Direkt zum Inhalt

Vom sowjetischen Lager bis in den sächsischen Landtag

Cornelius Weiss, geboren 1933 in Berlin, hat ein überaus ereignisreiches Leben hinter sich. In der Öffentlichkeit bekannt wurde er als Rektor der Universität Leipzig von 1991 bis 1997. Aber die interessanteren Teile seiner Autobiografie beziehen sich auf die Zeit davor.

In Biesdorf, einer beschaulichen Arbeitersiedlung am Stadtrand Berlins, erlebt Cornelius Weiss eine glückliche Kindheit. Der Älteste von drei Geschwistern genießt eine strenge religiöse und musische Erziehung. Obwohl sein Vater neben seiner Stelle als Wissenschaftler am Physikalisch-Technischen Reichsinstitut noch zwei weitere Lehrtätigkeiten ausübt, um die fünfköpfige Familie zu ernähren und das Haus abzubezahlen, beschreibt Weiss diese Lebensphase als die "wahrscheinlich einzig glückliche Zeit" seiner Eltern. Den Freundeskreis eint die Liebe zur Musik ebenso wie die Abneigung gegen den Nationalsozialismus; der Knabe macht seine ersten wissenschaftlichen Gehversuche, indem er Pflanzen fürs Herbarium in den literarischen Klassikern der Eltern presst und trocknet. Die werden davon zwar feucht und wellig, aber es gibt keinen Ärger – "so oft schauten sie halt auch nicht in ihre Klassiker".

Bereits in den Monaten vor Kriegsbeginn spürt der damals Sechsjährige die Unruhe und Beklommenheit der Eltern, sieht, wie sie Vorräte anlegen, und nimmt in der Schule an Luftschutzübungen teil. Noch heute, so schreibt er, jagen ihm Sirenen – egal ob real oder im Fernsehen – einen kalten Schauer über den Rücken und erinnern ihn an die nächtlichen Luftangriffe in seiner Kindheit.

Weiss schildert seine Eindrücke vom Krieg auf erschütternd ehrliche Weise: wie er mit den Nachbarskindern nach der Schule im Bombenkrater spielt und Granatsplitter sammelt und sich bei dem zerstörten Haus auf dem Schulweg fragt, wo die Bewohner jetzt leben, weil er nicht begreift, dass sie bei dem Angriff umgekommen sind. Seine kindliche Faszination für Uniformen verschweigt er ebenso wenig wie seinen Ärger darüber, dass seine Mutter ihm die Kleidung der Hitlerjugend verweigert und ihn – zum Gespött der anderen – im selbst genähten Aufzug zum Eröffnungsappell schickt.

Die Nachkriegszeit ist für den jungen Weiss hauptsächlich durch Hunger geprägt. Erschreckend und unfassbar, was die Menschen damals essen, um nicht zu verhungern. So erinnert sich Weiss daran, dass die Kinder der Nachbarn einmal mit Spiritus und Zucker bestrichene Brote aufgetischt bekamen – und zumindest an diesem Abend sicherlich gut eingeschlafen sind. Oder wie die Mutter versucht, aus Kartoffelschalen, Kaffeeersatz, Mohn und Wasser ein Knäckebrot herzustellen.

In dieser Zeit bekommt der Vater von der Sowjetunion das Angebot, zwei Jahre dort zu arbeiten. Da die zuständigen Stellen dem Angebot durch eine dreiwöchige Festungshaft bei bestem Essen Nachdruck verleihen, stimmt der Vater, nach langen Diskussionen mit seiner Frau, schließlich zu. Doch die Familie wird nicht wie vereinbart nach Moskau gebracht, sondern in ein kleines Dorf namens Obninskoje. Dort muss der Vater als "rüstungsrelevanter Forscher" zehn Jahre lang in einer abgelegenen Einrichtung arbeiten.

Trotz eingeschränkter Bewegungsfreiheit, ständiger Überwachung und Zensur der Briefe in die Heimat hat Weiss hauptsächlich positive Erinnerungen an die Zeit im sowjetischen Lager. Den Jugendlichen fehlt es an nichts. Sie fühlten sich wohl wie Kaninchen im Käfig, die das Leben in freier Wildbahn nicht kennen. Den Erwachsenen dagegen hilft ihr Zusammenhalt gegen die Verzweiflung. Sie organisieren Sportveranstaltungen, Musik- und Spieleabende oder Theaterstücke. Laut Weiss kann man die damals selbst gebauten Sportplätze noch heute bei Google Maps erkennen.

Die Zeit des Chemiestudiums in Minsk erlebt Weiss in relativer Freiheit, obwohl er keinen Pass, sondern nur ein "Visum zum Wohnen" bekommt. Seine Familie wird indessen in "Quarantäne" ans Schwarze Meer umgesiedelt, eine Vorsichtsmaßnahme der Regierung, damit nicht zu viel aktuelles Forschungswissen ins Ausland gelangt.

1955 kehrt die Familie schließlich zurück nach Deutschland und zieht nach Leipzig, wo Cornelius Weiss sein Chemiestudium beendet. Nach Abschluss der Promotion 1964 wird er zunächst Dozent, später Professor und 1991 schließlich Rektor der Universität Leipzig. Amüsant beschreibt er, wie der Amtsantritt einem Sprung ins kalte Wasser gleicht. Aber er hat ein fähiges Team um sich, das ihm die universitären Strukturen und Abläufe nahebringt und seine chaotische Arbeitsweise in geordnete Bahnen lenkt.

Im Vergleich zu den ersten Kapiteln lässt dieser Teil des Buchs stark nach. Interessante Einblicke und Hintergründe zu den Umbrüchen in der DDR lassen den Leser zwar darüber hinwegsehen, dass Weiss stellenweise einen leicht arroganten Ton anschlägt. So zum Beispiel, als er seine Rede vor der Wahl zum Direktor beschreibt, bei der das Publikum "fast atemlos" zuhört und seine Worte mit Zwischenapplaus honoriert.

Nach seiner Emeritierung 1999 beginnt Weiss eine späte politische Karriere als SPD-Abgeordneter im sächsischen Landtag. Ab hier wird das Buch immer langweiliger zu lesen. Während Weiss sich mehrfach wiederholt und über seine ehemaligen Kollegen im politischen Betrieb lästert, geht dem Leser der rote Faden verloren. Schade, denn bis auf diese letzten Seiten bietet das Buch wirklich ein großes Lesevergnügen: zeitgeschichtliche Informationen aus erster Hand und faszinierende Hintergründe zur Nachkriegszeit aus einer ungewöhnlichen Perspektive, erzählt in amüsanten, packenden und ernsten Episoden.

Dieses Buch ist keine Autobiografie von Cornelius Weiss, sondern vielmehr die Biografie der Familie Weiss aus Sicht des ältesten Sohns. Hätte Weiss das bis zum Ende durchgezogen, wäre das Buch noch gelungener. Trotzdem: definitiv lesenswert!

Schreiben Sie uns!

1 Beitrag anzeigen

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 3/2013

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.