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Leseprobe »Warum deine Freunde mehr Freunde haben als du«: Vom Anbeginn des Rechnens mit Zufällen

Offenbart, woraus die Mathematik des Zufalls entsprang. Und wie sexy sie ist. Eine Leseprobe
Mathematik

Wo sind wir?

Noch ganz am Anfang, doch schon mittendrin statt nur dabei: K-Tharina hält nämlich gerade ein Referat im Matheunterricht. Und wie es der Zufall so will, geht es bei diesem Referat um die Mathematik des Zufalls. Hören wir also mal rein, was K-Tharina so erzählt:

»Seit Tausenden von Jahren gibt es Menschen, die Mathe machen. Mathemachen fing damit an, als Handel getrieben, Land vermessen und Kalender erstellt wurden. Das funktioniert nur, wenn man ein Stück weit mit Zahlen, Formeln und Figuren umgehen kann. Die Mathematik begann also irgendwann mit Arithmetik und Geometrie. Ihr genauer Ursprung verliert sich hinter dem dichten Schleier der Vor-Geschichte.«

Apropos: Geschichte und Geometrie: Bei diesem Stichwort unterbrechen wir für eine vorgeschichtliche Kurzdurchsage und schalten dafür um in die Steinzeit. Ein Urzeitmensch hat einen Sichtschutz aufgespannt und sagt zu einem anderen … Aber seht selbst:

(Abbildungen sind in dieser Leseprobe leider nicht enthalten)

So weit das bebilderte Zwischenspiel.

Und wir sind zurück beim Referat von K-Tharina:

»Geometrie ist also eine ziemlich alte Sache. Gäbs ein Seniorenheim für Teilgebiete der Mathematik, könnte man sie dort besuchen. Geometrie beschäftigt sich mit Punkten, Linien, Kreisen, Quadraten und anderen räumlichen Objekten. Und zwar schon so lange, wie es Mathe gibt und Menschen gibt, die Mathe machen.«

Interessant, was K-Tharina so alles erzählt, oder?

Also nehmen wir ihren Erzählfaden gleich wieder – und jetzt etwas länger – auf:

»Womit die Mathematiker sich aber erst sehr viel später beschäftigt haben, ist der Zufall. Das hat mehrere Gründe. Selbst der alte Aristoteles ist mitverantwortlich dafür. Denn schon vor mehr als 2000 Jahren hatte er verkündet, dass das ganze Gebiet der Zufälligkeit nicht erforscht werden kann, und zwar aus Prinzip. Was Aristoteles sagte, hatte so viel Gewicht, dass noch im Mittelalter an seiner Meinung nicht gezweifelt wurde. Was er sagte, galt als wahr. Ohne Verfallsdatum!

Nun könnte jemand sagen: ›Keiner sollte so große Autorität haben, dass er mit einem guten Spruch die Forschung für mehr als ein Jahrtausend aufhalten kann.‹ Und der Meinung bin ich auch.

Zum Glück gab es auch vor ein paar Jahrhunderten Wissenschaftler, die ebenfalls dieser abweichenden Meinung waren und probierten, etwas über den Zufall herauszufinden. Also zu überlegen, ob auch der Zufall irgendwelche Eigenschaften hat oder vielleicht sogar Gesetzen gehorcht.

Das hört sich erst mal ziemlich widersinnig an, weil die meisten Menschen den Zufall als etwas Chaosmäßiges verstehen, das sich nach keiner Richtlinie richtet, keine Muster bildet oder Regeln befolgt. Also eben unregelmäßig erscheint.

Ein paar schlaue Mathemacher haben aber geahnt, dass das so nicht stimmt, ja ganz anders ist. Und tatsächlich: Auch der Zufall ist nicht regellos, auch er erfüllt Gesetze und hat Regelmäßigkeiten. Sogar ziemlich viele Gesetze und Regeln. Selbst er ist ein Stück weit geordnet. Ja, ganz im Ernst!

Die ersten mathematischen Untersuchungen über die Zufallsgesetze wurden an Glücksspielen vorgenommen. Das war echte Pionierarbeit. Intellektuelle Großtaten. Sie fanden im 17. Jahrhundert statt. Auslöser waren mehrere Briefe zwischen den beiden Gelehrten Blaise Pascal (1623–1662) und Pierre de Fermat (1607–1665).

