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Der Urknall im Labor

In einem neuen Beschleuniger sollen Atomkerne nahezu mit Lichtgeschwindigkeit aufeinanderprallen. Am Kollisionsort werden für winzige Sekundenbruchteile Bedingungen herrschen wie zu Beginn des Universums.


Der Tunnel krümmt sich in beide Blickrichtungen, und die zwei schlanken Strahlrohre geraten schnell außer Sicht. Im schwach beleuchteten Inneren dominieren sanfte Grautöne – Beton, Stahl und glänzendes Isoliermaterial. Die kühle Luft riecht nach Lack und Metallspänen, und aus der Ferne dringt das gedämpfte Rattern einer Maschine, welche die Röhren auf Vakuum-Lecks kontrolliert. Während wir weitergehen, streckt sich der Tunnel allmählich geradeaus, und die schmalen Rohrstränge vereinigen sich zu einer einzigen dicken Röhre. Wir klettern über ein Gewirr von Rohrleitungen und erreichen eine von Natriumlampen gelb erleuchtete Höhle. In der Mitte prangt auf dem Boden ein schwarzer Kreis mit der Beschriftung "Kollisionspunkt".

Genau über dieser Markierung soll im Juni Materie entstehen, die so dicht und heiß ist wie innerhalb der ersten Tausendstelsekunde nach dem Urknall. Der Relativistische Schwerionen-Collider, abgekürzt RHIC (Relativistic Heavy Ion Collider) und familiär "Rick" genannt, geht am Brookhaven National Laboratory auf Long Island (US-Bundesstaat New York) seiner Vollendung entgegen. Er soll Atomkerne von Wasserstoff (ein Proton) bis Gold (197 Protonen und Neutronen) auf höchste Energien beschleunigen.

Ein ruhendes Nukleon (Proton oder Neutron) hat eine Masse oder Energie von rund 1 GeV (Milliarden Elektronenvolt). Die supraleitenden Magnete des RHIC werden die Kerne auf Geschwindigkeiten bringen, bei denen jedes Kernteilchen Energien zwischen 10 und 100 GeV erreicht.

Bündel der jeweiligen Kerne werden in entgegengesetzter Richtung durch die beiden Strahlrohre gejagt, bis sie in vier Detektoren zusammenstoßen, die längs des knapp vier Kilometer langen Ringtunnels angeordnet sind (siehe Kasten Seite 61). Wenn beim Zusammenprall schwerer Kerne je zwei kollidierende Nukleonen 200 GeV Energie abgeben, steigt die Temperatur schlagartig auf mehr als 1012 Kelvin – hundertmillionenmal heißer als die Oberfläche der Sonne. Das heißt, die Kerne explodieren.

Die Trümmer des winzigen Feuerballs bergen ein Geheimnis: In ihnen steckt die verschlüsselte Antwort auf die Frage, ob Protonen und Neutronen in der Hitze des Zusammenpralls in ihre Bestandteile zerfallen sind – in Quarks und Gluonen. Jedes Proton besteht aus drei Quarks (zwei up und ein down), die von Gluonen zusammengehalten werden; jedes Neutron enthält ein up- und zwei down-Quarks. Theoretisch sollte oberhalb von 1012 Kelvin ein Gemenge von freien Quarks und Gluonen entstehen, ein sogenanntes Quark-Gluon-Plasma. "Unseres Wissens hat es so etwas im Universum seit mehreren Milliarden Jahren nicht gegeben", sagt Frank Wilczek, Theoretiker am Institute for Advanced Study in Princeton (New Jersey).

Das am Kollisionsort erzeugte Plasma existiert nur 10-23 Sekunden – so lange, wie Licht zum Durchqueren eines Kerns braucht – und erfüllt ein Volumen von rund 10 Fermi; ein Fermi entspricht einem billionstel Millimeter. Danach zerfällt das Plasma in einen Schauer anderer Partikel, die meterlange Wege zurücklegen, bis sie von Detektoren registriert werden. Ob bei einer Kollision 15000 oder nur 1000 Teilchen entstehen, wird sich zeigen; aus den Spuren wollen die Physiker jedenfalls Erkenntnisse über das flüchtige Plasma gewinnen.

Dagegen ist die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen ein Kinderspiel: Diesmal wird es eher darum gehen, aus dem Aussehen des Heuhaufens zu erschließen, ob sich darin überhaupt eine Nadel versteckt.

