Direkt zum Inhalt

Der Anschlag galt der Wissenschaft



Wie fast alle reagierte auch ich auf den verheerenden Terroranschlag vom 11. September zuerst emotional – mit Entsetzen, Mitleid und Furcht. Dann beobachtete ich, wie bei vielen das Erschrecken in politisch-militärische Vergeltungsrhetorik umschlug: Hier sei der Zivilisation, der freien Welt, ja dem Abendland der Krieg erklärt worden; nur ein "Kreuzzug" (Bush) werde der feindlichen Hydra nacheinander alle Köpfe abschlagen können. Doch binnen weniger Tage begann eine dritte Phase der Auseinandersetzung: eine Vielfalt tastender Versuche, das Geschehene zu begreifen.

Eine Typologie dieser Versuche könnte grob zwei Gruppen von Interpretationen unterscheiden. Die eine sieht hinter dem Anschlag etwas absolut Fremdes, Feindliches, Böses, die pure Lust an der Zerstörung; es hätte wenig Sinn, hinter solchem Amoklauf etwas zu suchen, das zu verstehen wäre. Es gälte nur, sich in Zukunft mit allen Mitteln vor Wiederholungen zu schützen.

Die zweite, viel größere Gruppe von Deutungen versucht, das Geschehene als Botschaft zu lesen: Was wollten die Täter der Welt damit sagen? Der Anschlag traf Zentren von Welthandel und Militär der mächtigsten Industrienation. Einige Interpretatoren sehen darin eine politische Botschaft: eine Drohung im Namen der Armen gegen die Reichen. Demnach gelte es nun, nicht nur sicherheitstechnisch und militärisch, sondern vor allem politisch vorzubeugen. Insbesondere der Konfliktherd im Nahen Osten müsse endlich entschärft und einer Lösung näher gebracht werden. Ganz allgemein gelte es, die Schäden, die der Globalisierungsprozess lokal anrichte, abzufedern, etwa durch eine bessere Entwicklungspolitik.

So sehr man diesen Folgerungen zustimmen mag, für die ohnehin alles spricht, und so sehr man sich wünscht, dass die verbrecherische Tat wenigstens insofern doch etwas Gutes hätte, so bleibt doch auch diese Interpretation unbefriedigend. Nach allem, was bisher bekannt ist, agierten die Täter aus einem fast weltumspannenden Netzwerk, das wie eine religiös motivierte Sekte funktioniert. Nicht das von manchen unterstellte politische Anliegen motiviert deren fanatische Anhänger, sondern eher das Versprechen einer jenseitigen Belohnung für das Opfer des eigenen Lebens im Kampf gegen den Satan.

Wenn es den Attentätern um den Endkampf des Guten gegen das Böse ging, so frage ich mich, worin für sie das absolut Böse bestand und worin ihre Tat dem absolut Guten diente. Das Gute glaubten sie offenbar in einer sektiererischen Auslegung des Koran zu finden, wonach demjenigen, der im Kampf gegen das satanische Prinzip sein Leben opfert, ewige Glückseligkeit winken sollte. Aber was war für sie das absolut Böse?

Die simultane Attacke gegen World Trade Center und Pentagon missbrauchte die technische Infrastruktur der modernen Zivilisation – elektronische Kommunikation, Transport- und Verkehrsmittel – mit dem Ziel, diese technischen Lebensgrundlagen beispielhaft zu vernichten. Die Taten zielten eigentlich nicht auf Menschen. Die Opfer spielten im Kalkül der Selbstmord-Attentäter wohl eine ebenso untergeordnete Rolle wie ihr eigenes Leben. Ziel war der symbolische Weltuntergang der technischen Welt. Wenn dabei unzählige Nutznießer dieser Welt starben, umso besser. Der eigentliche Feind jedoch waren die technischen Kommunikationsknoten, von denen die moderne Welt abhängt.

