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Das Chaos meistern

Manche Systeme mit chaotischem Verhalten kann man nun beherrschen. Neuartige Regelungstechniken erlauben, Laser, elektronische Schaltkreise und sogar arrhythmisch schlagende Tierherzen zu stabilisieren.

Wozu ist Chaos überhaupt nütze? Nach allgemeinem Verständnis gilt es als der Inbegriff von Unzuverlässigkeit, Unberechenbarkeit und damit Unbrauchbarkeit. Dem entspricht die wissenschaftliche Definition: Ein System ist chaotisch, wenn niemand vorhersagen kann, wie es sich über längere Zeit verhalten wird.

Aus diesem Grunde pflegen die Ingenieure sich mit Chaos bislang nur auf eine einzige Art zu befassen: Sie unterdrücken es. Wir halten diese Strategie für etwas kurzsichtig. Innerhalb der letzten Jahre konnten wir und unsere Kollegen zeigen, daß Chaos beherrschbar und anwendbar, ja sogar in besonderem Maße nützlich sein kann.

So ist es bereits gelungen, die Leistung von Lasern zu erhöhen, die Ausgangssignale elektronischer Schaltkreise zu synchronisieren, oszillierende chemische Reaktionen zu kontrollieren, unregelmäßig schlagende Tierherzen zu stabilisieren und digital übermittelte Nachrichten zu Sicherheitszwecken zu verschlüsseln. Schon bald, so denken wir, werden auch die Praktiker das Chaos nicht mehr fürchten, sondern sich ihm konstruktiv zuwenden.

Für diese überraschende Prognose gibt es mindestens zwei Gründe. Zum einen setzt sich chaotisches Verhalten aus vielen an sich regelmäßigen Verhaltensmustern zusammen, von denen normalerweise keines dominiert. Durch kleine, geschickt angebrachte Störungen kann man jedoch eines dieser Muster beherrschend werden lassen. Da chaotische Systeme sehr schnell zwischen verschiedenen dynamischen Verhaltensweisen wechseln können, sind sie ungewöhnlich flexibel.

Zum anderen kann chaotisches Verhalten, obgleich es unvorhersagbar ist, sehr wohl deterministisch sein. Wenn zwei nahezu identische chaotische Systeme geeigneten Typs durch gleiche Steuersignale angetrieben werden, liefern beide dasselbe – unvorhersagbare – Ausgangssignal. Dies hat bereits etliche interessante Anwendungen in der Kommunikationstechnik gefunden.

Nichtlinearität: Voraussetzung für Chaos

Länger als ein Jahrhundert befaßten sich fast ausschließlich wenige Theoretiker mit der schwierigen Materie. Ihnen verdanken wir etliche der Ideen, die bisher allen Anwendungen zugrunde liegen.

Die meisten in der Natur vorkommenden Systeme sind nichtlinear. Das bedeutet insbesondere, daß Ursache (zum Beispiel eine von außen auf das System wirkende Kraft) und Wirkung (das Systemverhalten) nicht in einer einfachen, durchschaubaren Beziehung zueinander stehen. Chaotische Systeme sind nun nicht nur nichtlinear, sondern dadurch ausgezeichnet, daß sie empfindlich von den Anfangsbedingungen abhängen: Wenn zwei nahezu identische Systeme sich zu einem gewissen Anfangszeitpunkt auch nur minimal unterscheiden, werden ihre Zustände nach kurzer Zeit schon sehr verschieden sein.

Für den flüchtigen Beobachter scheinen chaotische Systeme sich sogar völlig zufällig zu verhalten. Gleichwohl entdeckt man bei genauer Analyse eine Ordnung. Der irische Mathematiker, Physiker und Astronom William Rowan Hamilton (1805 bis 1865), der deutsche Mathematiker Carl Gustav Jacob Jacobi (1802 bis 1851) und einige ihrer Zeitgenossen entwickelten eines der wesentlichen Konzepte zum Verständnis nichtlinearer Dynamik: den Begriff des Zustandsraumes.

In jeder mathematischen Gleichung, die ein dynamisches System beschreibt, stehen einerseits die Variablen, deren Wert sich im allgemeinen mit der Zeit ändert; sie definieren den Zustand des Systems zum jeweiligen Zeitpunkt. In einem mechanischen System sind das beispielsweise Position und Geschwindigkeit eines beweglichen Teils. Andererseits gibt es in der Regel Parameter, die beim Start des Systems gesetzt sind, dann aber durch dessen Dynamik nicht mehr verändert werden, wie etwa die effektive Länge eines Teils oder die Drehzahl eines Antriebsmotors.

