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Anatomie: Wozu ist der Blinddarm gut - oder kann er einfach weg?

Er ist unscheinbar, offenbar nutzlos und allzu oft entzündet. Wozu haben wir eigentlich "die Appendix" - diesen "Wurmfortsatz" am Blinddarm?
Bauchschmerzen

Viele Jahrzehnte lang bewiesen Chirurgen ihr Können gerne bei einer "Blinddarmentzündung" – ein simpler Eingriff, raus damit und gut ist: Die unkomplizierte Operation half prompt und recht problemlos unzähligen Patienten mit Appendizitis, der Entzündung des Wurmfortsatzes. Und weil dieser Fortsatz – ein meist kaum zehn Zentimeter langes, unscheinbares Anhängsel am eigentlichen Blinddarm – sich recht häufig entzündete und keine offensichtliche Funktion erfüllt, wurde er tatsächlich eine Zeit lang auch mal so nebenbei präventiv entfernt, wenn man bei irgendeiner Unterleibs-OP Zeit dazu fand. Bis heute gilt: "Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig operiert." Längst gelingt Medizinern die OP auch routiniert und minimalinvasiv mit dem Endoskop.

Blinddarm | Der Blinddarm des Menschen von hinten betrachtet: Die relativ häufige Entzündung des Wurmfortsatzes (Appendizitis) wird umgangssprachlich (nicht korrekt) als Blinddarmentzündung bezeichnet. Trotz seiner Anfälligkeit ist der Appendix nicht überflüssig: Wahrscheinlich beherbergt er ein Reservoir von gutartigen Keimen, die zur Besiedelung des Darms nützlich sind.

Mediziner hatten den Wurmfortsatz schon im 19. Jahrhundert als ein im Lauf der menschlichen Evolution funktionslos gewordenes Relikt betrachtet. Ein gefährliches überdies: So konstatierte der vergleichende Anatom Robert Wiedersheim 1902 in seinem Werk "Der Bau des Menschen als Zeugnis für seine Vergangenheit" zum Thema Blinddarmfortsatz, er könne "nicht umhin, auch bei dieser Gelegenheit wieder auf die Coincidenz rudimentärer Organe und die durch sie verursachte Neigung zu Erkrankungen hinzuweisen". Zu Neudeutsch, der Wurmfortsatz ist überflüssig und schädlich, weil anfällig. Raus damit!

Und in der Tat: Viele Menschen leben nach der Routine-OP einer Appendektomie ja lange, gut und komplikationsfrei ohne Wurmfortsatz. Ist der Blinddarmanhang also wirklich überflüssig? Und warum ist er dann im Lauf der Evolution nicht einfach ganz verschwunden?

Lymphatisches Labor am Blinddarm

Zumindest für das Immunsystem und die Entwicklung im Ungeborenen scheint der Wurmfortsatz durchaus eine Rolle zu spielen: Schon im nur einige Wochen alten Embryo wandern Drüsenzellen in die Appendix-Schleimhaut ein und beginnen mit der Produktion verschiedener Amine und Peptid-Signale – offenbar ein Organisationsprozess beim Wachstum des Kindes, beschreibt der Physiologe Loren Martin von der Oklahoma State University. Im Wurmfortsatz-Wandgewebe finden sich aber vor allem – gerade bei Kindern und Jugendlichen, aber auch noch bei Erwachsenen – viele Lymphzellen, welche die Appendix zu einer Art "Darmtonsille" machen, analog den als Mandeln bekannten Lymphknotenansammlungen im Halsbereich, die bei einer Entzündung ja auch recht problemlos wegoperiert werden können.

Die Antwort in Kürze:

  • Der Wurmfortsatz – oder die Appendix – ist nicht überlebenswichtig: Viele Menschen haben nach einer Blinddarm-OP keinerlei Probleme ohne ihn.
  • Vielleicht übernimmt er jedoch Zusatzfunktionen für die Körperabwehr, die nur unter bestimmten Bedingungen zum Tragen kommen. Wahrscheinlich kann dies aber von anderen Abwehrkräften kompensiert werden.
  • Bei jungen Kindern dürfte er allerdings eine Rolle beim Reifen des Immunsystems spielen.

