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Physikerinnen in Deutschland: Der große kleine Unterschied

Immer mehr Frauen in Deutschland studieren Physik. Hoch motivierte, qualifizierte und engagierte Physikerinnen starten in ihr Berufsleben. Doch in Führungspositionen sind sie weiterhin unterrepräsentiert.


Experimentieren und Entdecken gehört zu den Lieblingsbeschäftigungen von Grundschülern – Mädchen wie Jungen gleichermaßen. Leuchtende Kinderaugen beobachten die Welt durch das erste selbst gebaute Periskop. Lernend mit allen Sinnen erforschen sie die Natur. Doch nur wenige Jahre später erscheint Schulkindern, und besonders Mädchen, das Schulfach Physik nicht sonderlich attraktiv. Eine Umfrage zum Image der Physik hat gezeigt: Jugendliche halten Personen, die sich für dieses Fach interessieren, im Allgemeinen für verklemmt, schlecht gekleidet – und männlich.

Was ist zwischen diesen Altersstufen passiert? Weshalb wählen naturbegeisterte Mädchen so selten einen Leistungskurs in Physik? Warum studieren so wenige Frauen dieses Fach, das hohes Ansehen und sehr gute Karriereaussichten bietet?

Wie eine aktuelle Studie der Universität Michigan in Ann Arbor belegt, wählen Mädchen und junge Frauen ihr Lieblingsfach häufig danach aus, ob sie darin etwas mit und für Menschen bewirken können. Zudem haben Frauen ein sehr breites und vielseitiges naturwissenschaftliches und technisches Interesse. Aber leider kommt dieser Gesichtspunkt in dem üblichen Physikunterricht oder in den Physiklehrbüchern entschieden zu kurz.

Dabei bieten Alltagsphysik und Fächer übergreifender Unterricht eine Fülle von Beispielen, die Mädchen genauso ansprechen wie Jungen. Luft und Wasser begeistern beide Geschlechter, Fahrrad und CD-Spieler ebenso. Prominenten Wissenschaftspaaren wie den Curies nachzuspüren vereint fachübergreifend Physik- und Chemie-, Geschichts- und Französischunterricht. Für das Selbstbild der Mädchen spielen in diesem Zusammenhang auch weibliche Vorbilder in Gestalt von Physiklehrerinnen eine wichtige Rolle. Sie können die Mädchen in ihrem Interesse an den Naturwissenschaften bestärken und fördern. Das ist umso wichtiger, weil Physikerinnen weit häufiger als ihre männlichen Kollegen berichten, dass ihnen von einem Physikstudium abgeraten wurde. Dieses ist nur einer von vielen erstaunlichen Befunden, die eine vom Arbeitskreis Chancengleichheit (AKC) der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) initiierte Umfrage zum Thema "Physikerinnen und Physiker im Beruf" zu Tage förderte ("Physik Journal", Februar 2002, S.22, oder online unter www.physikerin.de/umfrage.html).

High Potentials für die Physik

Tatsächlich begeistern sich inzwischen immer mehr junge Frauen für ein Physikstudium, wenngleich ihr Anteil immer noch deutlich unter 49 Prozent liegt, dem Frauenanteil im Durchschnitt aller Fächer. Wegen ihres breit und innovativ angelegten Interesses bevorzugen Frauen im Studium Vertiefungen wie Polymerphysik oder Astrophysik und interdisziplinäre Studiengänge wie Biophysik oder Medizinische Physik. Ihre Studienerfolge und Berufsaussichten sind dabei überdurchschnittlich gut. Um das Selbstbewusstsein dieser jungen Frauen in der männerdominierten Welt der Physik zu stärken, bietet sich Mentoring an, auch um ihren Blick für strukturelle Benachteiligungen zu schärfen. Zum Beispiel betreuen Studentinnen als Mentorinnen Schülerinnen und profitieren gleichzeitig als Mentees von den Erfahrungen und Beziehungen ihrer akademisch höher qualifizierten Kolleginnen.

Die weitere akademische Ausbildung der Physikabsolventinnen verläuft auf jeden Fall sehr zielstrebig. Frauen erarbeiten sich nicht nur zehn Prozent aller Diplome, sondern auch zehn Prozent aller Promotionen und acht Prozent aller Habilitationen in Physik, was auf hoch motivierte, qualifizierte und engagierte Wissenschaftlerinnen hinweist: High Potentials für die Physik! Damit unterscheidet sich dieses naturwissenschaftliche Fach fundamental vom Durchschnitt aller Fächer, bei dem sich der Frauenanteil von 46 Prozent beim Studienabschluss über 34 Prozent bei der Promotion bis auf 18 Prozent bei der Habilitation mehr als halbiert.

