Direkt zum Inhalt

»Mein größtes Rätsel bin ich selbst«: Den Kontakt zu sich selbst wiederfinden

Cécile Loetz und Jakob Müller schildern vier psychoanalytische Fallgeschichten eindrücklich und einfühlsam. Dabei blicken sie tief in seelische Abgründe.
Schmerz als ständiger Begleiter

Konrad weiß nicht, was mit ihm los ist. Wie ein Schleier legt sich eine undurchdringliche Gefühllosigkeit über sein Leben, obwohl oberflächlich betrachtet alles in Ordnung scheint. Maike dagegen bekommt »nichts gebacken«, wie sie sagt. Sie schiebt jede Entscheidung auf die lange Bank, bis sie sich schuldig fühlt.

Dann ist da Aliya, die Mutter des sechsjährigen Shadi. Die beiden sind vor dem Krieg in Syrien geflohen. Doch der Kleine ist verschlossen und spricht kaum, während seine Mutter in Deutschland ein neues Leben beginnen will. Und schließlich ist da Tom, der »Alpha-Mann« mit Größenfantasien, der die Menschen, die er liebt, demütigt und drangsaliert – insgeheim aber selbst unter seinem Verhalten leidet.

Das sind die Fallgeschichten im Buch der Psychoanalytiker Cécile Loetz und Jakob Müller. Alle vier Behandlungen dauern mehrere Jahre, denn wie es in der Einleitung heißt: »vermeintlich schnelle Lösungen sind oft nicht nachhaltig«. Am Anfang der therapeutischen Arbeit geht es darum, Vertrauen und eine Beziehung aufzubauen und die Widerstände der Patienten zu »bearbeiten«. Denn in gewisser Weise haben alle, selbst der Junge, zumindest eine Ahnung davon, was mit ihnen los ist. Doch sind sie im Wiederholungszwang ihrer eigenen Traumata gefangen.

Die Geschichten hinter den psychischen Symptomen

So rätselhaft, wie sie auf den ersten Blick erscheinen, sind die Geschichten der vier Menschen jedoch nicht. Alle haben seelische Deformationen. Als Konrad klein war, litt seine Mutter an Depressionen. Ihr plötzlicher Tod war vermutlich ein Suizid, nur sprach damals niemand darüber, schon gar nicht gegenüber einem Kind. Der Vater, ein Lkw-Fahrer, war entweder fort oder desinteressiert. Das Gefühl der Verlassenheit überstand Konrad nur, indem er sich emotional abkapselte.

Maikes Eltern wiederum pflegen eine so symbiotische Beziehung zur Tochter, dass diese noch als Studentin nichts ohne Rücksprache und Unterstützung tut. Ihr ist das zwar selbst »zu eng«, aber aus der liebenden Umklammerung befreien kann sie sich auch nicht. Shadi verlor seinen Vater im Krieg und begreift den plötzlichen Verlust nicht. Und Tom wurde als Kind geprügelt und erniedrigt. Nie war er gut genug – bis er sich selbst nur noch als »Ekelschleim« empfand. Diese gefühlte Minderwertigkeit kompensiert er auf ähnliche Weise wie seine Eltern.

Die Beispiele zeigen, dass psychische Symptome häufig Strategien sind, die den Betroffenen helfen, irgendwie mit dem Erlittenen zurechtzukommen. Das erklärt umgekehrt zugleich, warum es nicht so einfach ist, sie abzustreifen: Therapie tut weh, hebelt die eigene seelische Abwehr aus, was Krisen, Trauer und Selbstzweifel auslösen kann. Doch nur so gelingt es den Psychoanalytikern zufolge, zu Lebendigkeit und zum Kontakt mit den eigenen Gefühlen zurückzufinden. »Trost und Befreiung gewährt letztlich vielleicht nur die integrative Kraft des Verstehens: was eigentlich geschehen ist und warum«, heißt es gegen Ende des Buchs.

Die Fallgeschichten sind aufschlussreich und wohl auch ein wenig idealisiert

In die einfühlsam erzählten Schickale sind immer wieder Exkurse zu psychoanalytischen Grundbegriffen eingeflochten. So lernt man, was es mit Konzepten wie Übertragung, Gegenübertragung, Containment (emotionales »Auffangen«), Projektion und Regression auf sich hat. Insgesamt stehen aber nicht die Begriffe, sondern die Menschen im Vordergrund.

