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Freistetters Formelwelt: Astronom minus Astronom

Manchmal muss man sogar Astronomen voneinander abziehen. Das aber ist streng genommen keine Frage der Mathematik, sondern schmuddeliger Biologie.
Stoppuhr vor dem Panorama der Milchstraße

Im Jahr 1820 kamen der deutsche Astronom Friedrich Wilhelm Bessel und sein Assistent Johann Henric Walbeck bei ihrer Arbeit an der Sternwarte Königsberg zu einem Resultat, das in dieser Gleichung dargestellt wird:

Bessel – Walbeck = 1,041s

Eine Formel dieser Art erscheint seltsam. Wie zieht man einen Astronomen von einem anderen ab, und was soll das Resultat bedeuten? Das, was Bessel hier erstmals auf diese Weise formulierte, war allerdings durchaus von Bedeutung. Es handelt sich um die so genannte »persönliche Gleichung«, und wie die Bezeichnung nahelegt, hängt sie direkt mit der Person selbst zusammen, deren Name in der Formel auftaucht.

1799 stieß der britische Astronom Nevil Maskelyne auf ein Problem, das seine Arbeit an der Katalogisierung von Sternpositionen deutlich erschwerte. Die Messungen, die er selbst anstellte, stimmten nicht mit denen seines Assistenten David Kinnebrook überein. Um die Position von Sternen zu messen, musste man damals sehr exakt den Zeitpunkt aufzeichnen, an dem ein Stern sich zum Beispiel durch ein Fadenkreuz in einem Fernrohr bewegt. Aber Kinnebrooks Zeiten wichen systematisch von denen ab, die Maskelyne selbst bestimmte. Der Assistent war nicht in der Lage, etwas gegen diesen Fehler zu unternehmen, und wurde schließlich von Maskelyne entlassen.

Ein eingebauter Fehler

Als Friedrich Wilhelm Bessel einige Jahre später von dieser Geschichte erfuhr, erschien ihm daran etwas seltsam: Wenn Kinnebrook trotz aller Bemühungen nicht in der Lage war, den Fehler zu korrigieren, dann hat er ihn vielleicht unfreiwillig gemacht und konnte daran nichts ändern? Um die Sache zu klären, stellte er mit seinem Assistenten selbst Messungen an – und dabei fest, dass es auch hier zu »Fehlern« kam. Im Durchschnitt notierte Bessel einen Sterndurchgang immer 1,041 Sekunden später als Walbeck. In den folgenden Jahren stellte Bessel eine Reihe anderer solcher »persönlicher Gleichungen« mit unterschiedlichen Kollegen auf, und Astronomen überall auf der Welt taten Ähnliches.

Friedrich Wilhelm Bessel entdeckte das, was heute selbstverständlich erscheint: Wenn man eine Beobachtung macht, kommt es nicht nur auf die Instrumente und Messmethoden an, die man verwendet, sondern auch auf die Person, die diese Geräte benutzt. Erfahrene Beobachter arbeiten anders als solche, die gerade erst lernen, wie die Techniken funktionieren. Jede Person hat eine ganz individuelle Reaktionszeit, die auch noch vom verwendeten Instrument abhängt. All diese Faktoren gehen in die »persönliche Gleichung« ein und müssen berücksichtigt werden, wenn man Daten vergleichen will, die von verschiedenen Menschen gewonnen werden.

Heute ist die Astronomie eine sehr exakte Naturwissenschaft; die Beobachtungen werden digital gemacht und aufgezeichnet, und der Mensch muss die Instrumente nur noch bedienen. Aber bevor sich die Fotografie in der Astronomie durchgesetzt hat, war man auf die Augen der Beobachter und deren Interpretation des Gesehenen angewiesen. Und je genauer die Messungen wurden, desto größer war auch der Einfluss des Menschen, wie Bessel schon 1818 in einem Brief an Carl Friedrich Gauss schrieb:

Wir sind jetzt auf den Punct gekommen, kleinen Fehlern oder Abweichungen ausser den Grenzen der Wahrscheinlichkeit mit derselben Aufmerksamkeit nachzuspüren als früher grossen; beiden muss ein physischer Grund (in der Natur selbst, in den Instrumenten oder dem Beobachter) zugehören, und die Entdeckung dieses Grundes (…) sehen wir erst jetzt für eine ebenso bedeutende wissenschaftliche Entdeckung, als früher eine mehr augenfällige angesehn worden sein mag.

Angesichts der heutigen wissenschaftsphilosophischen Diskussionen über die Rolle des Beobachters in der Quantenmechanik sind das fast schon prophetische Worte.

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