Der Zustandsraum ist nun ein Koordinatensystem, das für jede Variable des Systems eine Achse enthält. Ein Punkt darin entspricht also dem Zustand des Systems zu einem gegebenen Zeitpunkt. Während der Systemzustand sich mit der Zeit ändert, wandert dieser Punkt im Zustandsraum und zeichnet eine Kurve, die Bahn oder Trajektorie des Systems. An ihr kann man dessen Geschichte ablesen.

Chaotische Systeme sind durch komplizierte Trajektorien ausgezeichnet. Hingegen haben lineare Systeme sehr einfache Bahnen, etwa geschlossene Kurven, die immer wieder durchlaufen werden (Kasten auf Seite 48).

Häufig strebt (in linearen wie in nichtlinearen Systemen) der Systemzustand einem stabilen Gleichgewicht zu. Dem entspricht, daß der wandernde Punkt im Zustandsraum sich dem Gleichgewichtspunkt auf die Dauer immer mehr nähert, als würde von diesem eine Anziehungskraft ausgehen. Ein solcher Punkt heißt daher auch Attraktor.

Die Bahn eines chaotischen Systems ist längst nicht so geordnet, gleichwohl nicht gänzlich regellos: Auf die Dauer verläuft sie wieder und wieder durch gewisse Bereiche des Zustandsraumes und meidet andere. Es gibt zwar im allgemeinen keinen punktförmigen Attraktor, aber häufig einen ausgedehnten Bereich, der auf die Trajektorie eine ähnliche Anziehungskraft auszuüben scheint: einen sogenannten chaotischen Attraktor. Gerät der Systemzustand irgendwann in seinen Anziehungsbereich, so wird er zu ihm hingezogen, und nach hinreichend langer Zeit ist es praktisch unmöglich zu unterscheiden, ob der Zustand sich außerhalb oder innerhalb des Attraktors befindet. Man sagt vereinfachend, die Bahn verlaufe „auf dem Attraktor“.

Kennt man ihn, so hat man in einem gewissen Sinne das Wesentliche des Systems erfaßt. Seine Gestalt ist durch die Gleichung des Systems und die Parameter bestimmt; dagegen ist sie unabhängig vom Anfangszustand des Systems.

Wenn man also die Trajektorie eines chaotischen Systems beobachtet, kann man zwar nicht vorhersagen, wo auf dem Attraktor sich das System nach einiger Zeit befinden wird. Doch der chaotische Attraktor bleibt stets derselbe, unabhängig davon, wann man ihn mißt. Wer ausreichend Information über ihn zur Verfügung hat, kann sich mit ihrer Hilfe das Chaos dienstbar machen.

Synchronisiertes Chaos

Im Jahre 1989 entdeckte einer von uns (Pecora), daß sich aus elektronischen Schaltkreisen ein chaotisches System bauen läßt, dessen Teile sich völlig synchron verhalten. Es ist zwar unmöglich, zwei voneinander isolierte chaotische Systeme zu synchronisieren; auch wenn sie praktisch identisch wären, würden sie nach sehr kurzer Zeit außer Takt geraten, denn jede noch so kleine Differenz zwischen ihnen wüchse mit der Zeit an. Man kann aber in bestimmten Fällen einzelne Teile eines Systems so anordnen, daß sie sich auf identische Weise chaotisch verhalten. Das gilt selbst dann, wenn diese Komponenten räumlich weit voneinander entfernt sind; deshalb läßt sich synchronisiertes Chaos für Kommunikationszwecke nutzen.

Für das Verständnis eines solchen Systems ist der Stabilitätsbegriff wichtig. Man nennt ein System stabil, wenn sich seine Trajektorie durch den Zustandsraum bei kleinen Störungen nur wenig ändert. Der russische, an der Petersburger Akademie der Wissenschaften tätige Mathematiker Alexander M. Ljapunow (1857 bis 1918) erkannte, daß man nur eine einzige Zahl braucht, um anzugeben, wie ein System auf eine kleine Störung reagiert: Er teilte dazu die Größe der Störung zu einem bestimmten Zeitpunkt durch deren Größe einen Moment später, führte diese Berechnung für verschiedene Zeitintervalle durch und mittelte über die Resultate.