Die Deutung solcher Experimente ist so schwierig, weil die Theorie bisher keine eindeutigen Aussagen zu liefern vermag. "Was die Materie bei diesen Energien anstellt, ist nur in groben Umrissen bekannt", erklärt Gordon Baym von der Universität von Illinois in Urbana-Champaign. Das Problem ist die sogenannte Farbkraft, die Protonen, Neutronen und Kerne zusammenhält. Sie ist mindestens hundertmal stärker als der Elektromagnetismus und wird von Gluonen übertragen, die sich – im Unterschied von den Photonen, den Quanten der elektromagnetischen Kraft – auch gegenseitig anziehen (Spektrum der Wissenschaft, Januar 1999, S. 48). Darum ist die Theorie der Farbkraft, die Quantenchromodynamik (QCD), äußerst schwer zu berechnen.

Nur wenn die starke Kraft ausnahmsweise relativ schwach wirkt, läßt sie sich mathematisch beherrschen. Paradoxerweise schwindet sie, wenn Quarks und Gluonen einander sehr nahe kommen. Anschaulich gesprochen sind die Quarks an ihresgleichen durch Gluon-Fäden gebunden, die sich wie Gummibänder verhalten. Zum Beispiel besteht ein Meson aus einem Quark und einem Antiquark (dieses Antiteilchen eines Quarks hat dieselbe Masse, aber entgegengesetzte Ladungen); werden die beiden auseinandergezogen, so widersetzt sich das Gummiband mit konstanter Kraft. Deshalb wäre unendlich viel Energie nötig, das Paar auseinanderzureißen: Freie Quarks lassen sich niemals einzeln beobachten. Doch wenn Quark und Antiquark eng beisammen liegen, erschlafft das Gummiband, und sie spüren nichts voneinander. Dieser entspannte Zustand herrscht – wenigstens für kurze Zeit – im Quark-Gluon-Plasma.

Nach Überzeugung der Theoretiker wimmelt auch der scheinbar leere Raum von Quark-Antiquark-Paaren, die sich nur indirekt bemerkbar machen. Aus unerfindlichen Gründen sind im Vakuum stets rechtshändige Quarks mit linkshändigen Antiquarks gekoppelt und umgekehrt. (Die Händigkeit eines Teilchens beschreibt die Drehrichtung seines Eigendrehimpulses oder Spins, in Flugrichtung betrachtet.) Damit verletzt die Natur die sogenannte chirale Symmetrie, derzufolge linkshändige Quarks und Antiquarks unabhängig von rechtshändigen sein sollten. Erst bei extrem hoher Temperatur oder Dichte brechen die unsymmetrischen Paare, die das Vakuum normalerweise erfüllen, vermutlich auf, so daß der leere Raum dann chirale Symmetrie aufwiese.

Um die starke Kraft für realistische Situationen wenigstens näherungsweise zu berechnen, brauchen die Theoretiker extrem lange Rechenzeiten auf Supercomputern. Ihre Modelle vergröbern die Raumzeit zu einem Gitter von Punkten, in denen Quarks und Antiquarks sitzen und über Gluonenfäden miteinander wechselwirken (Spektrum der Wissenschaft, April 1996, S. 62). Dieser Gitter-QCD zufolge müßten die Bindungen der Quarks und Gluonen gerade bei derjenigen Energiedichte aufbrechen, die auch die chirale Symmetrie wiederherstellt. Wenn das stimmt, werden die Kollisionen am RHIC ein makellos symmetrisches Quark-Gluon-Plasma erzeugen.

Leider hat die Gitter-QCD große Mängel: Sie vermag keine dynamischen Situationen zu behandeln, sondern nur statische – das heißt, sie bewältigt nur Systeme im Gleichgewicht. Außerdem versagt sie, wenn mehr Quarks als Antiquarks auftreten. Doch gerade bei Kernkollisionen ist ein solcher Überschuß wahrscheinlich, da Protonen und Neutronen nur Quarks und keine Antiquarks enthalten. Deshalb läßt sich die Gitter-QCD nicht direkt auf die vielfältigen Prozesse bei energiereichen Zusammenstößen schwerer Atomkerne anwenden. Jede realistische Theorie wird "schwierige Relativitätstheorie mit schwieriger Feldtheorie kombinieren müssen – und mit schwieriger Nichtgleichgewichtsdynamik und schwieriger Vielkörperphysik", meint Horst Stöcker von der Universität Frankfurt. Darum sind die Theoretiker auf vielerlei Näherungen und Vereinfachungen angewiesen (siehe "Nukleare Stoßwellen und Quark-Materie" von Horst Stöcker und Hans Gutbrod, Spektrum der Wissenschaft, Januar 1992, S. 46).