Fallen solche Lymphgefäß-Knotenpunkte aus, so könnte das unter Umständen doch Breschen in die Körperabwehr schlagen – auch wenn es in den meisten Fällen und Situationen völlig folgenlos bleibt. Schließlich reifen gerade in den ersten Lebensjahren im "Aushilfs-Lymphorgan" Wurmfortsatz viele B-Lymphozyten heran, und es entstehen IgA-Antikörper. Zudem bilden sich Lymphokine, also Substanzen, die Körperabwehrkräfte verändern oder zu ihrem Einsatzziel dirigieren.

Aber auch bei Erwachsenen fungiert die Appendix wohl als Frontlinie zwischen Immunsystem und den verschiedenen Krankheitserregern mit ihren Antigenen, die sich im Darm tummeln. Der Wurmfortsatz spielt dabei eine ähnliche Rolle wie die so genannten Peyer-Plaques des Dünndarms, jene lymphatischen Zellhaufen, die als Abwehrposten und Kontrollstelle des speziellen erworbenen Immunsystems fungieren: Bestimmte Spezialzellen, die so genannten M-Zellen, schnappen sich Antigene aus dem Darm, leiten sie durch ihren Zellkörper und reichen sie an antigenpräsentierende Zellen weiter, die sie dann dem Restkörper bekannt machen. Fällt der Wurmfortsatz aus, so wird diese Aufgabe von den Peyer-Plaques im Dünndarm sicherlich kompensiert – ein Alleinstellungsmerkmal der Appendix ist die Immununterstützung kaum.

Reservoir der Darmflora – und Ersatzteillager?

Eine weitere Idee hatten vor einigen Jahren Forscher aus den USA: Sie vermuteten, dass der vermeintlich überflüssige Blinddarmanhang eine Funktion als Reservoir und Rückzugsort für die natürliche gesunde Darmflora hat. Dies dürfte besonders nach schweren Darm- und Durchfallerkrankungen wichtig werden, bei denen der Körper fremde Keime und Eindringlinge durch eine Generalentleerung loszuwerden versucht. Anschließend muss im Darm aber wieder die natürliche Besetzung angesiedelt werden – was, so die Theorie, vielleicht aus dem zuvor nicht entleerten Wurmfortsatz heraus am besten gelingt. Tatsächlich baut sich nach einem operativen Entfernen des Wurmfortsatzes die Darmflora wohl langsamer wieder auf. Gerade in den reicheren Industrieländern wird das jedoch kaum bemerkt und selten zum Problem, weil hier die allgemein bessere Hygiene auch die wirklich gefährlichen Darminfektionen rar werden ließ.

Insgesamt mag der Wurmfortsatz also schon noch bestimmte Aufgaben haben; fast alles scheint – vor allem nach der Kindheit – aber auch von anderen Organen kompensiert zu werden oder nicht entscheidend zu sein.

Aus chirurgischer Sicht sprach übrigens ein weiterer Grund gegen die allzu routinemäßige Appendektomie, erinnert sich Mediziner Martin: Zumindest gegen Ende der 1980er Jahre hatten Chirurgen allmählich aufgehört, den Wurmfortsatz nebenbei zu entfernen, nachdem der französische Mediziner Paul Mitrofanoff ihn als mögliches Ersatzteillager des Körpers vorgestellt hatte. Als "Mitrofanoff-Stoma" konnte der operativ verlegte Wurmfortsatz nach einer Blasenentfernung dazu zweckentfremdet werden, eine verschließbare Harnableitungsröhre aus der Ersatzblase aufzubauen. So haben dann ausgerechnet Chirurgen daran gearbeitet, dem überflüssigen Wurmfortsatz ein wenig von seiner Überflüssigkeit zu nehmen.

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