Ihr gemeinsames Hobby bestand darin, sich schwere Matheprobleme hin und her zu schicken und Lösungen dafür auszutüfteln. Die haben sie dann brieflich diskutiert. Die Lösung eines dieser Probleme war der Anfang einer Theorie des Zufalls, die auf Mathematik beruht. Heute heißt diese seitdem stark ausgebaute und enorm mächtige Gedankenmontage ›Wahrscheinlichkeitstheorie‹. Und ihre Start-up-Plattform ist das ›Teilungsproblem‹.

Dieses legendäre Problem hat viele bekannte Rechenmeister, allesamt keine Otto Normalmathematiker, sehr stark beschäftigt. Ja, zwischen ihnen zu zänkischen Diskussionen geführt. Bis hin zu offenem Streit. Auch Mathemacher machen manchmal Zoff. (War damals so, ist heute so. Ergänzung des Autors)

Zurückverfolgen lässt sich das Teilungsproblem bis ins 15. Jahrhundert, bis zu einem Gelehrten mit dem Namen Luca Pacioli (ca. 1445–ca. 1514), dem bekanntesten Rechenmeister der italienischen Renaissance. Er hatte es sich ausgedacht.«

Habt ihr Lust, darüber nachzudenken? Oder wenigstens das Problem mal zu hören?

Hier ist die Aufgabe, die es stellt:

Spieler A und Spieler B haben einen Einsatz von je 14 Dukaten geleistet. Um den Gesamteinsatz spielen sie ein Glücksspiel, das aus mehreren Runden besteht. In jeder Runde wird durch Wurf einer fairen Münze der Rundensieger bestimmt. Spieler A und Spieler B haben vereinbart, dass der Erste, der fünf Runden gewinnt, den Gesamteinsatz bekommt. Bei einem Spielstand von 4:3 für Spieler A muss wegen höherer Gewalt die Spielserie abgebrochen werden. Was ist die gerechte Aufteilung des Gesamteinsatzes an die beiden Spieler bei diesem Spielstand?

Man kann über die faire Aufteilung geteilter Meinung sein, wenn sich auch unter Mathematikern schließlich eine Sichtweise durchgesetzt hat. Vielleicht hat jemand Lust, sich eine eigene Meinung zu bilden. Hier habt ihr die Gelegenheit über fünf Jahrhunderte hinweg, die Gedankenwelt der Top-Mathe-Matadore von damals zu berühren. Durch die Beschäftigung mit einem wissenschaftshistorisch wegweisenden Problem.

Also: Wenn man euch gefragt hätte, wie hättet ihr die 28 Dukaten an die beiden Spieler aufgeteilt?

Das mit dem Aufteilen ist ja so eine Sache. Als der amerikanische Baseballspieler Dan Osinski einmal eine Pizza bestellte und die Serviererin ihn fragte, ob sie die in sechs oder acht Stücke aufteilen solle, sagte der Baseballstar: »Lieber in sechs, denn acht kann ich nicht essen.«

Aber bleiben wir beim Aufteilungsproblem der 28 Dukaten.

Eine ganze Menge verschiedener Vorschläge wurde gemacht. Luca Pacioli, der Meister himselber, meinte, der Gesamteinsatz sollte einfach im Verhältnis der von beiden Spielern gewonnenen Spiele aufgeteilt werden, also im Verhältnis 4:3. Das ergibt den Anteil 4/(4+3)=4/7 von 28 Dukaten für Spieler A. Er bekommt davon genau

$$\frac{4}{7} \cdot 28=16$$

Na gut, das ist mal eine Meinung. Niccolo Tartaglia (1499–1557) aus Verona, berühmt geworden durch seine Leidenschaft für Gleichungen vom Typ

$${x}^3+px=q$$

und noch mehr durch den Streit, den er darüber mit einem anderen Mathematiker hatte, war nicht derselben Ansicht. Er meinte, der Topf sollte im Verhältnis 3:2 gesplittet werden.

Er hatte sich das so überlegt: Spieler A erhält erstens für jeden der benötigten Siege 1 Dukaten, also 5, und dann auch noch die Differenz zwischen der Anzahl seiner Siege und seiner Verluste. Dasselbe wird für Spieler B veranschlagt. Diese beiden Zahlen werden dann ins Verhältnis gesetzt.

Blaise Pascal kam noch mit einem anderen Vorschlag aus der Deckung. Der beruhte auf einem possierlichen Gedankenexperiment: Würde Spieler B das nächste Spiel gewinnen, so hätte er Gleichstand erreicht. Bei diesem ausgeglichenen Spielstand bekämen dann beide Spieler je eine Hälfte des Gesamteinsatzes.