Es ging nicht um konkrete politische Gegner, sondern um etwas so Abstraktes wie Gut und Böse, etwas so Jenseitiges wie Gott und Teufel, etwas so Unanschauliches wie moderne Wissenschaft und Technik.

Für diese Deutung sprechen die Auswirkungen auf die wissenschaftlich-technische Welt. Wie etwa die Magazine "Nature" und "Science" in ihren ersten Ausgaben nach dem Attentat berichteten, wurden internationale Kongresse abgesagt, Flugreisen zu ausländischen Kollegen storniert, Publikationen verzögert. Die nun diskutierten Kontrollverschärfungen und Sicherheitsmaßnahmen treffen die Scientific Community in ihrem Lebensnerv. Finanzmittel, die der Forschung zugute kommen sollten, werden in militärische und Sicherheitskanäle wandern. Der freie Austausch von Ideen wird behindert, Misstrauen gefördert.

Gegen die Unanschaulichkeit und Komplexität der durch die moderne Wissenschaft geprägten Fakten und Probleme setzten die Täter die denkbar einfachste Spaltung, eine primitive Polarisierung der Welt. Ihr gigantisches Verbrechen war in der Tat das anschaulichste, das je verübt wurde: wahrlich spektakulär, ein noch nie da gewesenes Medienereignis.

In ersten Interpretationen war davon die Rede, mit dieser Untat habe eine neue Ära des Krieges begonnen – wobei freilich der Gegner unsichtbar blieb und nicht einmal durch Bekennerschreiben erklärte, wogegen er kämpft. Doch tatsächlich wäre der neue Antagonismus sogar noch viel abstrakter als einst der Kalte Krieg. Damals beriefen sich beide konkurrierenden Systeme auf ihre Modernität und Wissenschaftlichkeit, beide suchten sich durch neue Errungenschaften zu übertrumpfen. In diesem Wettlauf unterlag letztlich dasjenige System, das den freien Austausch von Ideen unterdrückte. Jetzt hingegen gibt sich ein Feind von Wissenschaft und Technik überhaupt zu erkennen; seine Schreckenstaten sollen beweisen, dass diese Modernismen Teufelswerk sind. Die Welt soll stattdessen Kampfplatz zwischen Glauben und Unglauben werden.

Doch mit dem ungläubigen Zweifel an allen bloßen Behauptungen, die angeblich in heiligen Büchern stehen, nahm die Wissenschaft ihren Anfang. Nur wenn die Welt sich die Sichtweise der Attentäter aufzwingen ließe, hätten die Täter einen Sieg errungen. Es wäre auch ein Sieg über die Wissenschaft.

Denn gewiss sind die Attentäter keine Sendboten arabisch-islamischer Kultur. Diese hat selbst große Naturforscher wie Avicenna oder Al-Biruni hervorgebracht (SdW 5/2001, S. 74); wir rechnen mit arabischen Ziffern, auch Algebra und Algorithmus stammen aus dem Arabischen. Während in Europa finsteres Mittelalter herrschte, tradierte die arabische Kultur die geistigen Schätze der Antike.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 2001, Seite 94
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Kennen Sie schon …

Spektrum Kompakt – Hass - Wie er die Gesellschaft spaltet

Eine kritische Bemerkung, und ein Shitstorm droht. Ein anderes Aussehen, eine andere Meinung, ein anderer Lebensstil: Sofort greifen Kritiker ungehemmt an. Hass ist ein gefährliches und zerstörerisches Gefühl. Wie geht man selbst, wie geht eine Gesellschaft damit um?

Spektrum - Die Woche – Arche Truppenübungsplatz

In dieser Ausgabe widmen wir uns Truppenübungsplätzen, Profilern und Seuchen.

Spektrum - Die Woche – In der Welt

In dieser Ausgabe widmen wir uns der #MeToo-Debatte, den erneuerbaren Energien und der Abnahme von Gewalt.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.