Die so erhaltene Größe, die man den Ljapunow-Faktor nennen könnte, beschreibt, wie stark sich im Mittel eine kleine Störung eines Systems fortpflanzen wird. Ist der Faktor kleiner als eins, wird sie auf die Dauer gedämpft, und das System ist stabil. Im anderen Fall wird die Störung anwachsen; ein solches System ist instabil.

Die Mathematiker pflegen allerdings nicht mit dem Faktor selbst, sondern mit seinem Logarithmus – dem Ljapunow-Exponenten – zu rechnen. Ein System ist genau dann stabil, wenn sein Ljapunow-Exponent kleiner als null ist. Alle chaotischen Systeme haben einen Ljapunow-Exponenten größer als null und sind somit stets instabil. Dies ist der Grund für die Unvorhersagbarkeit des Chaos.

Die Teile eines chaotischen Systems, die man miteinander synchronisieren will, müssen freilich stabil sein. Das heißt nicht, daß das System insgesamt nicht chaotisch sein könnte. Falls zwei nahezu gleiche stabile Komponenten durch dasselbe chaotische Signal angetrieben werden, wird es so aussehen, als ob sich beide chaotisch verhielten. Doch werden die beiden stabilen Teile Abweichungen voneinander eher unterdrücken denn vergrößern, wodurch sich eine Möglichkeit für synchronisiertes Chaos eröffnet.

In dem Prototyp eines elektronischen Geräts, den Pecora gemeinsam mit Thomas L. Carroll vom Naval Research Laboratory in Washington entwickelt hat, dient ein gewisser – stabiler – Teil eines gewöhnlichen chaotischen Systems zur Erzeugung von synchronem Chaos. Pecora und Carroll isolierten zunächst dieses Teilsystem vom Rest des Systems und bauten es in doppelter Ausfertigung. Beide Exemplare wurden dann vom Rest des Systems mit dem gleichen chaotischen Signal angesteuert (Bild 2).

Falls die beiden zu synchronisierenden Teilsysteme negative Ljapunow-Exponenten haben, also stabil sind, werden sie sich zwar chaotisch, aber absolut synchron zueinander verhalten. Ihre Stabilität garantiert, daß kleinere Störungen vollständig weggedämpft werden, und deshalb reagieren sie auf die – beliebig komplizierten – Signale vom Restsystem auf praktisch die gleiche Art.

Vor dem Bau eines realen Geräts schrieb Pecora, um das Prinzip zu demonstrieren, zunächst eine Computersimulation, die auf dem chaotischen Lorenz-Attraktor beruhte. Der amerikanische Meteorologe Edward N. Lorenz hatte 1963 chaotisches Verhalten in einer Computersimulation des Wettergeschehens gefunden. Sein System hat drei dynamische Variablen und entsprechend einen dreidimensionalen Zustandsraum. Zeichnet man die Bahnkurve des Systems, erhält man die schmetterlingsartige Figur, die unter dem Namen Lorenz-Attraktor populär geworden ist (siehe „Chaos“ von James P. Crutchfield, J. Doyne Farmer, Norman H. Packard und Robert S. Shaw, Spektrum der Wissenschaft, Februar 1987, Seite 78).

In seiner Computersimulation verwendete Pecora eine der drei Variablen des Lorenz-Systems als Steuersignal. Das verbleibende Teilsystem aus den anderen beiden programmierte er in doppelter Ausfertigung. Obwohl die beiden Exemplare zu Beginn der Simulation wegen unterschiedlicher Anfangsbedingungen unterschiedliche Ausgangssignale lieferten, konvergierten sie sehr schnell und erzeugten dann völlig synchrone, wenngleich chaotische Signale. Im Zustandsraum begannen die Trajektorien beider Systeme an unterschiedlichen Punkten, bewegten sich aufeinander zu und tanzten schließlich in perfekter Harmonie auf ihren – identischen – chaotischen Attraktoren.

Bis zu dieser Entdeckung hatten die Wissenschaftler keinen Anlaß anzunehmen, daß die Stabilität eines Teilsystems und die des Gesamtsystems voneinander unabhängig sein könnten. Auch hätte niemand geglaubt, daß ein von einem chaotischen Signal getriebenes nichtlineares System stabil sein könnte.

