Direkt zum Inhalt

Tagebuch: Gemeinsame Jahrestagung zweier mathematischer Fachgesellschaften

Bild
Ende März trafen sich DMV und GDM in Berlin zu einem intensiven Gedankenaustausch über die Grenzen ihrer Organisationen hinweg.

Eine Gesundheitsorganisation empfiehlt dem allgemeinen Publikum, bei der – selbstverständlich empfohlenen – sportlichen Betätigung den eigenen Pulsschlag nicht zu hoch zu treiben. Als Richtwert gilt: nicht mehr als 220 minus Lebensalter in Jahren (Herzschläge pro Minute). Kürzlich ist diese Empfehlung revidiert worden. Die neue Formel ist 208 minus 0,7 mal Lebensalter. Eine Zeitung schreibt dazu: „Verglichen mit der bisherigen Empfehlung dürfen sich die Jungen etwas härter rannehmen, während die Alten es ruhiger angehen lassen sollten als zuvor." Stimmt das?

Wenn Sie diese Frage nicht beantworten können, haben Sie wenig Anlass zu Minderwertigkeitsgefühlen. Sie befinden sich zwar in schlechter Gesellschaft, aber die Gesellschaft besteht aus der Mehrheit Ihrer Mitbürger – weltweit. Genauer: Es handelt sich um eine der Pisa-Fragen, die 15-jährigen Schülern gestellt wurden (im Wesentlichen; vielleicht habe ich ein paar Zahlenwerte falsch im Kopf). Achtzig Prozent konnten mit den Angaben nichts anfangen, und in Deutschland war das Ergebnis, wie üblich, noch viel trauriger.

Ja, die gefürchteten Textaufgaben. Und das war noch eine der harmlosen, weil sie den stillschweigenden Vertrag zwischen Lehrer und Schülern nicht verletzt: Alles, was man zur Lösung der Aufgabe braucht, steht im Text. Es steht nichts drin, was man nicht braucht. Es kommt eine erst vor Kurzem im Unterricht durchgenommene Formel zur Anwendung; welche das ist und wie die im Text gegebenen Zahlen darin einzusetzen sind, findet man heraus, auch ohne die geschilderte Situation vollständig zu erfassen. Dann kommt die Hauptsache, nämlich unter Anwendung der Formel das Ergebnis auszurechnen. Zu überprüfen, ob das Ergebnis irgendwie Sinn macht, gehört nicht mehr zur Aufgabe; dafür ist der Lehrer zuständig.

Es gibt sicher noch mehr Paragrafen in dem ungeschriebenen Lehrvertrag; aber die zitierten sind bereits geeignet, jede ernsthafte Beziehung zwischen Mathematikunterricht und Realität wirksam zu torpedieren. Was passiert, wenn wesentliche Daten nicht im Aufgabentext genannt, sondern zu erschließen sind? „Herr Stein wohnt in Trier und fährt einen Golf. Bis zur nächsten Tankstelle in Luxemburg sind es 20 Kilometer. Dort kostet das Benzin 0,85 € pro Liter gegenüber 1,10 € zu Hause. Lohnt es sich für Herrn Stein, zum Tanken nach Luxemburg zu fahren?“ Hier müsste man ungefähr wissen, wie viel Liter der Tank fasst und wie hoch der Kraftstoffverbrauch des Autos ist. Ungefähr würde schon reichen, aber die interessante Frage ist natürlich: Wie bewertet Herr Stein die Zeit, die er bei seiner Tankreise verbraucht?

Und schon wird aus einer Textaufgabe noch etwas viel Schlimmeres, nämlich eine Anwendung von Mathematik auf die Realität. Auf der zurzeit stattfindenden gemeinsamen Jahrestagung der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (DMV) und der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik (GDM) ((siehe Weblink auf der linken Seite) sind genau dafür die Richtigen beisammen. In dieser Form ist die Jahrestagung etwas Neues; die Hauptvorträge sind ausgewogen aufgeteilt auf „Fachvorträge“, „fachdidaktische“ und „Schnittstellenvorträge“. Die oben zitierten Beispiele entstammen dem fachdidaktischen Hauptvortrag von Werner Blum, dem langjährigen Vorsitzenden der GDM und einem Altmeister unter den Mathematikdidaktikern.

Was ich gedanklich unter „verschärfte Textaufgabe“ einsortiert hätte, heißt bei Blum „mathematisches Modellieren“ – etwas gewöhnungsbedürftig für die forschenden Mathematiker, die darunter etwas wesentlich Anspruchsvolleres verstehen. Es fällt auch auf, wie ausgiebig Blum andere Leute zitiert, die die von ihm angeführten klugen, aber in der Tat nicht neuen Gedanken auch schon hatten. Und die Sprache, die er in seiner Powerpoint-Präsentation an die Wand wirft, ist von ungewohnt getragener Feierlichkeit; aber der Referent weiß sie im gesprochenen Text mühelos in normales Deutsch zu übersetzen.

Insgesamt gleicht der Vortrag einer gut aufgebauten Predigt aus Sündenbekenntnis („Wir sind ja so schlecht“, siehe Pisa), Betrachtungen über das gegenwärtig vorzufindende Jammertal („Mathematisches Modellieren ist ja so schwer“) und – ganz wichtig – Heilszusage („Aber wir können es schaffen, wenn wir uns richtig Mühe geben“). Nur ist das Heil an eine radikale innere Umkehr gebunden („Tut Buße“): Der genannte Lehrvertrag muss in einigen wesentlichen Punkten aufgekündigt werden. Und das ist schwer, nicht zuletzt, weil der Lehrvertrag auch dem Schutz der Schwachen dient (wozu er ein wirksames, wegen seiner Nebenwirkungen allerdings ungeeignetes Hilfsmittel ist).

Zum Schluss ein Beispiel zum Schmunzeln (das in Blums Vortrag am Anfang stand): Abgebildet ist ein Paar Schuhe. Ein Schuh ist 5,28 Meter lang und 2,43 Meter breit (wieder habe ich die Zahlen nur ungefähr im Kopf). Wie groß ist ungefähr der Riese, dem diese Schuhe passen? Zwei Hauptschüler lösen die Aufgabe, indem sie die beiden Zahlenwerte multiplizieren; zwei Gymnasiastinnen kommen mit einem Dreisatz der Sache schon näher. Aber keiner kommt auf die Idee, dass ein Mensch mit dieser Schuhgröße viel plumpere Proportionen haben müsste als unsereins. Elefanten sind ja auch nicht so schlank wie Mäuse. Das wäre nämlich richtiges Modellieren mit Nachdenken über den allometrischen Exponenten. Aber das ist eine ganz andere Geschichte (siehe die Weblinks zu zwei Spektrum-Artikeln auf der linken Seite).

Übrigens: Die Zeitung hatte Unrecht. Die Jungen sollen sich etwas mehr schonen und die Alten eher etwas weniger. Für die 40-Jährigen laufen alte und neue Empfehlung (180 Schläge pro Minute) auf dasselbe hinaus.

Christoph Pöppe

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.