Ein Modell behandelt die Quarks wie klassische Billardkugeln und fügt nachträglich die Quantenmechanik und die experimentell gemessenen Wahrscheinlichkeiten für die Erzeugung zusammengesetzter Teilchen hinzu. Diese Theorie, die sogenannte Parton-Kaskade, wurde im wesentlichen von Klaus Kinder-Geiger in Brookhaven entwickelt; er starb tragischerweise im Vorjahr beim Absturz einer Swissair-Maschine. Ein anderer Ansatz beschreibt die Kerne nach den Gesetzen der Hydrodynamik als Flüssigkeitstropfen, wobei die Gitter-QCD gewisse Parameter beisteuert.

Außerdem sind Kombinationen und Verfeinerungen dieser Grundtypen im Angebot. "Es gibt fast so viele Modelle wie Theoretiker auf diesem Gebiet", spottet Tim Hallman, Experimentalphysiker in Brookhaven. Jedes Modell beschreibt vermutlich einen Aspekt der Kollision sehr gut, aber keines trifft auf alle zu. Eine Kiste Wein wartet auf den Glücklichen, der auch nur eine einzige Größe, die der RHIC demnächst messen wird, richtig vorhersagt.

Jedenfalls dürfte eine Kollision am RHIC ungefähr folgendermaßen ablaufen: Zunächst durchdringen die beiden Kerne einander völlig. "Es ist, wie wenn man sich die Zehe prellt", sagt Baym. "Es dauert einen Sekundenbruchteil, bis der Schmerz oben ankommt." Doch die Quarks und Gluonen des einen Kerns fangen die Quarks und Gluonen des anderen wie mit Gluonen-Lassos. Bei der Trennung der Kerne werden diese energiereichen Fäden sich verknoten, verschmelzen oder erschlaffen – und, so hoffen die Physiker, das Plasma ergeben.

Diese überhitzte Quarksuppe wird sich rapide abkühlen und Elektronen und Positronen sowie deren schwerere Verwandte, Myonen und Antimyonen, abstrahlen. Durch Prozesse, die denen beim Urknall ähneln – aber wiederum extrem schwierig zu berechnen sind – kondensieren die meisten Quarks und Gluonen zu Hadronen, das heißt zu Partikeln, die zwei oder drei Quarks oder Antiquarks enthalten. Einige Hadronen zerfallen in andere Teilchen – die wiederum ihrerseits zerfallen können. In diesen Rückständen stecken letztlich alle Indizien für ein Quark-Gluon-Plasma.

Das Problem ist, daß es keinen eindeutigen Beweis geben wird, erklärt Hallman: "Man wird nicht nach etwas Spezifischem suchen und ‚Aha!' rufen." Die Theoretiker haben eine lange Liste von Indizien vorgelegt, aber leider könnte eine Vielzahl nuklearer Effekte die meisten dieser Signale ebenfalls hervorrufen oder sie verwischen.

Zunächst wird es darum gehen, die Partikel aufzufangen, die senkrecht zur Strahlrichtung austreten: Sie müssen vom Kollisionsgebiet stammen. "Ihre Energie teilt uns mit, ob überhaupt Bedingungen für ein Plasma gegeben sind. Das ist eine Voraussetzung", sagt Miklos Gyulassy von der Columbia-Universität in New York. Diese Teilchen geben auch Auskunft, ob die – aus der Impulsverteilung erschlossene – Temperatur einen Augenblick lang konstant geblieben ist. Das würde nämlich einen Phasenübergang anzeigen, genau wie bei kochendem Wasser das Temperaturplateau bei 100 Grad Celsius. Gyulassy bezweifelt freilich, daß der Effekt genügend ausgeprägt sein wird: "Ich würde nicht viel drauf setzen."