Stabilität hängt nämlich nicht nur von den Eigenschaften des Teilsystems ab, sondern auch vom Steuersignal. Je nach der Art des treibenden chaotischen Signals kann ein Teilsystem stabil sein oder auch nicht. Die Kunst besteht darin, ein System zu finden, das auf ein chaotisches Steuersignal einer gegebenen Art stabil reagiert. Mathematische Modelle können gelegentlich einen Hinweis darauf geben, ob ein gewisses System stabil sein wird, doch sind solche Vorhersagen im allgemeinen schwierig.


Geheime Nachrichtenübermittlung

Bei diesen Untersuchungen erkannte Carroll, daß synchronisiertes Chaos für die vertrauliche Kommunikation genutzt werden könnte. Nehmen wir beispielsweise an, daß Bob an Alice eine geheime Nachricht übermitteln will. Dazu verwendet er ein Gerät, das ein chaotisches Steuersignal liefert, mit einem Teilsystem, das auf dieses Steuersignal in stabiler Weise reagiert. Alice besitzt nur ein Exemplar des Teilsystems. Bob übersetzt nun seine geheime Nachricht in ein elektronisches Signal und addiert dieses zu dem chaotischen Ausgangssignal seines Systems. Anschließend überträgt er sowohl die so codierte Nachricht als auch das Steuersignal (Bild 3).

Wer diese Signale abhört, wird nur chaotisches Rauschen feststellen, aber keinerlei Informationen daraus entnehmen können (es sei denn, er hätte auch ein Exemplar des stabilen Teilsystems). Alice hingegen speist das empfangene Steuersignal zunächst in ihr Teilsystem ein, das daraufhin das chaotische Ausgangssignal von Bobs Teilsystem getreulich reproduziert. Dies kann sie nun von der codierten Nachricht subtrahieren und erhält so die ursprünglichen Daten.

Allerdings gibt es, wie Carroll gezeigt hat, relativ einfache Tricks, um die Information aus einem chaotischen Signal dieser Art doch herauszufiltern. Für eine praktisch anwendbare, sichere Übermittlung wird man die zu schützende Nachricht und das verschleiernde Chaossignal nicht einfach addieren, sondern größeren Scharfsinn aufwenden müssen.

Forscher am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, an der Staatsuniversität von Washington in Seattle und an der Universität von Kalifornien in Berkeley experimentieren deshalb mit neuen Kombinationen chaotischer Teilsysteme für Zwecke der Signalverarbeitung und Kommunikation. Wir haben unsere Arbeit ebenfalls fortgesetzt und ein chaotisches System gefunden, das wie eine phasengekoppelte Regelschleife (PLL-Schaltung nach phase locked loop) arbeitet. Solche Regler kompensieren beispielsweise in UKW-Empfängern schleichende Veränderungen der eingestellten Empfangsfrequenz durch Anpassung elektrischer Parameter.

Da Carroll und Pecora chaotische Signale so erfolgreich zur Steuerung stabiler Teile von chaotischen Systemen eingesetzt hatten, vermuteten sie, man könne auf die gleiche Weise auch stabile periodische Systeme steuern. Aufgrund dieser Idee fanden sie eine Reihe neuer vielversprechender Anwendungen.

Stellen wir uns zwei Systeme vor, die von demselben periodischen Signal angetrieben werden und einen nichtchaotischen Attraktor der Periode 2 haben; das bedeutet, daß jedes System in zwei Perioden des Steuersignals seinen Attraktor gerade einmal durchläuft. Werden die beiden Systeme an entgegengesetzten Punkten des gemeinsamen Attraktors gestartet, werden sie sich zwar auf ihm bewegen, aber nie in Gleichtakt fallen: Falls sie beim Start außer Phase waren, werden sie das auch immer bleiben.

Kürzlich haben nun andere Forscher entdeckt, daß man die Systeme in Phase bringen kann, wenn man das periodische Steuersignal durch ein chaotisches ersetzt – allerdings nicht irgendeines: Bei ungünstiger Wahl würden die angetriebenen Systeme selbst sich chaotisch verhalten, was in diesem Falle unerwünscht wäre. Für einen ersten Versuch eignet sich ein Signal aus einem System, das ursprünglich von dem Tübinger Chemiker Otto E. Rössler stammt. Das Rösslersche Signal ist fast periodisch und ähnelt einer Sinuswelle, deren Amplitude und Wellenlänge von Periode zu Periode in zufälliger Weise ein wenig verfälscht werden. Solche Signale, die man als pseudoperiodisch bezeichnet, lassen sich erzeugen, indem man im Prinzip zu einem periodischen Signal etwas Chaos addiert. Werden mehrere identische Systeme, die sämtlich Attraktoren mit Periode zwei oder größer haben, mit einem geeigneten pseudoperiodischen Signal angetrieben, schwingen sie schließlich alle im Gleichtakt (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, Mai 1992, Seite 18).

