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Deutsche Wissenschaftspolitik im Übergang

Strukturell folgenreiche Vorentscheidungen über die gesamtdeutsche Forschungslandschaft waren bereits gefallen, als die DDR am 3. Oktober 1990 der Bundesrepublik beitrat. Unter dem Druck der Bedingungen und Fristen sahen die westlichen Akteure – Bund, Länder und Wissenschaftsorganisationen – ihre Interessen am ehesten durch die Strategie gewährleistet, den institutionellen Status quo zu bewahren.

Auch in der Wissenschaftspolitik ist die deutsche Einheit durch einen Institutionentransfer von West nach Ost vollzogen worden. Die zentralistische Forschungsorganisation der DDR wurde mitsamt den sie repräsentierenden Einrichtungen wie insbesondere der Akademie der Wissenschaften (AdW) aufgelöst und das Personal – aufgrund einer vom Wissenschaftsrat durchgeführten Evaluation erheblich reduziert – in das als bewährt erachtete westdeutsche System der außeruniversitären Forschung und Forschungsförderung überführt.

Rückblickend scheint die Entwicklung des Jahres 1990 zwingend: Die politisch diskreditierten Organisationsformen der DDR beizubehalten konnte nicht wünschenswert sein; eine Reform der gesamtdeutschen Wissenschaftslandschaft aber, die auch die westlichen Forschungsstrukturen einer kritischen Prüfung unterzogen hätte, war angesichts des erheblichen Zeitdrucks im Vorfeld der staatlichen Vereinigung nicht realistisch.

Eine gesamtdeutsche Strukturreform lag zudem nicht im Interesse von Bund, Ländern und Wissenschaftsorganisationen in Westdeutschland. In der turbulenten Situation war deren überragendes Ziel vielmehr die Stabilisierung des in der alten Bundesrepublik etablierten forschungspolitischen Gleichgewichts.

Aber diese Orientierung am Status quo, wenngleich verständlich und zunächst hilfreich für die westlichen Akteure, erweist sich möglicherweise als ein wissenschaftspolitischer Bumerang. Denn die Strategie, institutionell alles beim alten zu lassen, kann unter spezifischen (noch zu benennenden) Randbedingungen nicht intendierte und auch nicht wünschenswerte Folgen für die gesamtdeutsche Wissenschaftslandschaft zeitigen: Im Verhältnis Bund/Länder sind bereits Anzeichen einer Zentralisierung der Forschungspolitik zu beobachten, und im Verhältnis Staat/Wissenschaftsorganisationen deuten sich Autonomie- und Legitimationsverluste der wissenschaftlichen Akteure an. Um diese Einschätzung nachvollziehbar zu machen, beschreibe ich zunächst kurz die Ausgangssituation im Westen, die wesentlich die strukturell folgenreichen Entscheidungen des Jahres 1990 erklären hilft.

Das etablierte Gleichgewicht

In den letzten vier Jahrzehnten hatte sich in der westdeutschen Wissenschaftspolitik ein allseitig anerkanntes Verhandlungsnetzwerk zwischen Bund, Ländern und Wissenschaftsorganisationen herausgebildet. Dessen Grundlage sind relativ stabile Austauschbeziehungen zwischen diesen drei Hauptakteurgruppen, die formell in der "Rahmenvereinbarung Forschungsförderung" von 1975 verankert sind; diese regelt verbindlich die gemeinsame Forschungsförderung von Bund und Ländern und stellt damit für alle Beteiligten eine feste Erwartungsgröße dar (Bild 1).

Um so weniger waren die drei Gruppen bereit, das damit austarierte und dann 15 Jahre lang bestehende Gleichgewicht zwischen ihnen in Gefahr zu bringen, als es um die Umsetzung der deutschen Einheit im Wissenschaftsbereich ging, zumal jede Gruppe ihre Domäne gewahrt wissen wollte.