Zudem wird sich aus der genauen Analyse der erzeugten Pionen (Mesonen aus up- und down-Quarks und Antiquarks) und ihrer Korrelationen die Größe des mikroskopischen Feuerballs erschließen. Dabei nutzt man einen quantenmechanischen Effekt, mit dem ursprünglich die Größe von Sternen gemessen wurde; vielleicht ergibt sich daraus sogar die Expansionsgeschwindigkeit des Feuerballs. Indem Gyulassy die Kernsubstanz mathematisch als Flüssigkeit behandelte, kam er zu dem Schluß, daß der Feuerball für einen Moment langsamer expandieren müßte, weil die Schallgeschwindigkeit abnorm klein wird, sobald das Plasma in Hadronen zerfällt. "Das wäre gewiß ein klarer Beweis", behauptet er. Aber um den Fast-Stillstand, wie er ihn nennt, sichtbar zu machen, wird jahrelanges penibles Datensammeln erforderlich sein.

Auch die Elektronen und Myonen sowie ihre Antiteilchen tragen Information mit sich; diese Partikel sind unempfindlich für die starke Wechselwirkung. "Wenn ein Paar entsteht, kommen die beiden direkt heraus", sagt Baym, "sie liefern ein Maß für die Vorgänge im Innern." Aus Energie und Impuls dieser Teilchen können die Physiker feststellen, ob das jeweilige Teilchen-Antiteilchen-Paar aus dem Zerfall eines bestimmten Mesons hervorgegangen ist, etwa eines f (phi) oder r (rho). Die Masse jedes dieser beiden Mesonen ist möglicherweise abnormal verkleinert, wenn es in einem chiral-symmetrischen Materiezustand erzeugt worden ist – doch auch das ist umstritten.

Ein weiterer Hinweis auf das Quark-Gluon-Plasma wäre ein Absinken der Wahrscheinlichkeit, mit der ein seltenes Meson, das J/y, erzeugt wird; es besteht aus einem charm- und einem anticharm-Quark. Man nimmt an, daß es in einem Plasma nicht entstehen kann, weil es vom Bombardement der umgebenden Partikel aufgespalten wird. Darum sollte dieses Meson (über seine Zerfallsprodukte) seltener beobachtet werden als theoretisch normalerweise erwartet. Am CERN, dem europäischen Laboratorium für Teilchenphysik bei Genf, haben die Experimentalphysiker Bleikerne mit einer effektiven Energie von 17 GeV pro Nukleon-Nukleon-Stoß zusammenprallen lassen und meinen, Anzeichen für diesen Effekt gefunden zu haben. Stöcker wendet allerdings ein, daß auch dieses Indiz auf andere Weise entstanden sein kann.

Die wohl faszinierendste Möglichkeit wäre das Auftauchen eines sogenannten Strangelets: eines Quarktröpfchens, das viele strange-Quarks enthält (siehe Spektrum der Wissenschaft, März 1994, S. 38). Im Quark-Gluon-Plasma sollte es reichlich strange-Quarks geben; sie könnten theoretisch zusammen mit up- und down-Quarks solche seltsamen Tröpfchen bilden. Zwar wäre die Entdeckung eines Strangelets – eines mindestens so exotischen Materiezustands wie das Quark-Gluon-Plasma selbst – eine Sensation; doch ist ungewiß, ob es stabil genug wäre, bis zu den Detektoren zu gelangen.

Die Liste nimmt kein Ende. Die Theoretiker fordern die experimentelle Suche nach "desorientierten chiralen Kondensaten", die aus dem winzigen Raumgebiet im Zentrum der Kollision stammen sollen, wo die Paarung von Quarks und Antiquarks vielleicht nicht eindeutig ist; nach Verletzungen der Ladungsparität, einer Symmetrie, der die starke Kraft normalerweise gehorchen soll (Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1998, S. 90); und nach unzähligen anderen hypothetischen Phänomenen. Zu allem Überfluß behauptet Stöcker, ein Quark-Gluon-Plasma sei nicht das simple "freie Gas", das man sich gemeinhin darunter vorstelle, sondern ein komplexes wechselwirkendes System, in vieler Hinsicht der nachfolgenden hadronischen Phase vergleichbar. Demnach könnte die Suche nach einem klaren Nachweis von vornherein zum Scheitern verurteilt sein.

