe sind alle natürlich. Chemie ist halt ebenso in den »Himbeeren aus Omas Garten« wie in der Tiefkühlpizza. Und die Aromastoffe in dem Fertiggericht seien schließlich »nachweislich gesundheitlich unbedenklich«, auch wenn sie künstlich genannt werden. Ob die Autoren damit ihr Ziel erreichen, den Menschen die »Furcht vor dem Falschen« nehmen, ist fraglich. Zumal keine weiteren Erklärungen dazu folgen.

Plauderhafte Anreicherung

Nach dem Kapitel über Chemie im Essen folgen ausgewählte Beispiele zu den Reaktionen im menschlichen Körper, zu den Fortschritten in der Medizin, zur Ernährung der Menschheit und zur Erfindung von Plastik. Die Texte sind teils plauderhaft angereichert mit Anekdoten aus dem Leben Maulides und immer flüssig und verständlich geschrieben.

Dennoch lassen Fehler an der Sorgfalt zweifeln. So sind in einer Grafik ungesättigte Fettsäuren als gesättigte gekennzeichnet. Und anscheinend ordnen die Autoren das Verdienst des Chirurgen Ignaz Philipp Semmelweis nicht ganz richtig ein. Dieser habe laut den Autoren die Kindersterblichkeit verringert. Tatsächlich hatte er mit seinen Hygienemaßnahmen die Häufigkeit des Kindbettfiebers gesenkt und damit im Wesentlichen das Leben von Wöchnerinnen gerettet.

Ob es hilft, in ständiger Wiederholung die Begeisterung für Chemie zu zelebrieren, wenn Maulide immer wieder von »Faszination«, »Schönheit«, »Eleganz«, »unglaublich schöner Synthese« oder der »Genialität von chemischen Verbindungen« spricht, bleibt fraglich – ebenso, warum selbst »Make-up, Zahnpasta oder Nagellack reinste Wunderwerke der Chemie« seien.

Verwirrend ist ebenso ein Einschub Maulides über die Errungenschaften der Pharmazie, in dem er die Erfolge von Medikamenten über den grünen Klee lobt. Seltsamerweise schildert er in dem Zusammenhang, als Kind habe er Zuckerkügelchen eingenommen und der Glaube daran habe geheilt. Auch wenn er damals nur an kleinen Wehwehchen gelitten habe, zeige dies, dass der Placeboeffekt funktioniere – was wissenschaftliche Studien zweifelsfrei gezeigt hätten.

Die Autoren gehen auch auf negative Aspekte ein wie die Vermüllung der Meere durch Plastik. Maulide merkt an dieser Stelle an, man dürfe diese Umweltsünden nicht den Erfindern (des Plastiks) »ankreiden«. Wenig später fordert er, künftige Innovationen sollten von dem Streben nach einer besseren Umweltverträglichkeit angetrieben werden. Und selbst wenn sein Plädoyer für eine bessere Welt glaubwürdig scheint, lässt er seine Leser zweifelnd zurück, wenn er schreibt, die Entdeckung, die er als Chemiker »ganz klar« gern gemacht hätte, sei die Herstellung von Polyethylen.

Leider verweist das Autorenduo nur selten auf Primärliteratur, stattdessen auf knapp 20 ähnliche, meist ältere Sachbücher. So stammt die inzwischen veraltete positive Meldung über das sich schließende Ozonloch aus einem Buch von 2017. Aber schon seit fast zwei Jahren ist bekannt, dass neue FCKW-Quellen, vermutlich in China, diese Fortschritte in Frage stellen.

Merkwürdig erscheint auch die Buchpassage über den Klimawandel. Die Autoren führen hier das Pferdemistproblem an, das die Menschen am Ende des 19. Jahrhunderts beschäftigte. Damals befürchteten Stadtplaner, die Städte würden im Mist untergehen. Selbst Wissenschaftler sahen damals keine Lösung dafür. Doch mit der bahnbrechenden Erfindung des Automobils hatte sich die Frage erübrigt. Manchmal, schließen die Autoren daraus, erledigen sich Herausforderungen von selbst. Zwar bemerken sie anschließend, es brauche zur Bewältigung des Klimawandels wohl mehrere bahnbrechende Entwicklungen, aber der Sinn dieses Vergleichs erschließt sich nicht ganz.

Eine dieser bahnbrechenden Neuerungen könnte laut Maulide die künstliche Fotosynthese sein. Seine Idealvorstellung ist ein PKW, der im laufenden Betrieb mittels Sonnenenergie Wasserstoff durch Spaltung erzeugt und somit während der Fahrt seinen Treibstoff herstellt. Doch warum genau das jetzt wichtig und bedeutsam wäre, bleibt unbeantwortet: Weder gehen reihenweise Wasserstoffautos in die Luft noch würde dieses Konzept bei schlechtem Wetter oder gar nachts funktionieren.

Ob der Band, der die Chemie in den Himmel lobt, dazu beiträgt, die Skepsis gegen künstliche Stoffe zu verringern, bleibt fraglich. Denn nicht nur Schneewittchen im Märchen weiß, dass auch ein Apfel ungesund sein kann, wenn er die falschen Stoffe enthält.

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