Aber Spieler B hat ja bei Abbruch nicht Gleichstand erreicht, er besitzt nur eine bestimmte Chance auf Gleichstand. Diese Chance ist fifty-fifty. Denn er hat genau dieselbe Chance, das folgende achte Spiel zu verlieren, wie es zu gewinnen. Deshalb bekommt er nur die Hälfte von der Hälfte der Gesamtsumme, also 1/4.

Entsprechend erhält Spieler A 3/4, also dreimal so viel. Der Gesamteinsatz wird somit im Verhältnis 3:1 zugunsten von Spieler A aufgeteilt. Das sind 21 Dukaten für ihn und 7 für seinen Gegenspieler.

Pascals Überlegung bei seinem Gedankenspielchen ist ziemlich kreativ. Denn sie enthält ein für damalige Zeiten ganz neues Element: Er bezieht den möglichen Weiterverlauf der Spielserie in die Zukunft mit ein. Dieses Weiterdenken in die Zukunft ist in seiner Ideenkette der Star der Stunde. Denn so ist vorher noch nie gedacht worden.

Pierre de Fermat hat die Denkweise von Pascal noch etwas verfeinert und systematisiert. Pascal hatte ja, wie wir gerade gesehen haben, schon den Fortgang berücksichtigt. Auch Fermat setzt die Spielserie in Gedanken fort. Aber nicht allein den Ausgang der nächsten Runde. Er bezieht alle möglichen Verläufe der Spielrunden bis zum Gesamtsieg eines der beiden Spieler ein. Dann zählt er ab, bei wie vielen dieser Verläufe Spieler A und bei wie vielen Spieler B gewinnt. Den Gesamteinsatz teilt er anschließend im Verhältnis dieser beiden Zahlen auf.

Setzten wir die von Pascal und Fermat gefertigte Ideen-Collage mal konkret um: Leicht erkennbar kann die Spielserie nur höchstens noch zwei weitere Spiele dauern, bis der Sieger feststeht. Die folgende Tabelle zeigt alle möglichen Verläufe auf:

Sieger von Spiel 8Sieger von Spiel 9Gesamtsieger
AAA
ABA
BAA
BBB

Demnach ist Spieler A der Sieger in drei Fällen und Spieler B Sieger in nur einem Fall.

Um von dieser Fallauszählung zu einer Aufteilung der Einzahlungssumme zu kommen, argumentierte Fermat, dass alle vier möglichen Verlaufsformen dieselben Chancen haben. Und dass deshalb die Gewinnaussichten von Spieler A dreimal so groß sind wie die von Spieler B. Folglich sollte er auch von dem eingezahlten Geld dreimal so viel erhalten wie Spieler B. Das ist derselbe Schluss wie bei Pascal: 21 Dukaten für Spieler A, 7 Dukaten für Spieler B.

Diese Aufteilung hat sich mit der Zeit unter den Mathematikern als die fairste durchgesetzt.

Nicht überraschend, dass es die Mathematik war, die die ersten handfesten Dinge zum Zufall sagen konnte. Mathe hilft. Gilt bis heute.

Bis heute bleibt sie die Wissenschaft, die intellektuell den Zufall zähmt. Dabei ist es auch ihr natürlich nicht möglich, den Zufall durch Rechnung auszuschließen, aber immerhin doch möglich, die Gesetze und Regeln, nach denen er funktioniert, nach und nach immer besser zu verstehen. Wie es mal jemand etwas schnodderig auf den Punkt brachte: »Zwar ist der Zufall zufällig, aber er muss dabei verdammt viele Gesetze erfüllen.« Fürwahr!

So viel zum Anfang der Analyse des Zufalls.

Kein schlechter Anfang für dieses Buch, wie ich finde. Eigentlich sogar ein ganz guter. Und wie ein Sprichwort sagt, das ich mir gerade ausgedacht habe: Nicht alles, was gut anfängt, muss unbedingt schlecht enden. Ein gutes Ende ist natürlich auch für dieses Buch angestrebt. Doch vor dem Ende kommt noch der Teil mit allem, was ich mir für die Zeit davor überlegt habe. Und der beginnt jetzt.

Zur gebührenden Einstimmung darauf will ich erst noch schnell versuchen, möglichst effektvoll zu schweigen. Dann melde ich mich wieder mit der nächsten Überschrift.

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