Bedeutet dieser Fortschritt in der akademischen Ausbildung nun auch, dass Physikerinnen und Physiker im Beruf die gleichen Chancen erhalten? Dieser Frage ist die Umfrage des AKC ebenfalls nachgegangen. Die Ergebnisse belegen, dass Physikerinnen viel seltener als Physiker leitende Positionen und die damit verbundenen Spitzengehälter erreichen – unabhängig davon, ob diese Frauen Kinder haben.

Im Durchschnitt beträgt der Einkommensvorsprung von Physikern gegenüber ihren weiblichen Kollegen 25 Prozent; die Differenz im Bruttoeinkommen beträgt bei den habilitierten Vollzeittätigen etwa 1000 Euro pro Monat. Ganz oben auf der Gehaltsskala stehen Physiker mit Kindern, während sich Physikerinnen mit Kindern ganz unten wiederfinden. Allerdings verdienen kinderlose Physikerinnen nur unwesentlich mehr als ihre Kolleginnen mit Nachwuchs. Von einer "Karrierebremse Kind" kann also keine Rede sein. Im Übrigen stellt die AKC-Umfrage auch fest, dass Physikerinnen häufiger als Physiker ganz auf Nachwuchs verzichten: Bei den über 45-Jährigen haben nur 49 Prozent der Physiker in der DPG keine Kinder, aber siebzig Prozent der Physikerinnen. Des Weiteren leben Physikerinnen überwiegend in Akademikerpaaren (so genannten Dual Career Couples, DCCs), die als privilegierte Minderheit gelten und mit Anti-Nepotismus-Regeln an einer gemeinsamen Berufsausübung gehindert werden. Ähnliche Ergebnisse werden zum Beispiel vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin oder vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge berichtet (online zugänglich unter http://web.mit.edu/fnl/women/).

Offensichtlich spielen die individuellen Entscheidungen der Physikerinnen (zum Beispiel für oder gegen Kinder) nur eine sehr geringe Rolle – entgegen den allgemeinen Erwartungen, auch jüngerer Wissenschaftlerinnen.

Entscheidend scheint hier zu Lande etwas anderes zu sein: Selbst wenn hoch motivierte Physikerinnen ihr Können unter Beweis gestellt haben, wird es häufig von ihren Vorgesetzten und Kollegen weniger anerkannt. Ursache ist, dass Frauen die Entscheidung "Familie oder Beruf?" zugeschoben und ihnen geringerer beruflicher Ehrgeiz zugeschrieben wird als Männern, denen im traditionellen Gesellschaftsbild noch immer die Rolle des Ernährers zukommt und für die deshalb "Familie und Beruf" der selbstverständliche Lebensentwurf zu sein scheint. Wie die AKC-Umfrage ergab, fördern Vorgesetzte ihre Mitarbeiterinnen darum deutlich weniger als ihre männlichen Mitarbeiter – beispielsweise, indem sie Frauen seltener auffordern, auf einer Tagung vorzutragen oder etwas zu veröffentlichen.

Vom schwachen Geschlecht wird besondere Stärke erwartet

Paradigmatisch zeigt auch eine Statistik der eingeladenen Vorträge bei den jährlichen Frühjahrstagungen der DPG einen Frauenanteil von nur 4,3 Prozent – ohne ansteigende Tendenz im Laufe der Jahre. Die MIT-Studie weist zudem auf die subtile und zugleich nachdrückliche Häufung von Nachteilen etwa bei Gehalt, Raumausstattung und Auszeichnungen hin. Diese während des beruflichen Aufstieges erlebten Benachteiligungen demotivieren die Wissenschaftlerinnen nicht nur, sondern bremsen sie letztlich auch aus.

Ferner hat eine schwedische Studie offen gelegt, dass Männer und Frauen mit gleicher fachlicher Kompetenz, gemessen an Zahl und Qualität der Publikationen, sehr unterschiedlich bewertet werden: Die am besten bewerteten Frauen liegen in etwa gleichauf mit den am schlechtesten bewerteten Männern. Um die gleiche Bewertung zu erhalten, hätten die Frauen 2,5-mal produktiver sein müssen als gleich qualifizierte Männer. Sie können also nur Karriere machen, wenn sie überdurchschnittliche Leistungen erbringen: Das vermeintlich schwache Geschlecht muss offenbar besonders stark sein.