So war es den Ländern mit Abschluß der Rahmenvereinbarung gelungen, alle Bereiche der allgemeinen Wissenschaftsförderung in die gemeinsame Koordinierung von Bund und Ländern zu integrieren, ohne auf Zuwendungen des Bundes verzichten zu müssen. Wesentlich war, daß dem durch relative finanzielle Stärke ermöglichten Bundeseinfluß nun formale Grenzen gesetzt waren. Damit hatten sich die Länder de jure eine wissenschaftspolitisch starke Position gesichert, die sich vor allem Anfang der achtziger Jahre auszuzahlen begann, als einige Bundesländer begannen, eine regionalpolitisch motivierte Forschungs- und Technologiepolitik zu betreiben.

Der Austauschgewinn, den die Länder aus der Rahmenvereinbarung ziehen, liegt also in formal kanalisierten finanziellen Zuwendungen des Bundes.

Der Bund wiederum hatte, insbesondere für das Ministerium für Forschung und Technologie (BMFT) als die zuständige Fachadministration, definitiv eine von den Ländern anerkannte Teilkompetenz in der Wissenschaftsförderung erlangt. Damit entschärfte sich ein langjähriger Konflikt mit den Ländern. Einerseits ließ sich der Bund zwar Koordinationszwänge aufbürden, und er verlor einen Teil seiner Flexibilität in der Forschungsförderung; andererseits aber ermöglichte die nun erforderliche Abstimmung mit den Ländern in allen Fragen der Wissenschaftsförderung auch eine bessere Abwehr erhöhter Ressourcenansprüche aus der Wissenschaft.

Der Austauschgewinn des Bundes liegt also, kurzgefaßt, in zusätzlichen formalen Kompetenzen in der Wissenschaftspolitik.

Für die Wissenschaftsorganisationen schließlich reduzierten sich durch die Rahmenvereinbarung früher bestehende Ungewißheiten erheblich. Zumindest aus der Perspektive Mitte der siebziger Jahre bedeutete die langfristige Garantie einer institutionellen Finanzierung durch Bund und Länder eine relative Abpufferung gegenüber ökonomischen und politischen Unsicherheiten. Diesem zeitbedingten Interesse an Bestandssicherung kam der hohe Grad an vertikaler Politikverflechtung entgegen, denn die Schwelle für politische Einigungen über Eingriffe in die Wissenschaftsorganisationen – etwa den Versuch, Institute zu schließen – war damit entsprechend hoch gesetzt. Das erklärt den Druck der Wissenschaftsorganisationen auf das BMFT, der Rahmenvereinbarung zuzustimmen.

Der Austauschgewinn der Wissenschaft läßt sich mithin als gewachsene institutionelle Sicherheit bezeichnen. Im Gegenzug mußten die Wissenschaftsorganisationen allerdings akzeptieren, daß politische Einigungen zugunsten der Wissenschaft ebenfalls der Zustimmung aller Beteiligten von Bund und Ländern bedürfen und damit auch eine hohe Einigungsschwelle voraussetzen.

Vereinigung als Institutionentransfer

Der Fall der Berliner Mauer im November 1989 bedeutete zunächst keine Bedrohung für das westdeutsche System der Wissenschaftspolitik. Vielmehr begann zunächst auf der Grundlage bereits existierender Verträge über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit eine intensive Kooperation westdeutscher Forschungseinrichtungen und Ministerien mit den entsprechenden Organisationen in der DDR. Die entscheidende Frage war eher die nach der Leistungsfähigkeit des bundesdeutschen Systems im Hinblick auf eine solche stark erweiterte Zusammenarbeit.

Diese Phase endete im März/April 1990, als mit den DDR-Volkskammerwahlen und der Bildung einer Koalitionsregierung des siegreichen konservativen Bündnisses Allianz für Deutschland (CDU, DSU und DA) mit den Liberalen und der SPD unter Ministerpräsident Lothar de Maizière die schnelle staatliche Vereinigung die politische Tagesordnung bestimmte. Spätestens ab April/Mai 1990 mußten sich die westdeutschen Akteure in der Wissenschaftspolitik auf die baldige deutsche Einheit einrichten. Zwei Fragen gewannen dabei immer stärker an Bedeutung:

– Wie soll die institutionelle Struktur von Wissenschaft und Wissenschaftspolitik in einem geeinten Deutschland aussehen?