Seit kurzem mehren sich die Indizien, daß die Quantenchromodynamik selbst bei ganz gewöhnlichen Kernteilchen ein allzu einfaches Bild von der Wechselwirkung zwischen Quarks und Gluonen zeichnet. Dem gängigen Bild zufolge enthält ein Proton außer den drei sogenannten Valenzquarks (zwei up und ein down) noch einen "See" von kurzlebigen Teilchen: Gluonen sowie Quark-Antiquark-Paare, in die sich die Gluonen vorübergehend aufspalten. Für diese See-Quarks sollte gemäß der Theorie die demokratische Regel gelten, daß von ihnen stets gleich viele up- und down-Quarks sowie up- und down-Antiquarks im Proton vorhanden sind.

Doch nun haben zwei völlig unterschiedliche Experimente – eines am Fermilab bei Chicago, das andere bei DESY in Hamburg – einen deutlichen Überschuß von Anti-down-Quarks über Anti-up-Quarks im Proton angezeigt. Antje Brüll – sie war Koordinatorin der physikalischen Analyse des HERMES-Experiments bei DESY – sieht in der Übereinstimmung der Resultate eine "eindeutige Bestätigung" für den Anti-down-Quark-Überschuß und meint: "Eine mögliche Erklärung bietet das sogenannte Meson-Cloud-Modell. Darin wird angenommen, daß das Proton in mehreren Zuständen existiert: das ‚reine' Proton plus ein Zustand aus einem Neutron und einem positiven Pion plus weitere kompliziertere Zustände." Das würde den überraschenden Überschuß an Anti-down-Quarks im Proton erklären, denn das positive Pion besteht aus einem up-Quark und einem down-Antiquark.

In Brülls Augen "hat dieses Modell eine weitere sehr attraktive Eigenschaft: Es stellt einen Zusammenhang zwischen der beobachteten Asymmetrie der See-Quarks und der sogenannten Spin-Krise her. Denn derselbe Mechanismus, der zu einem Überschuß von down-Antiquarks führt, erklärt – zumindest qualitativ – die in vielen Messungen bestätigte Merkwürdigkeit, daß die Quarks nur einen Bruchteil des Proton-Gesamtspins tragen." Des einen Freud, des anderen Leid: Während die Theoretiker immer kompliziertere Modelle der Quark-Gluon-Wechselwirkung aushecken, fällt es den Experimentatoren schwer, den theoretischen Vorhersagen eindeutige Meßresultate zuzuordnen.



Mächtige Detektoren



Doch die Praktiker lassen sich nicht entmutigen. "Argumente, die der Frage ähneln, wie viele Engel auf eine Nadelspitze passen, überlasse ich den Theoretikern", meint Barbara Jacak ungerührt; sie ist Experimentalphysikerin an der State University von New York in Stony Brook. Bald werden die Detektoren mit dem Zählen beginnen und die theoretischen Möglichkeiten durch das schiere Gewicht der Daten einschränken.

Der Weg aus dem Tunnel führt unter Kabelsträngen hindurch zum STAR-Detektor, einem riesigen Gebilde aus konzentrischen Zylindern, die den Strahl umschließen. Das Hauptinstrument ist ein großes silbriges Gerät, aus dem unzählige Drähte quellen; es wird den Pfad jedes einfallenden Teilchens in drei Dimensionen aufzeichnen – und den Arbeitsspeicher so schnell löschen, daß es die Details von 1000 Kollisionen pro Sekunde aufzunehmen vermag. Um diesen Zylinder liegen mehrere weitere Geräte, unter anderem ein Kalorimeter, das die Energie jedes Partikels mißt.

Die Spezialität dieses Detektors ist seine Gründlichkeit. Von den 10000 Teilchen (hauptsächlich Pionen), die bei jeder Kollision entstehen, erfaßt er 6000 und mißt Impuls, Energie und andere Eigenschaften jedes einzelnen von ihnen; die restlichen Partikel entgehen ihm nur, weil sie sich fast parallel zum Strahl bewegen. Mit STAR können die Forscher globale Eigenschaften des Feuerballs ermitteln, insbesondere Temperatur und Energiedichte. Während ich eine Simulation der erwarteten Teilchenspuren beobachte – "eine Flaschenbürste" nennt Hallman das dichte Gewirr –, kommen mir die Fähigkeiten des Instruments geradezu unglaublich vor.