Diese neue Anwendung chaotischer Signale konnte Carroll erstmals 1990 an elektronischen Schaltkreisen demonstrieren (Bild 5). Seine von verschiedenen pseudoperiodischen Signalen einschließlich des Rösslerschen angetriebenen Systeme gerieten zwar immer wieder für kurze Zeit außer Phase, denn geeignete elektronische Schaltkreise vollkommen identisch zu bauen ist technisch unmöglich. Immerhin gelingt es, die Schaltungen etwa 90 Prozent der Zeit in Phase zu halten.

Das OGY-Verfahren: gezielte Beeinflussung

Während etliche Wissenschaftler das Chaos als solches zu nutzen versuchen, bemühen sich andere, ein chaotisches System gleichsam zu disziplinieren. Ein Schlüssel dazu liegt in der Erkenntnis, daß ein chaotischer Attraktor eine Kombination unendlich vieler instabiler periodischer Verhaltensmuster ist.

Ein einfaches Beispiel besteht aus einem Motor und einem Gewicht, die über eine nichtlineare (nicht dem Hookeschen Gesetz gehorchende) Feder gekoppelt sind (Kasten Seiten 48). Der Motor bewegt die Feder mit einstellbarer Amplitude auf und ab. Die Variablen des Systems sind die Position des Gewichtes und seine Geschwindigkeit. Diese beiden Koordinaten spannen den (zweidimensionalen) Zustandsraum auf. Bei geringer Auslenkung wird das Gewicht sich mit derselben Frequenz wie der des Motors periodisch auf und ab bewegen. Im Zustandsraum ergibt dies eine geschlossene Bahn – im Fachjargon Orbit genannt – mit Periode 1 (als Zeiteinheit gilt eine volle Schwingung der Motorbewegung).

Erhöht man die Amplitude (oder die Frequenz) der erzwungenen Schwingung etwas, so wird dieser Orbit instabil. Die Bewegung des Gewichtes wird komplizierter: Sie wiederholt sich erst nach zwei vollen Schwingungen des Motors. Entsprechend wird die Trajektorie im Zustandsraum zu einer Doppelschleife, einem Orbit der Periode 2. Erhöht man die äußere Anregung weiter, wird auch dieser instabil, und ein Orbit der Periode 4 tritt in Erscheinung. Ist aber die antreibende Schwingung groß genug, werden alle periodischen Orbits instabil, und es zeigt sich ein chaotischer Attraktor (Bild 4 links). Diesen kann man im strengen Sinne als eine Überlagerung instabiler periodischer Orbits interpretieren.

Vor vier Jahren entwickelten Edward Ott, Celso Grebogi und James A. Yorke von der Universität von Maryland in College Park ein Verfahren, mit dem man ein chaotisches System dazu veranlassen kann, einem beliebig vorgebbaren unter den unendlich vielen instabilen Orbits zu folgen. Im Prinzip ist dieses (nach den Initialen seiner Erfinder benannte) OGY-Verfahren einfach.

In einem ersten Schritt verschafft man sich eine zwar begrenzte, aber aufschlußreiche Information über das System, indem man seinen Zustand nicht permanent, sondern nur zu ausgewählten Zeitpunkten aufzeichnet – beispielsweise in konstanten Zeitabständen, etwa jedesmal, wenn der antreibende Motor die Feder maximal nach oben auslenkt, oder bei bestimmten Anlässen, etwa jedesmal, wenn das Gewicht die Gleichgewichtsposition durchläuft. In jedem Falle gewinnt man aus einer sehr komplizierten Kurve im Zustandsraum eine Folge von Punkten, mit der erheblich einfacher umzugehen ist.

Der zweite der genannten Fälle hat eine geometrische Veranschaulichung: Man legt in den Phasenraum eine Ebene (nämlich die Menge aller Punkte, die –bei beliebiger Geschwindigkeit – der Gleichgewichtsposition entsprechen) und zeichnet auf, wo und in welcher Reihenfolge die Trajektorie diese Ebene durchstößt. Man zerschneidet gewissermaßen den Attraktor und beobachtet, was sich auf der Schnittfläche abspielt (Bild 4 rechts). Da diese Technik auf Poincaré zurückgeht, spricht man von einem Poincaré-Schnitt.