– In welchem Verfahren will man zu dieser Struktur gelangen?

Damit wurde erstmals in dem laufenden Prozeß auch das System der außeruniversitären Forschung und Forschungsförderung in der Bundesrepublik prinzipiell zur Disposition gestellt. Zwar verständigten sich die bundesdeutschen Akteure sehr schnell darauf, daß der Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes die Übernahme der westlichen institutionellen Strukturen durch die DDR impliziere; gleichwohl hat dieses Postulat nicht verhindern können, daß grundsätzlich nun auch über Alternativen zu den in Westdeutschland getroffenen Regelungen und gewachsenen Beziehungen nachgedacht wurde – also auch darüber, inwieweit die Vereinigung der beiden Wissenschaftssysteme die wohlaustarierten Interessen in der westdeutschen Wissenschaftspolitik berühren könnte.

Das BMFT suchte sehr schnell das Gesetz des politischen Handelns für sich zu reklamieren, auch um nicht von anderen Akteuren in neue (vor allem finanzielle) Bindungen gezwungen zu werden; weitere langfristige Verpflichtungen hätten die Handlungsfähigkeit des Ministeriums einschränken können. Zu der in fiskalpolitisch günstigeren Zeiten erwartbaren Strategie, die Domäne des Bundesministeriums zu Lasten der Länder zu erweitern, kam es nicht. Das Ziel bestand offenbar vielmehr darin, Mehrbelastungen des BMFT-Haushalts, die nicht durch zusätzliche Mittel hätten kompensiert werden können, möglichst zu minimieren. Das bedeutete für die gesamtdeutsche Wissenschaftslandschaft, daß das BMFT zunächst eher auf Abwicklung denn auf Überführung der DDR-Forschungseinrichtungen setzte und bei den im Gebiet der ehemaligen DDR neu zu errichtenden Institutionen vor allem gemeinschaftlich mit hohem Bundesanteil finanzierte Einrichtungen (also vor allem Großforschungszentren) vermeiden wollte.

Außerdem votierte das BMFT für eine schnelle regierungsamtliche Evaluation aller DDR-Forschungseinrichtungen. Noch im Mai 1990 sah die von dem Ministerium bevorzugte Lösung einen gemeinsamen Ausschuß von BMFT, Wissenschaftsrat und den Vizepräsidenten der Forschungsorganisationen vor, der einen Vorschlag für die sektorale Zuordnung der DDR-Einrichtungen zu Organisationstypen und Forschungsfeldern des westlichen Systems hätte erarbeiten sollen. In einer zweiten Phase sollten danach Expertenausschüsse die einzelnen Institute nach Qualität und Entwicklungspotential bewerten.

Dem widersetzten sich aber alle Länder, vor allem der Wissenschaftssenator Berlins. Sie befürchteten, daß auf diese Weise sozusagen eine Filetierung der DDR-Forschungslandschaft vorgenommen werden würde, die einseitig den Bund begünstigt und den Ländern, insbesondere der damals schon präsumptiven Hauptstadt, lediglich die Sozialfälle unter den wissenschaftlichen Einrichtungen belassen hätte.

Bemerkenswert ist, daß man im BMFT offenbar noch im Mai 1990 über die Gründung einer Leibniz- und einer Helmholtz-Gesellschaft als Trägerinnen für die positiv beurteilten DDR-Institute nachdachte, also für Ostdeutschland eine eigene Wissenschaftsstruktur nicht ausschloß; Themen der Zusammenarbeit waren zuvor schon öffentlich genannt worden (Bild 2). Möglicherweise wurde darauf spekuliert, daß der Aufbau einer konkurrierenden Organisation im Beitrittsgebiet dem Ministerium auch mehr Steuerungsmöglichkeiten hätte eröffnen können. Dieser Vorschlag stieß aber – wie nicht anders zu erwarten – auf den Widerstand der westdeutschen Wissenschaftsorganisationen.