Ein noch größerer Detektor ist PHENIX; er heißt so, weil er wie der sagenhafte Vogel Phönix aus der Asche dreier Geräte gestiegen ist, die an Geld- und Personalmangel scheiterten. Sein Rumpf ragt über 12 Meter hoch, und seine "Flügel" breiten sich längs der Strahlrohre aus, um Myonen zu fangen.

Die enormen Ausmaße von PHENIX dienen dem Zweck, leichte Partikel nachzuweisen. Zum Beispiel läßt sich der Impuls eines Elektrons anhand der Krümmung seiner Bahn in einem starken Magnetfeld messen, und seine Identität verrät es durch die charakteristische Cerenkow-Strahlung. Die Exaktheit beider Messungen hängt von der Weglänge ab. PHENIX soll unter anderem klären, ob die vom Plasma produzierten Elektronen und Myonen auf die Existenz von Mesonen verringerter Masse hinweisen. Außerdem sind zwei kleinere Detektoren in Bau: BRAHMS wird die Nukleonen zählen, die vom Zusammenstoß kaum beeinflußt werden; PHOBOS hingegen soll Partikel fangen, die in alle Richtungen emittiert werden – insbesondere die energieschwachen Teilchen, die den großen Detektoren entgehen. Am Speicherring ist noch Platz für zwei weitere Detektoren reserviert. "Für den einen haben wir schon einen Plan", sagt Thomas Ludlam, Vizedirektor des RHIC-Projekts; "der andere wartet vorläufig noch auf eine gute Idee."

Nach einem ersten Probelauf im Juni werden die Betreiber den RHIC abschalten, um die Detektoren exakt einzustellen und kleine Probleme zu beseitigen. Im November sollen die eigentlichen Versuche beginnen. Der RHIC ist so vielseitig, daß er vermutlich – ungeachtet aller theoretischen Unklarheiten – viele Aspekte der Kollision enthüllen wird. Zum Beispiel können die Versuchsleiter die Energie eines Goldstrahls steigern und die Folgen beobachten. Falls bei Überschreiten einer bestimmten Energieschwelle die Anzahl der emittierten Teilchen deutlich emporschnellt, signalisiert das eine dramatische Verhaltensänderung der Quarks und Gluonen. Im bestmöglichen Fall werden gleichzeitig mehrere Signale für ein Quark-Gluon-Plasma erscheinen.

Zusätzlich können die Forscher die Größe der Atomkerne im Strahl variieren und zum Beispiel anstelle von Gold Schwefel nehmen. Macht sich jetzt keine Phasenänderung bei einer bestimmten Energie bemerkbar, so ist das ein Indiz, daß die neuartige Physik nur mit Gold auftritt: Schwefel wäre demnach nicht massereich genug, um das Plasma zu erzeugen. Auch streifende, nicht-zentrale Stöße werden aufschlußreich sein.

"Ich habe großes Vertrauen in den Erfindungsreichtum der Experimentierer", meint Wilczek. Indem die Wissenschaftler die Parameter behutsam variieren, gewinnen sie hoffentlich einen Eindruck von allen möglichen Feuerbällen, nicht nur von jenen, die mit dem Quark-Gluon-Plasma zusammenhängen. Dieses Gesamtbild, fordert Stöcker, sollte das eigentliche Ziel sein. "Ein Mensch setzt sich aus vielen Einzelaspekten zusammen – Augen, Lippen, Füße. Man wird ihm nicht gerecht, wenn man ihn auf eine kugelförmige Masse von 100 Kilogramm reduziert." Eine Vielfalt faszinierender Phänomene könnte auftauchen, vielleicht sogar ein paar, an die noch kein Theoretiker je gedacht hat. Gewiß werden einige der dabei gewonnenen Erkenntnisse dem Menschen die Geburt des Universums ein wenig näherbringen.

Im Freien ist es bewölkt und kalt, und ein unangenehmer Wind verheißt Schnee. Häßliche Streifen von Sand und Erdreich bilden in der Ferne einen Bogen, der die Kontur des unterirdischen Tunnels nachzeichnet. Alles Sichtbare besteht aus Quarks und Gluonen; sie verharren an ihrem üblichen Platz, fest zu Protonen und Neutronen vereint.

Literaturhinweise

Particle Physics. Von B. Martin und C. Shaw, Wiley/VCH, New York 1997.

Particle Accelerator Physics. Von H. Wiedemann, Springer Verlag, Berlin 1998.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1999, Seite 56
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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