Jedes Glied der so entstehenden Folge bestimmt eindeutig seinen Nachfolger: Die ganze Dynamik wird durch eine einzige – im allgemeinen unbekannte – Funktion beschrieben, nämlich eben diejenige, die einen Punkt auf seinen Nachfolger abbildet. Indem man diese Funktion immer wieder anwendet (iteriert), gewinnt man die gesamte Folge.

Wenn man – einfachster Fall – den Systemzustand immer dann mißt, wenn das periodische antreibende Signal einen Zyklus durchlaufen hat, erscheint ein Orbit der Periode 1 im Poincaré-Schnitt als ein einzelner Punkt. Die Iterationsfunktion bildet diesen Punkt auf sich selbst ab; er ist ein Fixpunkt dieser Funktion. Ein Orbit der Periode 2 wird durch zwei Punkte, Orbits höherer Ordnung werden durch entsprechend mehr repräsentiert.

In einem zweiten Schritt des Verfahrens läßt man nun das System so lange laufen, bis es in die Nähe des gewünschten periodischen Orbits gerät, und verändert die Parameter des Systems derart, daß die Stabilität dieses Orbits vergrößert wird; dadurch wird das System dazu neigen, auf dieser Bahn zu bleiben.

Vereinfacht gesprochen: Man weiß ungefähr, welchen Punkt des Poincaré-Schnitts das System als nächstes treffen wird, und verschiebt den gewünschten Fixpunkt so, daß er auf diesen Punkt zu liegen kommt. Man legt gewissermaßen dem System einen Fixpunkt in den Weg.

Eine Stärke des Verfahrens liegt darin, daß man nicht erst ein detailliertes Modell des chaotischen Systems erstellen muß. Ein bißchen Information über den Poincaré-Schnitt reicht aus. Deswegen ist das Verfahren auch für eine Vielzahl verschiedener chaotischer Systeme geeignet. Seine praktischen Schwierigkeiten liegen in der Auswahl eines Poincaré-Schnittes und in der Berechnung einer geeigneten Parameter-Änderung.

Im einzelnen untersucht man im Poincaré-Schnitt, wie sich das System in der Nähe des gewünschten Fixpunktes verhält: ob und mit welcher Geschwindigkeit es auf ihn zu- oder von ihm wegstrebt. Außerdem ist zu bestimmen, um wieviel sich der Orbit im Zustandsraum verschiebt, falls man die Kontrollparameter ändert. Diese Daten liefern die Informationen, mit denen man das chaotische System in Richtung des gewünschten Orbits beeinflussen kann.

Ändert man nun einen Kontrollparameter, wird allerdings auch der chaotische Attraktor verschoben und etwas deformiert. Im günstigen Fall veranlaßt der neue Attraktor das System dazu, dem gewünschten Orbit zu folgen. Anderenfalls wird der Kontrollparameter wieder geändert, um einen wieder anderen Attraktor mit den gewünschten Eigenschaften zu erzeugen.

Der ganze Prozeß ähnelt dem Balancieren einer Murmel auf einem Pferdesattel. Legt man sie in der Mitte des Sattels, wird sie entweder nach links oder nach rechts, aber sicherlich nicht nach vorne oder hinten rollen. Um also die Murmel am Herabfallen zu hindern, muß man den Sattel sehr schnell von links nach rechts oder umgekehrt bewegen. Analog muß man auch den Attraktor eines chaotischen Systems verschieben, um das System am Verlassen der gewünschten Trajektorie in der einen oder anderen Richtung zu hindern; und so wie die Murmel auf kleinste Bewegungen des Sattels reagiert, ist die Trajektorie eines chaotischen Systems sehr empfindlich gegen Änderungen des Attraktors.

Das Herausragende an den Arbeiten von Ott, Grebogi und Yorke war die Erkenntnis, daß die Gegenwart von Chaos bei der Steuerung dynamischen Verhaltens sogar von Vorteil sein kann. Wegen ihrer Empfindlichkeit folgen chaotische Systeme auch sehr schnell irgendwelchen Parameter-Änderungen.

Umsetzung in die Praxis

Im Jahre 1990 begannen Mark L. Spano und Steven M. Rauseo vom Naval Surface Warfare Center sowie einer von uns (Ditto), die Ideen von Ott, Grebogi und Yorke zu testen. Wir erwarteten keinen raschen Erfolg, denn gemeinhin bestehen nur wenige Theorien die erste experimentelle Überprüfung. Aber diesmal klappte es sofort.

