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Die fabelhafte Welt der Mathematik: Wie man Pi zwischen zwei Unendlichkeiten findet

Summen mit unendlich vielen Termen können tückisch sein: Für sie gelten andere Rechenregeln. Das kann man aber nutzen, um die Kreiszahl Pi zu finden.
Das Zeichen Pi und der Zahlenwert vor dem Universum
Pi scheint überall zu lauern – auch zwischen zwei Unendlichkeiten.

Ob beim Billard, in der Mandelbrotmenge oder beim »Spiel des Lebens«: Dass sich die Kreiszahl Pi in unerwarteten Situationen offenbart, habe ich in dieser Kolumne schon öfters gezeigt. Eine weitere Möglichkeit, die Lieblingszahl vieler mathematikaffinen Menschen zu erhalten, besteht darin, zwei Unendlichkeiten voneinander abzuziehen. Ja, Sie haben richtig gelesen: Unter den richtigen Umständen ergibt unendlich minus unendlich tatsächlich Pi.

Ursache für dieses verrückte Phänomen ist der riemannsche Umordnungssatz. Dieser ist nach dem deutschen Mathematiker Bernhard Riemann benannt, der sich im 19. Jahrhundert mit unendlichen Reihen beschäftigte. Dabei handelt es sich um Summen mit unendlich vielen Summanden. Einige davon wachsen immer weiter bis in die Unendlichkeit an, aber es gibt auch zahlreiche Beispiele für unendliche Reihen, die »konvergieren«, also ein endliches Ergebnis liefern. Wie Riemann und sein Zeitgenosse Augustin Louis Cauchy feststellten, muss man mit einigen dieser unendlichen Reihen sehr vorsichtig umgehen – selbst wenn sie konvergieren.

Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen oder als Buch kaufen.

Für mich war es eine große Überraschung, dass eine unendliche Summe von Werten ein endliches Ergebnis liefern kann. An einem einfachen Beispiel lässt sich aber sehen, dass das durchaus der Fall sein kann. Man betrachte etwa die Summe ∑k(0,1)k = 0,1 + 0,01 + 0,001 + … Wenn man die schrumpfenden Summanden zusammenrechnet, erhält man am Ende die periodische Zahl: 0,1111… – die offensichtlich einen endlichen Wert hat.

Wann liefert eine unendliche Summe ein endliches Ergebnis?

Es gibt mehrere Kriterien, anhand derer sich entscheiden lässt, ob eine unendliche Summe konvergiert oder nicht. Eines ist zum Beispiel das »Leibniz-Kriterium«: Falls die Summanden eine monoton fallende Nullfolge sind (also die Summanden einzeln betrachtet immer kleiner werden und gegen null gehen) und die Summe alternierend ist (also die Summanden abwechselnd ein positives und ein negatives Vorzeichen haben), dann konvergiert die Reihe. Ein Beispiel dafür ist die »alternierende harmonische Reihe«: 1 − ½ + ⅓ − ¼ + ⅕ − … Das Leibniz-Kriterium besagt, dass diese Reihe konvergiert – es sagt aber nicht, gegen welchen Wert.

Konvergenzkriterien für Reihen | Mit diesem Diagramm lässt sich bestimmen, ob eine Reihe konvergent ist.

Wie sich herausstellt, konvergiert die Reihe gegen eine irrationale Zahl: den natürlichen Logarithmus von 2, ln(2) ≈ 0,69314. (Das lässt sich erkennen, indem man die Logarithmusfunktion ln(x) um den Wert von x = 2 durch Polynome nähert.) Im Jahr 1833 spielte Cauchy mit dieser alternierenden harmonischen Reihe herum – und machte eine erstaunliche Entdeckung: Als er die Summanden umsortierte, erhielt er plötzlich ein völlig anderes Ergebnis als ln(2).

Zunächst markierte Cauchy alle Terme, die Vielfache von vier enthalten (also ein Viertel, ein Achtel, ein Zwölftel und so weiter). Diese haben immer ein negatives Vorzeichen. Dann teilte er die restlichen Terme nach geraden und ungeraden Nennern auf: Auf der einen Seite also (1, ⅓, ⅕, …) und auf der anderen (½, 16, 110, … – die Vielfachen von vier sind ausgenommen). Dann verband der Mathematiker die drei Gruppen abwechselnd miteinander: zuerst einen Summanden mit ungeradem Nenner, dann einen mit geradem Nenner (aber keinem Vielfachen von vier) und schließlich einen Term mit einem Vielfachen von vier.

Umordnung einer Reihe | Indem man die einzelnen Terme der alternierenden harmonischen Reihe umordnet, erhält man am Ende ein anderes Ergebnis.

Indem man die Klammern geschickt setzt, erkennen Sie vielleicht, worauf das Ganze hinausläuft. Die geklammerten Terme bestehen immer aus einem Term a minus a2: (1 − ½) − ¼ + (⅓ − 16) − 18 + (⅕ − 110) – … Indem man die Klammern ausrechnet, erhält man also: ½ − ¼ + 16 − 18110 − …

Ein unerwartetes Ergebnis

Fällt Ihnen etwas auf? Die Summe entspricht genau der Hälfte der alternierenden harmonischen Reihe: ½ · (1 − ½ + ⅓ − ¼ + ⅕ − …). Als Ergebnis müsste folglich ½·ln(2) herauskommen. Das ist äußerst erstaunlich, schließlich haben wir nichts anderes gemacht, als die Summanden umzusortieren.