Die Bundesländer zeigten im Vorfeld der Verhandlungen um den Einigungsvertrag, also in einer wichtigen strategischen Positionierungsphase, mit Ausnahme von Westberlin zunächst keine besonderen wissenschaftspolitischen Aktivitäten. Man gewinnt den Eindruck, daß sie dieses Feld freiwillig dem BMFT überließen.

Berlin ist insofern eine Ausnahme, als es durch die Konzentration von AdW-Einrichtungen im Ostteil der Stadt unmittelbar durch die Vereinigung betroffen war. Der Senat verfolgte denn auch bereits Mitte 1990 explizit zwei Interessen: Zum einen wollte er den durch den Vereinigungsprozeß zu erwartenden wissenschaftspolitischen Bedeutungsgewinn für die Stadt nutzen, zum anderen die dadurch entstehenden finanziellen Lasten nicht allein tragen müssen.

In einer Sitzung der Bund-Länder-Kommission im Frühsommer 1990 hat Berlin seine Position formuliert und wesentlich dazu beigetragen, daß ein systematisches Verfahren zur Bewertung aller ostdeutschen Forschungseinrichtungen in Gang gebracht wurde. In dieser Frage schalteten sich allerdings auch die zehn restlichen Bundesländer ein und erwirkten einen gemeinsamen Beschluß der Kultusminister-Konferenz am 7./8. Juni, in dem gefordert wurde, daß der Wissenschaftsrat diese Evaluation übernähme.

Den Wissenschaftsorganisationen war zum einen daran gelegen, ihre eigenen Interessen in der DDR (soweit vorhanden) abzusichern. Für die Fraunhofer-Gesellschaft und die Großforschungseinrichtungen ging es darum, ihre gesteigerten Kooperationen mit ostdeutschen Partnern, die dem BMFT inzwischen als zu "imperialistisch" erschienen, aufrechtzuerhalten.

Andererseits wollten die Wissenschaftsorganisationen nicht vom Bund in ein Engagement gezwungen werden, das mit ihrer Autonomie beziehungsweise ihrem historisch gewachsenen Selbstverständnis unvereinbar gewesen wäre und ihre budgetäre Handlungsfähigkeit eingeschränkt hätte. Dieser Punkt betrifft vor allem die Max-Planck-Gesellschaft, die es aufgrund ihres wissenschaftspolitischen Selbstverständnisses als Zumutung empfunden hätte, mit der Akademie der Wissenschaften der DDR gleichberechtigte Verhandlungen aufnehmen zu müssen.

Übereinstimmend lehnten die Wissenschaftsorganisationen des Westens denn auch die Initiativen der DDR-Seite ab, eine eigene Trägergesellschaft für die AdW-Institute noch nach Vollzug der staatlichen Einheit bestehen zu lassen oder gar in Konkurrenz zur Max-Planck-Gesellschaft eine Leibniz-Gesellschaft beziehungsweise in Konkurrenz zur Fraunhofer-Gesellschaft eine Helmholtz-Gesellschaft zu gründen.

Wegen dieser unterschiedlichen Motive war das Ziel, den institutionellen Status quo zu bewahren, quasi der gemeinsame Nenner der Akteure der westdeutschen Wissenschaftspolitik. Was aber hieß das in dieser Situation?

Zum einen wurde über die prinzipielle Gestaltung des gesamtdeutschen Forschungssystems relativ schnell Einigkeit erzielt: Es sollte, wie bis dahin schon das westliche, föderal strukturiert sein. Dieser Punkt stand auch beim Ministerium für Forschung und Technologie der DDR nicht in Frage, zumal die Länderneubildung in der DDR, die seit 1952 in Bezirke gegliedert war, bereits frühzeitig diskutiert und dann nach Herstellung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion mit der Bundesrepublik am 1. Juli 1990 noch im selben Monat beschlossen wurde. Die entscheidende Frage, welche Folgerungen daraus für die Zukunft des kooperativen Föderalismus – vor allem hinsichtlich einer Neuregelung des auch für die Wissenschaftspolitik wichtigen Finanzausgleichs – zu ziehen seien, blieb allerdings ausgeklammert.