Unsere Versuchsanordnung besteht aus einem Metallstreifen, dessen Steifheit durch ein angelegtes Magnetfeld verändert werden kann. Sein unteres Ende ist festgeklemmt, während das obere nach rechts und links schwingen kann. Wird der Streifen nun einem magnetischen Wechselfeld mit einer Periode von etwa einer Sekunde ausgesetzt, schlägt er chaotisch aus (Bild 1). Ein zweites magnetisches Feld dient als Steuerparameter.

Unser Ziel war es, die chaotische Bewegung mit Hilfe des OGY-Verfahrens in eine periodische Bewegung überzuführen. Dazu erzeugten wir zunächst einen Poincaré-Schnitt des chaotischen Attraktors, indem wir einmal pro Schwingung des angelegten Feldes die Position des Metallstreifens bestimmten. Ein Computer speicherte und analysierte die Daten; dann berechnete er, wie der Kontrollparameter zu ändern sei, damit das System einem Orbit der Periode 1 durch den Zustandsraum folgte. Auf diese Weise gelang es uns überraschend schnell, das Verhalten des Metallstreifens auf den gewünschten, an sich instabilen Orbit zu stabilisieren. Selbst die üblichen Meßfehler und andere zufällige Einflüsse waren nicht sonderlich störend.

Drei Tage lang blieb der Streifen in diesem Schwingungsmodus; dann wurde es uns langweilig. Wir versuchten, das System durch hinzugefügtes Rauschen zu stören, oder führten es Besuchern vor (dann mißlingt normalerweise jedes Experiment). Es ließ sich nicht beirren, und wir konnten es schließlich Orbits der Perioden 1, 2 und 4 durchlaufen lassen sowie zwischen den verschiedenen Verhaltensweisen nach Belieben hin- und herschalten.

Wenig später erfuhr Earle R. Hunt von der Ohio-Universität in Athens von unserem Erfolg und beschloß, entsprechende Experimente mit elektronischen Schaltkreisen anzustellen. Mit einem System aus handelsüblichen Bauelementen konnte er Orbits mit Perioden bis zu 23 bei Ansteuerfrequenzen bis zu 50 Kilohertz realisieren. Er hat damit nicht nur gezeigt, daß man Chaos in elektronischen Schaltungen steuern kann, sondern auch, daß gelegentlich wissenschaftlicher Fortschritt mit sehr wenig Geld zu erzielen ist.

Hunts Gerät, bei dem er eine Variante des OGY-Verfahrens verwendet, hat den besonderen Vorteil, daß es nicht erst einen Poincaré-Schnitt berechnen muß, sondern die nötigen Steuerungsinformationen direkt aus Messungen des Systemverhaltens entnimmt. Deshalb ist es besonders für schnell veränderliche Systeme geeignet.

Stabilisierung von Lasern

Erst als Hunt davon auf der ersten Konferenz über experimentelles Chaos im Oktober 1991 berichtete, stellte sich heraus, daß er ein Problem gelöst hatte, ohne von dessen Existenz zu wissen. Seine Befunde kamen nämlich Rajarshi Roy und seinen Kollegen am Georgia Institute of Technology in Atlanta zupaß. Die arbeiteten mit Kristallen, welche die Frequenz einfallenden Laserlichts verdoppeln oder – was dasselbe ist – seine Wellenlänge halbieren. Der von Roy benutzte Laser erzeugte Infrarotlicht bei einer Wellenlänge von 1064 Nanometern, was der Kristall in grünes Licht mit 532 Nanometern Wellenlänge umwandelte. Der Kristall funktionierte aber nicht perfekt; bei bestimmten Orientierungen fluktuierte die Intensität des grünen Lichtes chaotisch.

Roy wollte dieses Chaos im Lasersystem unter Kontrolle bekommen, konnte aber das OGY-Verfahren nicht anwenden, weil ein Poincaré-Schnitt für dieses System kaum zu bestimmen war. Zudem war er skeptisch, ob ein Computer die erforderlichen Berechnungen schnell genug durchführen würde. Keine zwei Wochen, nachdem er von Hunts Methode erfahren hatte, gelang es ihm, den Prototyp eines Reglers für den Laser zu konstruieren, und er funktionierte zur Überraschung des Teams auf Anhieb: Innerhalb weniger Tage ließen sich damit Perioden der Ordnung 23 bei Steuerfrequenzen bis zu 150 Kilohertz erzwingen.

