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Immunologie: Das Versagen der Immunantwort

Im normalen Verlauf einer Infektion löst der Krankheitserreger zuerst eine Antwort des angeborenen Immunsystems aus. Die fremden Antigene des Krankheitserregers, deren Signale durch die angeborene Immunantwort verstärkt werden, lösen dann eine adaptive Immunantwort aus, die letztendlich die Infektion beseitigt und einen Zustand schützender Immunität herbeiführt. Das geschieht allerdings nicht immer.
T-Zelle des Immunsystems

In diesem Kapitel werden wir feststellen, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, wie die Immunantwort gegen Pathogene fehlschlagen kann: aufgrund von Immundefekten bei einem anormalen Wirtsorganismus, wie es bei einer Immunschwäche vorkommt, oder durch Verhinderung oder Unterwandern der normalen Immunreaktion durch die Krankheitserreger bei einem gesunden Wirt. Zum Schluss wollen wir uns mit der besonderen Situation beschäftigen, dass die Immunabwehr eines genetisch normalen Wirtsorganismus durch einen Krankheitserreger so beeinträchtigt wird, dass es zu einer allgemeinen Anfälligkeit für Infektionen kommt, wie es beim erworbenen Immunschwächesyndrom (acquired immune deficiency syndrome, AIDS) der Fall ist, das von dem humanen Immunschwächevirus (human immunodeficiency virus, HIV) hervorgerufen wird.

Im ersten Teil des Kapitels beschäftigen wir uns mit den primären oder vererbbaren Immunschwächekrankheiten, bei denen die Immunabwehr aufgrund eines erblichen Gendefekts versagt, was zu einer erhöhten Anfälligkeit für Infektionen mit bestimmten Gruppen von Pathogenen führt. Man kennt Immunschwächekrankheiten, die durch Defekte in der Entwicklung der T- und B-Lymphocyten, in der Phagocytenfunktion oder bei Bestandteilen des Komplementsystems hervorgerufen werden. Im zweiten Teil des Kapitels wollen wir uns kurz mit Mechanismen befassen, durch die Krankheitserreger spezifischen Komponenten der Immunantwort ausweichen oder diese unterwandern, um so der Vernichtung zu entgehen – der sogenannten Immunevasion. Im letzten Teil des Kapitels beschäftigen wir uns damit, wie die dauerhafte Infektion mit HIV zum Krankheitsbild von AIDS führt, also zu sekundären oder erworbenen Immunschwächekrankheiten. Die Untersuchung der Bedingungen und Mechanismen, durch die das Immunsystem versagen kann, hat bereits wichtige Informationen zu unserem Verständnis der Immunabwehr beigetragen und sollte auch auf längere Sicht bei der Entwicklung neuer Methoden hilfreich sein, Infektionskrankheiten einschließlich AIDS einzudämmen und ihnen vorzubeugen.

13.1 Immunschwächekrankheiten

Zu einer Immunschwächekrankheit kommt es, wenn eine oder mehrere Komponenten des Immunsystems defekt sind. Man unterscheidet primäre (vererbbare oder angeborene) und sekundäre (erworbene) Immunschwächen. Primäre Immunschwächen werden durch vererbte Mutationen in einem der zahlreichen Gene verursacht, die bei den Immunantworten mitwirken oder sie kontrollieren. Bis heute wurden gut 150 primäre Immunschwächen beschrieben, die die Entwicklung oder die Funktion der Immunzellen oder beide Bereiche beeinträchtigen. Die klinischen Symptome dieser Erkrankungen sind daher ausgesprochen unterschiedlich. Ein gemeinsames Merkmal ist jedoch, dass es bei Kleinkindern zu wiederholten und häufig sehr schwer verlaufenden Infektionen kommt. Sekundäre Immunschwächen werden hingegen als Folge anderer Krankheiten erworben, sie entstehen sekundär als Folge von äußeren Faktoren wie Hunger oder sind eine Nebenwirkung eines medizinischen Eingriffs. Einige Formen der Immunschwächen betreffen vor allem die immunregulatorischen Mechanismen. Defekte dieser Art können zu Allergien, anormaler Proliferation von Lymphocyten, Autoimmunität und bestimmten Krebsformen führen. Diese werden in anderen Kapiteln besprochen. Hier wollen wir uns vor allem auf die Immunschwächen konzentrieren, die eine Anfälligkeit für Infektionen hervorrufen.