Zum anderen einigten sich BMFT und Wissenschaftsorganisationen über die formale organisatorische Struktur des gesamtdeutschen Forschungssystems gleichfalls schnell. Das Ministerium schwenkte im Juni/Juli 1990 gänzlich auf die von den Forschungsvertretern bezogene Position ein, keine eigenen neuen DDR-Strukturen entstehen oder vorhandene nicht sich modifiziert verfestigen zu lassen; die Devise lautete, es werde auch künftig nur eine Deutsche Forschungsgemeinschaft, eine Max-Planck- und eine Fraunhofer-Gesellschaft, kurzum lediglich erweiterte altbundesdeutsche Institutionen geben. Die Frage, welche substantiellen Auswirkungen die Integration von Forschungseinrichtungen und Wissenschaftlern der DDR in das bestehende westliche System haben würde, blieb hingegen ebenfalls unbeantwortet.

Hinsichtlich der Evaluation der DDR-Institutionen und damit des Verfahrens auf dem Weg zur Einheit schloß sich das BMFT dem Vorschlag der Kultusminister-Konferenz an, den Wissenschaftsrat damit zu betrauen, obwohl es ursprünglich ein anderes Vorgehen in Betracht gezogen hatte. Das Ministerium sah nun offenbar auch Vorteile in der Einschaltung dieses reputierlichen Gremiums, vor allem wohl eine Möglichkeit, die Legitimität der dann getroffenen Entscheidungen – auch gegenüber den politischen und wissenschaftlichen Akteuren aus dem Beitrittsgebiet – zu erhöhen. Lediglich über den Zeitplan gab es noch einen Dissens. In einem Kamingespräch mit den Präsidenten der Wissenschaftsorganisationen sowie Vertretern der DDR-Regierung und der DDR-Wissenschaft am 3. Juli 1990 forderte Minister Heinz Riesenhuber, die Evaluation solle bis zum 1. Januar 1991 abgeschlossen sein. Dem widersprachen aber sowohl der Vorsitzende des Wissenschaftsrates, Dieter Simon, als auch der Minister für Forschung und Technologie der DDR, Frank Terpe, so daß das BMFT schließlich einlenkte.

Der Vollzug

Damit waren die wesentlichen Ziele des Bonner Forschungsministeriums für die im Juli beginnenden Verhandlungen um die wissenschaftspolitischen Belange des Einigungsvertrages unter den West-Akteuren abgestimmt:

– Die Akademie der Wissenschaften der DDR sollte lediglich befristet fortgeführt werden.

– Die positiv bewerteten Institute der DDR sollten in die gesamtdeutsche Forschungslandschaft eingepaßt werden.

– Die neuen Bundesländer würden der Rahmenvereinbarung Forschungsförderung beitreten.

Dies sind auch die Kernpunkte, die nach sechswöchigen Verhandlungen in den Artikel 38 des Einigungsvertrages ("Wissenschaft und Forschung") Eingang gefunden haben. Insgesamt läßt sich resümieren, daß das Handeln der westdeutschen Akteure in dieser Phase eher von (durchaus verständlichen) Vermeidungs- denn von Gestaltungsimperativen geprägt war. Sie wollten primär die infolge der staatlichen Vereinigung erwarteten Verluste minimieren, weniger mögliche Gewinne maximieren.

Sehr deutlich wurde dies auf seiten des BMFT, das keine expansive Strategie der Erweiterung seiner Domäne verfolgte, sondern in erster Linie seine budgetären Handlungsspielräume zu erhalten suchte. Daraus erklärt sich auch seine reservierte Haltung, was die Gründung neuer außeruniversitärer Forschungseinrichtungen mit hohem Bundesanteil in den neuen Ländern anbelangt.