Bald konnte Roy chaotische Fluktuationen in der Intensität des Laserlichtes unterdrücken und hochperiodische, instabile Oszillationen stabilisieren. Die Energie des Lasers wurde also auf die gewünschten Frequenzen gebündelt. Auf diese Weise kann man inzwischen Lasersysteme mit größerer Flexibilität und Stabilität als je zuvor konstruieren.

Andere Fortschritte in der Beherrschung von Chaos kamen gleichfalls der Laserforschung zugute. Ira B. Schwartz und Ioana A. Triandaf entwickelten gemeinsam mit Carroll und Pecora ein Verfahren namens tracking, mit dem man langsame Schwankungen der Systemparameter – ob nun durch interne Instabilitäten oder durch Veränderungen der äußeren Bedingungen ausgelöst – verfolgen und kompensieren kann. Dadurch vergrößert sich die Bandbreite der Zustände, in denen Chaos beherrschbar bleibt.

In den vergangenen Monaten ist tracking mit erstaunlichen Erfolgen bei chaotischen Schaltkreisen und Lasern angewandt worden. So blieb bisher ein Laser nur in einem sehr beschränkten Leistungsbereich stabil, weil die Steuerung nicht sonderlich gut abgestimmt war; allein durch die verbesserte Kontrolle kann man ein solches Gerät jetzt mit der 15fachen Ausgangsleistung betreiben.

Freilich muß man beim OGY-Verfahren häufig unangenehm lange warten, bis das System sich von selbst dem gewünschten Orbit auf dem chaotischen Attraktor genähert hat. Troy Shinbrot und seine Kollegen an der Universität von Maryland und vom Naval Surface Warfare Center haben mittlerweile Techniken dafür entwickelt, ein System aus einem beliebigen Anfangszustand sehr rasch in den gewünschten Orbit zu befördern. Beim Magnetstreifen-Experiment etwa schafften sie es mitunter 25mal so schnell wie ursprünglich wir.

Kontrolle der Herzschlagfrequenz

Auf der Konferenz im Oktober 1991 ergab sich auch ein erstes interdisziplinäres Projekt zur Beherrschung von Chaos in einem lebenden Organismus. Einer von uns (Ditto) und Spano sowie Alan Garfinkel und James N. Weiss von der Medizinischen Fakultät der Universität von Kalifornien in Los Angeles studierten einen isolierten Teil eines Kaninchenherzens. Durch Injektion von Strophantin in die Kranzgefäße lösten wir zunächst schnelle, irreguläre Kontraktionen des Muskelgewebes aus. Unter Stimulation mit elektrischen Impulsen, deren Frequenz nach einer Variante des OGY-Verfahrens geregelt war, stellte sich dann wieder ein regelmäßiger Schlagrhythmus ein. Manchmal konnten wir die Muskelkontraktionen sogar auf die normale Herzschlagfrequenz bringen. Periodische oder völlig zufällige Impulse hingegen halfen nicht gegen die Rhythmusstörungen und verstärkten sie sogar häufig.

Mittlerweile untersucht man bereits, ob sich mit Abwandlungen der OGY-Methode Herzrhythmusstörungen beim Menschen unterbinden lassen. Einige Forscher vermuten, daß diese Technik beim Kammer- oder Vorhofflimmern helfen könnte, lebensbedrohlichen Zuständen, bei denen das Herz kaum noch Blut fördert. In Zukunft gibt es vielleicht Defibrillatoren und Herzschrittmacher, bei denen man sich die Technik der Chaos-Kontrolle zunutze macht.

Wissenschaftler und Ingenieure haben gerade erst begonnen, die Vorteile von Geräten zu erkennen, in denen man Nichtlinearitäten und Chaos nutzt, statt sie zu vermeiden. Während lineare Systeme in der Regel einen einzigen Zweck erfüllen, können nichtlineare vielleicht mehrere Aufgaben gut erledigen. Nichtlinearität verspricht mehr Flexibilität, kürzere Reaktionszeiten und weitere ungewöhnliche Eigenschaften. Je besser wir die inhärenten Nichtlinearitäten natürlicher und technischer Systeme verstehen, desto eher werden wir das Chaos nicht nur ertragen, sondern es auch meistern können.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1993, Seite 46
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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