Verwirrend ist nur, dass die vier Fälle jeweils in der Ich-Form von unterschiedlichen Therapeutinnen und Therapeuten erzählt werden, die mindestens zum Teil offensichtlich nicht mit Loetz und Müller identisch sind. Die Schilderungen tauchen dabei tief ein in die Gefühlswelt von Behandlern und Behandelten ein, in deren Rollen die Autoren schlüpfen. Diese Fiktionalisierung dient zwar dem Schutz der so anonymisierten Patienten, lässt jedoch zugleich vermuten, dass die Darstellungen idealisiert, ja womöglich inszeniert sind. Loetz und Müller schildern Konstellationen, die sich so zugetragen haben könnten – schöne Geschichten von Einsicht und Heilung, deren dokumentarischen Gehalt man nicht überschätzen sollte.

Diese Methode hat in der psychoanalytischen Literatur eine lange Tradition: Bereits Sigmund Freud beschrieb die klassischen Fälle vom »kleinen Hans« oder dem »Wolfsmann« in novellenhaften Erzählungen, in denen sich Realität und Idealisierung im Sinn der eigenen Sache vermischten. Das tut der Kraft der Texte von Loetz und Müller zwar keinen Abbruch; nur sind sie vermutlich weniger authentisch, als es den Anschein hat.

»Mein größtes Rätsel bin ich selbst« ist ein lesenswertes, aufschlussreiches Buch, das tief in vier seelische Abgründe blickt – und sich dabei auch fiktionaler Elemente bedient.

Kennen Sie schon …

Gehirn&Geist – Verbrechen: Die Psychologie des Bösen

Warum faszinieren wahre Verbrechen? True Crime ist ein Spiegel unserer psychologischen Neugier: Was macht Menschen zu Tätern – und wie gelingt es Ermittlern, die Wahrheit ans Licht zu bringen? In dieser Ausgabe geht es um die Kräfte, die Menschen in den Abgrund treiben oder zurückholen. Wir zeigen, warum Rache selten Frieden bringt, wie gefährliche Häftlinge in Sicherungsverwahrung leben, was das Stockholm-Syndrom über Überlebensstrategien verrät und mehr.

Gehirn&Geist – Multiple Persönlichkeit: Was hinter der dissoziativen Identitätsstörung steckt

Manche Menschen scheinen verschiedene Ichs in sich zu tragen, die im Wechsel die Kontrolle über den Körper übernehmen – mit jeweils eigenem Alter, Namen und Geschlecht. Unsere Experten, die zu dissoziativen Phänomenen forschen, stellen die wichtigsten Fakten zur »Multiplen Persönlichkeit« vor. Ergänzend dazu geht die Psychologin Amelie Möhring-Geisler der Frage nach, ob rituelle Gewalt in der Kindheit gezielt Persönlichkeitsspaltungen herbeiführt. In dieser Ausgabe beginnt zudem eine neue Artikelserie zum Thema »Long Covid und ME/CFS«. Im Interview spricht Carmen Scheibenbogen von der Berliner Charité über Ursachen von ME/CFS, den Versorgungsmangel in Deutschland und Hoffnung auf Medikamente. Darüber hinaus berichten wir über das Glücksparadox, das besagt: Je mehr wir dem Glück hinterherjagen, desto weiter entfernt es sich. Wir stellen das Thema psychotherapeutische Patientenverfügung vor, die im psychischen Krisenfall eine große Hilfe sein kann, sowie die noch immer rätselhafte Schmerzerkrankung Fibromyalgie, über deren Ursachen noch viel spekuliert wird.

Spektrum Kompakt – Das Unbewusste

Viele unserer Denkprozesse laufen auf Autopilot ab. Untersucht wurden sie schon von Sigmund Freud, C. G. Jung und Alfred Adler. Heute arbeitet man daran, das Zusammenspiel von Unbewusstem und Bewusstem neuronal sichtbar zu machen oder psychische Abwehrmechanismen durch bestimmte Tests zu ergründen.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.