Tatsächlich folgen alarmierende Zahlen für die Leitungspositionen im Hochschulbereich: An deutschen Hochschulen werden nur knapp drei Prozent aller Professuren im Fach Physik von Frauen besetzt – damit gehört die Bundesrepublik international zu den Schlusslichtern. Führend ist Portugal mit einem prozentualen Frauenanteil von 26 Prozent an den Physikprofessuren, gefolgt von der Türkei mit elf Prozent. Frankreich hat mit immerhin knapp neun Prozent dreimal so viele Frauen auf Physikprofessuren wie Deutschland. In den USA sind zwar auch zehn Prozent aller "Associate Professors" weiblich, aber nur 3,6 Prozent aller "Full Professors". Und in der Wirtschaft sieht es im Allgemeinen auch nicht besser aus, da Frauen nur etwa halb so viele Führungspositionen besetzen wie im akademischen Bereich.

Wie können wir an diesem Zustand etwas ändern? Und mit welchen praktischen Maßnahmen?

Ziel ist eine ganzheitliche Wahrnehmung und Förderung des (Hochschul-) Personals und damit ein Klima, das Physikerinnen und Physikern gerecht wird und es beiden erleichtert, Familie und Beruf zu vereinbaren. Jeder Lehrstuhl und jeder Fachbereich Physik kann Profil bildend und kostenneutral handeln, indem er mehr Physikerinnen zu Vorträgen ins Kolloquium einlädt, für Auszeichnungen vorschlägt und auf freie Stellen beruft. Analoges gilt für die Wirtschaft, indem sie zum Beispiel die Familienphase als zeitlich begrenzte Reduktion der Erwerbstätigkeit der High Potentials betrachtet.

Die DPG ihrerseits hat 2002 den jährlich zu vergebenden Hertha-Sponer-Preis eingeführt, um Nachwuchswissenschaftlerinnen zu fördern und zu einer akademischen Laufbahn zu ermutigen. Benannt ist die Auszeichnung nach einer der ersten Frauen in Deutschland, die sich in Physik habilitierten. Die International Union of Pure and Applied Physics (IUPAP), der Dachverband der physikalischen Gesellschaften weltweit, hat umfassende Resolutionen formuliert, um eine gerechte Beteiligung von Physikerinnen zu erreichen. Beispielsweise sollen Sprache und Bildmaterial geschlechtergerecht verwendet werden. Statt der Länge der Arbeitszeit oder der Zahl der Publikationen sollte die Qualität der Arbeit den Ausschlag geben. Starre Altersgrenzen bei Stellenbesetzungen, Stipendien oder Auszeichnungen sind durch das Konzept eines akademischen Alters zu ersetzen, das zum Beispiel Kinderbetreuungszeiten berücksichtigt. Rahmenrichtlinien für Dual Career Couples würden gegenüber Einzelfalllösungen viel bewirken, wie es amerikanische Universitäten seit vielen Jahren erfolgreich praktizieren.

Die internationale Schieflage spielt inzwischen auch eine wichtige Rolle beim Wettbewerb um die besten Köpfe, wie Klaus Landfried, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), erläuterte. Die HRK hatte ihre diesjährige Jahresversammlung in Dresden unter das Motto "Frauen in der Wissenschaft" gestellt. Denn: "In Deutschland ist die Chancengleichheit von Frauen im Wissenschaftsbetrieb noch lange nicht erreicht. ... Dabei geht es nicht nur um die Verwirklichung eines Grundrechts, sondern auch um die Nutzung eines originären Potenzials für Wissenschaft und Gesellschaft." Und weiter heißt es: "Die mäßigen Fortschritte der letzten 15 Jahre können nicht befriedigen, zumal andere Länder beweisen, dass es besser geht. ... Die Hochschulen müssen dazu kommen, Frauenförderung und Familienorientierung in ihrem Zielsystem zu verankern, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen und diese als Profil bildend zu verstehen und zu nutzen."

Hoch qualifizierte Physikerinnen stehen dafür bereit!

Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 2003, Seite 78
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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