Direkt zum Inhalt

Keine Menschen mehr, nur Dämonen

Vom Einsatz in Ypern bis zum syrischen Bürgerkrieg bildet dieser Band ein Jahrhundert chemischer Kriegführung ab.

Haben Wissenschaftler eine besondere Verantwortung für das, was sie tun? Sollte es nicht ihr Ziel sein, den Menschen zu dienen? Um solche Fragen kreist dieses Buch, das die Entwicklung chemischer Waffen, ihren Einsatz und die Folgen darlegt – von dem grauenhaften Einsatz 1915 im flämischen Ypern bis zu den Geschehnissen im syrischen Bürgerkrieg. Der Preis von 53,49 Euro gilt nur für die gedruckte Ausgabe; hier lässt sich das Werk kostenfrei herunterladen.

Die Beiträge darin entstanden anlässlich eines Symposiums zum 100. Jahrestag des Giftgaseinsatzes am 22. April 2015 in Ypern. Nicht ohne Grund thematisieren die Autor(inn)en immer wieder diesen Einsatz. Denn jener Tag steht für den Beginn einer Kriegführung, die dank wissenschaftlicher Präzision immer verheerender und tödlicher wurde. Die jüngsten Vorfälle in Syrien geben dem Thema eine schreckliche Aktualität.

Wegbereiter von Massenvernichtungswaffen

Gleich zu Beginn des Buchs lernen die Leser den Chemiker Fritz Haber kennen: »Ich war einer der mächtigsten Männer in Deutschland. Ich war mehr als ein bedeutender Heeresführer.« Er hatte – unter anderem wegen drohenden Schießpulvermangels in Deutschland, weil das Reich keinen Zugriff mehr auf Chilesalpeter hatte – den Einsatz von Chlorgas in Ypern vorgeschlagen. Er selbst arbeitete das Einsatzszenario aus und überzeugte sich persönlich von der tödlichen Wirkung an der Front. An seinem Beispiel zeigen die Autor(inn)en den Weg eines Wissenschaftlers hin zum aktivem Wegbereiter von Massenvernichtungswaffen. Als umtriebiger Organisator schaffte es Haber, Politiker, Generäle und Industrielle zu vereinen, um gemeinsam die Massenproduktion kriegsrelevanter Chemikalien voranzutreiben und diese einzusetzen.

Noch in der Weimarer Republik nutzte Haber den Vorwand der Schädlingsbekämpfung, um getarnt illegale militärische Forschung zu betreiben. Dennoch stellen die Autor(inn)en ihn als Menschen dar, dem immerhin die Vorstellungskraft gefehlt habe, Militärs könnten seine Waffen auch gegen die Zivilbevölkerung einsetzen. Das ist allerdings nur schwer mit dem Bild Habers in Einklang zu bringen, welches beim Lesen entsteht.

Dem Chemiker folgten allein in Deutschland mehr als 1000 weitere Wissenschaftler in die Giftgasforschung. Ein chemisches Wettrüsten, insbesondere mit Frankreich und England, setzte ein. Aussagen wie: »Cyanid – man kann nicht angenehmer sterben« (Haber) dienten als Rechtfertigung und kontrastierten mit der Wirklichkeit an der Front, über die viele Augenzeugen und Opfer berichteten. Sie lassen das damit verbundene Grauen erahnen: »Überall Flüchtende: (…) verstört, mit ausgezogenen oder weit geöffneten Röcken, abgenommener Halsbinde liefen wie wahnsinnig ins Ungewisse, verlangten laut schreiend Wasser, spuckten Blut, einige wälzten sich sogar am Boden und versuchten vergeblich, Luft zu schöpfen.« So beschrieb der französische General Henri Mordacq den Horror des ersten Chlorgas-Einsatzes im Ersten Weltkrieg. Der Soldat und Schriftsteller Ernst Jünger schrieb, er finde auf dem Schlachtfeld nur Dämonen, keine Menschen mehr. Wer einen Gasangriff überlebte, litt häufig nicht nur an den körperlichen und psychischen Schäden. Oft galt er auch als Feigling oder Simulant, wurde mit Elektroschocks behandelt oder, in der Nazizeit, zum Euthanasie-Opfer.

