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Wer ist der höchste im Land?

Seit jeher hat der Mensch, vor allem der deutsche, eine intensive emotionale Beziehung zu Baum und Wald, ganz zu schweigen von der wirtschaftlichen Bedeutung des Holzes und in jüngerer Zeit den Sorgen um die Gesundheit des Waldes und die Klimaerwärmung. Entsprechend herrscht an Büchern über den Baum kein Mangel.

Aus dieser Vielfalt ragt das vorliegende Werk in Tiefe und Reichhaltigkeit des vermittelten Wissens weit hinaus. Dietrich Böhlmann, emeritierter Botanikprofessor der Technischen Universität Berlin, hat ein kompaktes Vademecum für Baumfreunde und -freundinnen geschaffen. Dank seinem Rocktaschenformat – dessen Kleindruck älteren Augen durchaus zu schaffen macht – könnte man es ohne Weiteres auf eine Exkursion mitnehmen; aber es ist kein Bestimmungsbuch und kein Nachschlagewerk. Es ist nicht alphabetisch gegliedert und enthält kein Register. Inhaltlich ist es dagegen fast ein Lehrbuch.

Das ausführliche Inhaltsverzeichnis listet zahlreiche Abschnitte auf, deren Überschriften teilweise als Aussagen oder Fragen formuliert sind: "Blätter können durch Metamorphose zu Dornen werden" oder "Wie orientieren sich die Wurzeln im Boden?". Wer eine konkrete Frage an das Buch hat, muss eine gewisse Sachkenntnis mitbringen – oder stößt beim Suchen auf so viel Neues und Interessantes, dass sich ein Umweg gelohnt hat.

Ironischerweise ist auf diese Art gerade die Antwort auf die im Buchtitel aufgeworfene Frage nur schwer zu finden. Man muss dazu wissen, dass für die Höhe eines Baums der Wassertransport der begrenzende Faktor ist und dass dieser in der Wurzel beginnt. Dann erfährt man, dass der Baum den ihm von der Physik her möglichen Spielraum fast maximal ausnutzt.

Das Buch handelt vom gesunden Baum. Der Einbezug der Pathologie verbot sich schon aus Gründen des Umfangs.

Die großen Kapitel behandeln Stamm und Krone, innere Zellstruktur, Wurzel, Blätter, Fortpflanzung und Vermehrung. Dann geht der Verfasser auf 17 Seiten mit 21 Abbildungen auf den Zerfall von Laub und Holz im Kreislaufgeschehen ein. An diesem ökologisch besonders wichtigen Vorgang sei gezeigt, wie intensiv Böhlmann sich einem solchen Thema widmet:

Im Herbst werden wichtige Inhaltsstoffe der Blätter mobilisiert und in den Stamm und die Zweige zurückgezogen, wo sie über den Winter gelagert werden. Es handelt sich um Kohlehydrate, Aminosäuren und wichtige Nährelemente, die im Boden knapp sind. Für den Rückzug des Magnesiums muss das grüne Chlorophyll zerlegt werden, was dem Herbstlaub die nach Baumart verschiedene typische Farbe gibt.

Gleichzeitig lagert der Baum nicht benötigte Stoffwechselprodukte in das bald abfallende Blatt aus. Nun wird im Blattstiel eine Trennzone gebildet, die durch Enzyme aufgeweicht wird. Gegen den Zweig hin entsteht eine Schutzschicht, die nach dem Blattabfall Schadpilzen den Weg ins Holz versperrt.

Am Boden wird das trockene Laub zuerst von nagenden Bodentieren angefressen. Durch die dabei entstehenden Löcher dringen bei genügender Befeuchtung Mikroorganismen ein und führen die Vermoderung des Laubs weiter. Je nach den im Blatt eingelagerten Stoffen geschieht der Abbau schneller oder langsamer. Aus der Farbe des Herbstlaubs kann also auf die Abbaugeschwindigkeit geschlossen werden.

Ähnlich eingehend werden nun der völlige Abbau und die Humus- und Bodenbildung behandelt. Dasselbe folgt für den Abbau des toten Holzes.

Als Nachspeise folgen einige Superlative zu Baumform und -alter. Wer hätte gedacht, dass unter den in Deutschland heimischen Bäumen ausgerechnet die Fichte mit 60 Metern die größte Höhe erreicht? In der zusammenfassenden Abbildung 475 wird für die Tanne eine erreichbare Höhe von 50 Metern angegeben. Ich selbst habe aber eine Tanne von 55 Metern Länge, mit Messband gemessen, liegen sehen, und Böhlmann weiß eine Tanne derselben Länge mit Standort anzugeben. Der höchste lebende Baum ist wahrscheinlich eine Douglasie in Britisch-Kolumbien und nicht eine Sequoia in Kalifornien. Und an Langlebigkeit können die riesigen Mammutbäume auf besten Standorten der Sierra Nevada vermutlich mit den vom Autor genannten Grannenkiefern mithalten. Aber wer will das mit dem Zuwachsbohrer oder (was der Himmel verhüten möge) mit der Motorsäge feststellen?

Böhlmann schildert regelmäßig die biologischen Vorgänge, die zu bestimmten Erscheinungen führen, was das Verständnis wesentlich erleichtert. Ausführlich zeigt er das Wachstum der verschiedenen Baumteile, die Anpassungsmechanismen der Blätter und Wurzeln, den Lebens- und den jahreszeitlichen Zyklus des Baums. Wie die Grundform eines Blatts abgewandelt werden kann, wird am Beispiel der Buche illustriert. Die Rolle der Hormone beim Wachstum, die Vorgänge bei der Bestäubung und das Anlocken von Insekten durch die Blüten sind weitere faszinierende Abschnitte.

In der Regel wird der deutsche Text durch die entsprechenden wissenschaftlichen Fachausdrücke ergänzt. Das hilft dem, der von hier aus zur Fachliteratur übergehen will. Die vielen chemischen Formeln und Bezeichnungen zeigen, dass die Lebensvorgänge nicht auf geheimnisvollen Kräften beruhen, sondern eben auf Chemie. Darüber hinaus kann der Verfasser nicht verleugnen, dass er ursprünglich Biochemiker ist, und muss den Leser auch mit gewissen Einzelheiten beglücken, zum Beispiel dass das Turgorin, ein Botenmolekül, als 4-O-(6-O-Sulfo-beta-O-glucopyranosyl)- Gallussäure bezeichnet wird.

Grafisch vorbildlich gestaltet sind der Druck und die fast 500 Illustrationen. Fotos, Strichzeichnungen, Formeln, Mikround Makroaufnahmen geben wertvolle Auskünfte über den Aufbau der Gewebe, über typische Formen und Lebensvorgänge. Ein ausführliches Glossar der botanischen Fachausdrücke rundet das Buch ab.

Zum Schluss muss ich zugeben, dass das Rocktaschenformat doch nützlich ist. Wer dieses Buch besitzt, wird in den verschiedensten Lebenslagen darin blättern wollen, um Neues und Erstaunliches über den Baum und sein Leben zu finden.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 06/2009

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