Bereits in der Schule lernen wir, dass die Addition kommutativ ist, also dass 2 + 3 dasselbe ist wie 3 + 2. Bei einer unendlichen Summe scheint das nicht mehr der Fall zu sein: Durch die Umordnung der Summanden hat sich das Ergebnis der Reihe halbiert. Als Cauchy das feststellte, ging er davon aus, dass es sich um eine seltsame Eigenschaft unendlicher Summen handeln musste: Wenn man unendlich viele Terme addieren will, dann geht offenbar die Kommutativität verloren.

Wie Peter Gustav Lejeune Dirichlet hingegen herausfand, stimmt das nicht ganz. Es gibt durchaus unendliche Reihen, bei denen die Kommutativität gewahrt ist: so genannte absolut konvergente Reihen. Dabei handelt es sich um Reihen, die auch dann konvergieren, wenn alle negativen Summanden addiert statt subtrahiert werden. Eine alternierende Reihe (mit wechselnden Vorzeichen) ist nur dann absolut konvergent, wenn das Ergebnis immer noch endlich ist, nachdem man alle Minuszeichen zu einem Plus umgewandelt hat.

Im Fall der von Cauchy betrachteten alternierenden harmonischen Reihe muss man also 1+ ½ + ⅓ + ¼ + ⅕ + … untersuchen. Diese unendlich lange Summe ist als harmonische Reihe bekannt – und wächst zwar langsam, aber stetig an. Wie der Mathematiker Nicole Oresme im 14. Jahrhundert beweisen konnte, ist die harmonische Reihe nicht konvergent. Das Ergebnis der Summe ist unendlich. Das bedeutet, dass die alternierende harmonische Reihe zwar konvergent ist, aber nicht absolut konvergent.

Jedes Ergebnis ist möglich

Etwa 30 Jahre nach Cauchys erstaunlichem Fund nahm sich Bernhard Riemann das Phänomen vor. Er erkannte, dass Dirichlet Recht hatte: Sobald eine Reihe nicht absolut konvergent ist, geht die Kommutativität verloren. Ordnet man die Summanden um, verändert sich der Wert der Reihe. Riemann ging aber noch weiter und konnte beweisen, dass man durch eine geschickte Umordnung einer nicht absolut konvergenten Reihe jeden beliebigen Wert erzeugen kann – auch die Zahl Pi.

Anschaulich lässt sich das folgendermaßen erklären: Betrachtet man nur die positiven Summanden der alternierenden harmonischen Reihe, also 1, ⅓, ⅕ und so weiter, dann addieren sie sich zu unendlich auf. Schaut man sich hingegen die negativen Summanden gesondert an, also ½, ¼ und so weiter, dann ergibt deren Summe ebenfalls unendlich. Im Prinzip zieht man also von einem unendlich großen Wert eine unendliche Zahl ab. Dass da schnell mal etwas schiefläuft, wenn man die Summanden umsortiert, erscheint plötzlich nicht mehr ganz so überraschend.

In seiner Arbeit beschrieb Riemann sogar eine Methode, um einen bestimmten Wert aus einer nicht absolut konvergenten Reihe zu erzeugen. Dafür muss man die positiven und die negativen Summanden wieder separat betrachten. Zunächst addiert man die positiven Terme nach und nach so lange auf, bis man das gewünschte Ergebnis gerade eben überschreitet. Dann zieht man so lange negative Terme ab, bis man wieder unter den gewünschten Wert fällt. Daraufhin addiert man wieder Terme hinzu, zieht die nächsten wieder ab und so weiter. Auf diese Weise nähert man sich immer weiter der gewünschten Zahl.

Das lässt sich für die alternierende harmonische Reihe und Pi als gewünschtes Ergebnis durchspielen: Zunächst addieren wir die ersten positiven Terme so lange, bis wir eine Zahl erhalten, die größer ist als Pi: 1 + ⅓ + ⅕ + … + 1151 ≈ 3,1471. Das heißt, man muss erst 75 positive Terme addieren, bevor man erstmals einen Summanden abzieht. Als zweiten Schritt fügt man nun die erste negative Zahl hinzu, ½: 1 + ⅓ + ⅕ + … + 1151 − ½ ≈ 2,6471. Danach addiert man wieder so lange positive Terme, bis man erneut Pi übersteigt: 1 + ⅓ + ⅕ + … + 1151 − ½ + 11531155 + … + 1409 ≈ 3,1432. Das geht immer so weiter: Im nächsten Schritt zieht man wieder den nächsten Summanden ab (¼) und addiert dann wieder Terme hinzu. Auf diese Weise nähert man sich immer mehr an die Kreiszahl an.

Wieder einmal schafft es die Unendlichkeit, unsere Intuition zu überlisten. Regeln wie das Kommutativgesetz, die wir für selbstverständlich halten, werden auf den Kopf gestellt. Doch diese Eigenheiten ermöglichen es, aus einer unendlichen Reihe jedes erdenkliche Ergebnis zu erzeugen – auch Pi.

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