Die primären Immunschwächekrankheiten lassen sich anhand der beteiligten Komponenten des Immunsystems unterscheiden. Da jedoch viele Bestandteile der Immunabwehr ineinandergreifen, kann ein Defekt in einer Komponente auch die Funktion an anderen Stellen beeinträchtigen. Deshalb können Primärdefekte der angeborenen Immunität zu Defekten der adaptiven Immunität führen, und umgekehrt. Dennoch ist es sinnvoll, Immundefekte im Zusammenhang mit den betroffenen Hauptkomponenten des Immunsystems zu betrachten, da diese bestimmte Muster von Infektionen und klinischen Symptomen hervorrufen. Wenn man untersucht, welche Infektionskrankheiten mit einer bestimmten Immunschwäche einhergehen, lässt sich erkennen, welche Komponenten des Immunsystems für die Reaktion auf bestimmte Erreger von Bedeutung sind. Die erblichen Immunschwächen machen auch deutlich, wie die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Immunzelltypen zur Immunantwort und zur Entwicklung der B- und T-Zellen beitragen. Schließlich können uns diese erblichen Krankheiten zu dem defekten Gen führen und so vielleicht neue Informationen über die molekularen Grundlagen der Immunreaktionen erbringen sowie die notwendigen Kenntnisse für die Diagnose, eine gute genetische Beratung und möglicherweise eine Gentherapie liefern.

13.1.1 Eine Krankengeschichte mit wiederholten Infektionen legt eine Immunschwäche als Diagnose nahe

Patienten mit einer Immunschwäche erkennt man im Allgemeinen aufgrund ihrer klinischen Geschichte, die wiederholte Infektionen mit den gleichen oder ähnlichen Pathogenen aufweist. Die Art der Infektionen zeigt an, welcher Teil des Immunsystems geschädigt ist. Die wiederholte Infektion mit pyogenen (eiterbildenden) Bakterien lässt den Schluss zu, dass die Funktion der Antikörper, des Komplementsystems oder der Phagocyten gestört ist, da diese Teile des Immunsystems bei der Abwehr solcher Infektionen von Bedeutung sind. Andererseits deuten eine dauerhafte Pilzinfektion der Haut, etwa mit Candida, oder wiederkehrende Virusinfektionen darauf hin, dass ein Immundefekt unter Beteiligung der T-Lymphocyten vorliegt.

13.1.2 Primäre Immunschwächekrankheiten beruhen auf rezessiven Gendefekten

Bevor Antibiotika zur Verfügung standen, starben die meisten Patienten mit einem ererbten Defekt der Immunabwehr bereits im Säuglingsalter oder während der frühen Kindheit, da sie für Infektionen durch bestimmte Krankheitserreger besonders anfällig waren. Diese Erbkrankheiten waren nicht leicht zu identifizieren, da auch viele nicht davon betroffene Kinder an den Folgen von Infektionskrankheiten starben. Die meisten Gendefekte, die sekundäre (vererbbare) Immunschwächenkrankheiten verursachen, werden rezessiv vererbt und viele lassen sich auf Mutationen in den Genen des X-Chromosoms zurückführen. Rezessiv vererbte Defekte führen nur dann zur Erkrankung, wenn beide Chromosomen das fehlerhafte Gen tragen. Da Männer nur ein X-Chromosom besitzen, bilden alle Männer, die eine X-gekoppelte Erkrankung erben, die Krankheit auch aus. Frauen hingegen bleiben aufgrund ihres zweiten, unveränderten X-Chromosoms normalerweise gesund.

Bei Mäusen ließen sich mithilfe von Knockout-Verfahren (Anhang I, Abschn. A.35) verschiedene Arten der Immunschwäche erzeugen, die unser Wissen darüber, wie einzelne Proteine zur normalen Funktion des Immunsystems beitragen, rasch erweitert haben. Trotzdem bieten humane Immunschwächekrankheiten immer noch die beste Möglichkeit, Einblicke in die normalen Reaktionswege der Immunabwehr von Infektionskrankheiten zu gewinnen. So erhöhen zum Beispiel Defekte in der Funktion der Antikörper, des Komplementsystems oder der Phagocyten das Risiko, von bestimmten eiterbildenden Bakterien infiziert zu werden. Das bedeutet, dass Reaktionen des Wirtes bei der Abwehr solcher Bakterien normalerweise in folgender Reihenfolge ablaufen: Nach der Bindung der Antikörper erfolgt die Fixierung von Komplementkomponenten, welche die Aufnahme und das Abtöten der opsonisierten Bakterien durch die Phagocyten ermöglicht. Fehlt ein Glied in dieser Kette, die zum Abtöten der Bakterien führt, kommt es immer zu einem ähnlichen Immunschwächezustand.