Facettenreiche Darstellung

Eine Stärke des Buchs sind die vielen Perspektiven, unter denen die fast 20 Autoren und Autorinnen sowie fünf Herausgeber das Thema angehen. So widmet sich ein Kapitel der Frage, ob Habers Frau, die Chemikerin Clara Immerwahr, den Freitod wählte, weil sie das Engagement ihres Mannes nicht mehr ertrug, oder ob dies ein Mythos von Friedensaktivisten sei. Ein anderer Abschnitt zeigt auf, wie die Schrecken des Gaskriegs in der zeitgenössischen Literatur und Malerei verarbeitet wurden.

Der Band lässt auch die Schreibtischtäter nicht aus, die akribisch die Ergebnisse von Menschenversuchen dokumentierten. Sie führten beispielsweise Tabellen von groß angelegten Giftgasstudien an Soldaten und KZ-Häftlingen. So mussten in Neuengamme 1944 in der so genannten Schonbaracke 150 Menschen den »Tau des Todes« trinken – ein mit Lewisit versetztes Wasser, das als chlorhaltige organische Arsenverbindung die Wirkung von Senfgas weit übertreffen sollte. An anderer Stelle ist die Rede von 10 000 Versuchsopfern. Auch Senfgas selbst wurde »mit positivem Ergebnis« getestet. Diese mörderischen Experimente fanden nicht im Verborgenen statt. In riesigen Kommunikationsnetzwerken wurden Ressourcen angefordert, Ergebnisse ausgewertet und zwischen Militärs, Wissenschaftlern, Medizinern und Beamten ausgetauscht. Ein immenser Aufwand, mit dem die Entwicklung und Erprobung dieser Kampfstoffe vorangetrieben wurde, wie sich bei der Lektüre deutlich herausschält. Originaldokumente, eine Fülle an Hintergrund- und Detailwissen – wie abgerechnete Kosten für Reisen in Konzentrationslager – vermitteln ein ebenso umfassendes wie erschütterndes Bild.

Obwohl in Englisch, ist das Buch gut verständlich, auch ohne tiefere chemische Vorkenntnisse. Zwei Drittel des Werks nehmen Ereignisse im und nach dem Ersten Weltkrieg ein und beleuchten, wie sich die Symbiose zwischen Wissenschaft und Industrie im Dienst der Militärforschung verfestigte. Aktuellere Geschehnisse im syrischen Bürgerkrieg, in Vietnam durch die USA, im Irak durch Saddam Hussein oder in Form der japanischen Giftgaseinsätze gegen China werden leider nur knapp thematisiert.

Der Sammelband beginnt und endet mit einem Plädoyer, sich dafür einzusetzen, dass so etwas nicht wieder passiert. Und sich dessen bewusst zu sein, welchen Schrecken die chemische Kriegführung mit Hilfe der Wissenschaft in die Welt gesetzt hat.

Kennen Sie schon …

Spektrum - Die Woche – Wie ich atme, so fühle ich

Ganz unbemerkt atmen wir täglich zirka 20.000-mal ein und wieder aus. Dabei ist das, was währenddessen in unserem Körper passiert, alles andere als banal. Und wird sogar von unserem Gemüt beeinflusst. Lesen Sie in der aktuellen »Woche«, wie die Teamarbeit von Hirn und Lunge gelingt.

Spektrum - Die Woche – Welche Psychotherapie passt zu mir?

Studien zufolge erkrankt jeder fünfte bis sechste Erwachsene mindestens einmal in seinem Leben an einer Depression. Doch wie finden Betroffene eine Therapie, die zu ihnen passt? Außerdem in dieser Ausgabe: Kolumbiens kolossales Problem, der Umgang mit Polykrisen und die Übermacht der Eins.

Spektrum - Die Woche – Die Scham ums Haar

Vor etwa 100 Jahren begann der Kampf gegen weibliches Körperhaar. Sogar ein medizinischer Begriff wurde für Behaarung, die nicht den Schönheitsidealen entsprach, eingeführt. Die Kulturgeschichte der Körperbehaarung ist Thema der aktuellen »Woche«. Außerdem: neue Erkenntnisse aus der Schlafforschung.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.