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Der unsichtbare Patient

»Schäm dich!«, ermahnen Eltern ihr Kind, wenn es etwas Unerlaubtes tut – und fordern es damit indirekt auf, sich an bestimmte soziale Regeln zu halten. Nur zu seinem eigenen Besten natürlich: Der kleine Mensch soll schließlich lernen, sich in die Gemeinschaft zu integrieren. Dass wir Scham- und Schuldgefühle empfinden, wird uns früh anerzogen – und ist auch durchaus nützlich.

Wer jedoch beim kleinsten Anlass fürchtet, von anderen abgelehnt zu werden, leidet womöglich an einer Persönlichkeitsstörung. Er wird die Freude an sozialen Beziehungen zunehmend verlieren und sich immer mehr zurückziehen. John Steiner, Lehranalytiker der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft, widmet sich in seinem neuen Buch »Narzisstische Einbrüche« Menschen mit genau diesen pathologischen Merkmalen. Der Autor, der nach langjähriger klinischer Tätigkeit nun in einer eigenen Praxis arbeitet, schildert in sechs Aufsätzen die Auseinandersetzung mit Schamgefühlen bei seinen Patienten – und bei sich selbst.

Gemäß seiner Theorie der »seelischen Rückzugsorte« beschreibt der Analytiker, wie sich die Betroffenen vor jedem Kontakt verschließen. Nur so können sie die Konfrontation mit ihren Schamgefühlen vermeiden. Klein, verletzlich und hilflos kauern die Patienten hinter einer scheinbar grandiosen Fassade. Freunden wie Therapeuten machen sie es schwer, an sie heranzukommen. Steiner versucht, das Verhalten dieser Menschen zu analysieren und damit nachvollziehbar zu machen. Doch obwohl er Fallbeispiele schildert und Therapiestunden detailgetreu beschreibt, bleiben seine Aufsätze zumeist trocken und theoretisch.

Die Betroffenen haben beispielsweise keinen Namen, heißen einfach »der Patient«. Selten kristallisieren sich für den Leser greifbare Charaktere heraus. Auch erfahren wir nicht, wie sich die Persönlichkeit der Betroffenen langfristig entwickelt und wie sich Steiners Bemühungen auswirken. Dennoch ist sein Werk ein wichtiges Buch, das schon im Titel ein elementares Lebensthema benennt: Sehen und Gesehenwerden. Schließlich hat jeder Mensch den tief verwurzelten Wunsch, als derjenige erkannt zu werden, der er wirklich ist. Dieses Anliegen bringt jedoch die Gefahr mit sich, Spott und Neid zu erleben.

Narzissten haben genau davor Angst und erleben die Welt am liebsten aus ihrem sicheren Versteck heraus. Das Dilemma: Wer sich zurückzieht, bekommt kein Feed-back. Außerdem haben die Betroffenen selbst nur einen sehr eingeschränkten Blickwinkel auf ihre Umgebung. Erst wenn sie aus ihrem Schneckenhaus kriechen, ist eine Weiterentwicklung möglich.

Steiners Aufsätze sind reich an klugen Gedanken und interessanten Einblicken. So erfährt der Leser, wie der Therapeut darum ringt, einen Zugang zu seinen oftmals verschlossenen Patienten zu finden. Der Autor selbst aber bleibt hinter seinen Theorien verborgen. »Liebe ist das probateste Mittel, um das Schamgefühl zu überwinden«, hat Sigmund Freud einmal gesagt. Etwas mehr Liebe und Leidenschaft hätten sicher auch Steiners Texten gut getan.

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  • Quellen
Gehirn und Geist 7–8/2006

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