Durch die Immunschwächen erfahren wir auch etwas über die Redundanz der Mechanismen, mit denen der Wirt Infektionskrankheiten bekämpft. Der erste Mensch (zufällig ein Immunologe), bei dem man einen erblichen Defekt im Komplementsystem (einen C2- Mangel) entdeckte, war gesund. Das bedeutet, dass dem Immunsystem vielfältige Maßnahmen zum Schutz gegen Infektionen zur Verfügung stehen, sodass ein Defekt in einem Bestandteil der Immunität durch andere Komponenten ausgeglichen werden kann. Es gibt zwar zahlreiche Befunde, dass ein Komplementdefekt die Anfälligkeit für pyogene Infektionen erhöht, aber nicht jeder Mensch mit einer Komplementschwäche leidet an wiederkehrenden Infektionen.

In Abb. 13.1 sind Beispiele für Immunschwächekrankheiten aufgeführt. Keine davon ist besonders verbreitet (ein bestimmter IgA-Mangel kommt noch am häufigsten vor) und einige sind sogar außerordentlich selten. Diese Krankheiten werden in den folgenden Abschnitten beschrieben und wir haben sie danach zusammengefasst, ob der zugrundeliegende Defekt im adaptiven oder im angeborenen Immunsystem liegt.

Abb. 13.1 Humane Immunschwächesyndrome

In dieser Tabelle sind für einige verbreitete und einige seltene humane Immunschwächesyndrome die zugrunde liegenden Gendefekte, die Konsequenzen für das Immunsystem und die daraus resultierende Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten aufgeführt. Ein schwerer kombinierter Immundefekt (SCID) kann auf viele verschiedene Defekte zurückzuführen sein (Zusammenfassung in Abb. 13.2, siehe auch Text). AID, aktivierungsinduzierte Cytidin-Desaminase; ATM, Ataxia teleangiectasia-mutated protein; EBV, Epstein-Barr-Virus; IKK, IκB-Kinase; STAT3, signal transducer and activator of transcription 3; TAP, Transportproteine, die an der Antigenprozessierung beteiligt sind; UNG, Uracil-DNA-Glykosylase.

Bezeichnung des Immunschwächesyndromsspezifische AnomalieImmundefektKrankheitsanfälligkeit
schwerer kombinierter Immundefektsiehe Text und Abb. 13.2allgemein
DiGeorge-SyndromThymusaplasieschwankende Anzahl von T-Zellenallgemein
MHC-Klasse-I-DefektMutationen in TAP1, TAP2 und Tapasinkeine CD8-T-Zellenchronische Entzündungen von Lunge und Haut
MHC-Klasse-II-Defektfehlende Expression von MHC-Klasse IIkeine CD4-T-Zellenallgemein
Wiskott-Aldrich-SyndromX-gekoppelt; defektes WASp-GenMangel an Anti-Polysaccharid-Antikörpern; gestörte Aktivierung/Reaktionen der T-Zellen; Treg-Fehlfunktioneingekapselte extrazelluläre Bakterien Infektionen mit Herpesviren (z.B. HSV, EBV)
X-gekoppelte AgammaglobulinämieVerlust der Tyrosinkinase BTKkeine B-Zellenextrazelluläre Bakterien, Enteroviren
Hyper-IgM-SyndromCD40-Liganden-Defekt
CD40-Defekt
NEMO-(IKK-)Defekt
kein Isotypwechsel und/oder keine somatische Hypermutation; T-Zell-Defekteextrazelluläre Bakterien
Pneumocystis jirovecii
Cryptosporidium parvum
Hyper-IgM-Syndrom (B-Zell-abhängig)AID-Defekt
UNG-Defekt
kein Isotypwechsel
+/– normale somatische Hypermutation
extrazelluläre Bakterien
Hyper-IgE-Syndrom (Job-Syndrom)STAT3-DefektDifferenzierung der TH17-Zellen ist blockiertextrazelluläre Bakterien und Pilze
allgemeine variable ImmunschwächeMutationen in TACI, ICOS, CD19 usw.gestörte IgA- und IgG-Produktionextrazelluläre Bakterien
selektiver IgA-Defektunbekannt; MHC-gekoppeltkeine IgA-SyntheseInfektionen der Atemwege
Phagocytendefekteviele verschiedeneVerlust der Phagocytenfunktionextrazelluläre Bakterien und Pilze
Komplementdefekteviele verschiedeneVerlust spezifischer Komplementkomponentenextrazelluläre Bakterien, vor allem Neisseria spp.
X-gekoppeltes lymphoproliferatives SyndromMutationen in SAP oder XIAPunkontrolliertes B-Zell-Wachstumdurch EBV ausgelöste B-Zell-Tumoren schwere infektiöse Mononucleose
Ataxia teleangiectaticaMutationen in ATMweniger T-ZellenInfektionen der Atemwege
Bloom-SyndromDefekt der DNA-Helikaseweniger T-Zellen geringere AntikörpertiterInfektionen der Atemwege

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