Direkt zum Inhalt

Eine Frage der Qualität

"Um ein Kind großzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf", lautet ein gern zitierter afrikanischer Sinnspruch. Hierzulande hingegen hört man noch immer häufig die Meinung, Mama und Sprössling allein zu Haus seien die optimale Lösung für die kindliche Entwicklung. Gerade Frauen, die gern bald nach der Geburt in ihren Beruf zurückkehren möchten, bereitet dieses gesellschaftliche Klima ernsthafte Gewissensbisse: Sind sie Rabenmütter? Warum ist es in den Nachbarländern so viel üblicher, dass beide Eltern arbeiten – ohne dass jemand Anstoß daran nimmt? Und ohne, dass dort Generationen kleiner sozialgestörter Monster heranwachsen?

"Wieviel Mutter braucht denn überhaupt ein Kind", fragt daher die Entwicklungspsychologin Lieselotte Ahnert in ihrem Buch. Um es gleich vorweg zu nehmen: Eine konkrete Antwort in Zeiteinheiten gibt sie nicht. Das ist aber auch gar nicht ihr Anliegen. Vielmehr zeigt sie anhand zahlreicher Studien die verschiedensten Aspekte rund um das Thema Kinderbetreuung auf.

Sie beginnt zunächst mit den Grundlagen – die Bedeutung sozialen Austauschs, die Macht der Mutterliebe, die Rolle des Vaters und anderer Bezugspersonen. Dabei geht sie auch intensiv auf das Thema Bindungsqualität ein und wie sich Beziehungen verlässlich gestalten lassen.

Dann begibt sie sich bei Naturvölkern auf Spurensuche, wie denn wohl das Urmodell der Kinderbetreuung aussah – um festzustellen, dass auch dort die unterschiedlichsten Varianten gepflegt werden. Mit vielleicht einem einzigen gemeinsamen Merkmal: Egal, wer sich kümmert – die Kleinen haben immer eine Bezugsperson in engster Nähe, sei es nun ausschließlich die Mutter oder alle Frauen der Gruppe in wechselnder Intensität.

In den nächsten Kapiteln schildert Ahnert die Anfänge der bezahlten Kinderbetreuung, den Wandel in den zu Grunde liegenden Zielsetzungen sowie die aus heutiger Sicht dabei gemachten Fehler und was sich daraus lernen lässt. In der Moderne angekommen, beleuchtet sie die Chancen und Risiken für die kindliche Entwicklung, wenn die Kleinen in Gruppen betreut werden – vom Dauerschnupfen bis hin zum Wahn um die Frühförderung –, wie sich Stress und Trennungsangst bei den Kleinen und den beteiligten Großen äußern und wann eine externe Betreuung für die Kinder sogar sinnvoller sein kann, als sie "nur" den Eltern zu "überlassen".

Vieles in der Argumentation kommt einem bekannt vor – weil es so und ähnlich auch schon woanders steht. Auch Ahnerts Fazit, dass es letztlich weniger auf Quantität, als vielmehr auf die Qualität ankommt, ist nicht neu. Das Faszinierende an diesem Buch ist jedoch der umfassende Einblick in die entwicklungsbiologische und -psychologische Forschung, die von den frühen Grundlagenarbeiten seitens Harlow, Bowlby oder Piaget bis heute reicht – wenn man sich vielleicht auch etwas mehr wirklich aktuelle Arbeiten wünschen könnte.

Rein inhaltlich ist dieser 300-Seiten-Band mit seinen umfangreichen Anmerkungen und Literaturverweisen eine höchst ergiebige Fundgrube für alle, die mehr als das übliche Eltern-Ratgeber-Niveau suchen. Einziger Makel: Der Lesespaß bleibt leider immer wieder auf der Strecke, weil selbst Anschauliches unnötigerweise in sperrigen Wissenschaftlerjargon gepresst wird. Dabei zeigen einzelne Passagen sehr gut, wie sich dieses lebendige Thema auch lebendig beschreiben lässt. Unbeschadet dieser Kritik hat Spektrum Akademischer Verlag damit jedoch ein Sachbuch herausgebracht, das allen an Kinderbetreuung Interessierten und Beteiligten unbedingt zu empfehlen ist.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.