Das Handeln der alten Länder war ebenfalls in erster Linie durch Scheu vor unkalkulierbaren Neuerungen geprägt. Sie suchten ihre formalen föderativen Kompetenzen in der Wissenschaftspolitik zu erhalten, sich aber nicht zu stark in einen finanzpolitischen Strudel nach Herstellung der deutschen Einheit ziehen zu lassen. Entsprechend wehrten sie bereits 1990 alle Forderungen nach einer weitergehenden Beteiligung an der Finanzierung von Folgekosten ab.

Die etablierten Wissenschaftsorganisationen schließlich hatten von dem bis dahin bestehenden Status der Forschungsförderung insofern profitiert, als er ihnen eine relative institutionelle Bestandsgarantie und Planungssicherheit gab. Ihr Bestreben war es zu vermeiden, daß die politische Seite sie in ein wissenschaftspolitisches Engagement im Osten zwingen würde, das ihrem Selbstverständnis und ihren Interessen widersprochen hätte. Zugleich meinten sie allerdings eine Konkurrenzstruktur in den neuen Ländern verhindern zu müssen, die es den politischen Akteuren prinzipiell ermöglicht hätte, westliche und östliche Forschungsorganisationen gegeneinander auszuspielen.

Diese sehr unterschiedlichen Partikularinteressen konvergierten in dem Übereinkommen, den institutionellen Status quo zu erhalten.

Störung des Gleichgewichts nach der Vereinigung

Der Domänenkonsens, der sich zwischen Bund, Ländern und Wissenschaftsorganisationen in der alten Bundesrepublik herausgebildet hatte, konnte zwar formal (das heißt im Einigungsvertrag festgeschrieben) über den Tag des Beitritts der DDR – den 3. Oktober 1990 – hinweggerettet werden. Er ist jedoch inzwischen unter Druck geraten und wird möglicherweise in Zukunft an entscheidenden Stellen aufgebrochen werden (Bild 3).

Eine dieser kritischen Stellen ist das Verhältnis von Bund und Ländern. Es zeigt sich bereits, daß die neuen Bundesländer aufgrund ihrer Finanzschwäche ihre originären forschungspolitischen Aufgaben nicht vollständig wahrzunehmen vermögen. Da die alten Länder nicht bereit beziehungsweise nicht imstande sind, einen entscheidenden Solidarbeitrag zu leisten, kommt der Bund immer stärker in die Rolle eines Finanziers der Wissenschaft und Forschung in Ostdeutschland.

Ein Indiz für die gewachsene Abhängigkeit der neuen Länder ist die detaillierte Zweckbindung der Bundesmittel im Hochschulerneuerungsprogramm, aus denen unter anderem die Sonderfinanzierung der neugegründeten Blaue-Liste-Institute bestritten wird. Wenngleich diese Mittel aus Sicht der neuen Bundesländer dringend notwendig und erwünscht sind, sehen Spitzenbeamte aus ihren Wissenschaftsministerien in den inhaltlichen Vorgaben auch eine – im Vergleich zu den Hochschulsonderprogrammen der Vergangenheit – stärkere Knebelung und einen Versuch, die Länderautonomie einzuschränken. Zwar leitet der Bund gegenwärtig (wegen eigener fiskalpolitischer Restriktionen) aus dem asymmetrischen Finanzierungsverhältnis keine Domänengewinn-Strategie ab; jedoch könnte, wenn der Einfluß des BMFT über die Mittel mehrere Jahre lang derart stark bleibt, eine schleichende Zentralisierung der deutschen Forschungspolitik die Folge sein.

Ein derartiger Trend, wenn er denn einträte, würde aber auch das Verhältnis der staatlichen Akteure zu den Wissenschaftsorganisationen verändern. Denn deren Autonomie leitet sich ja im wesentlichen davon her, daß Bund und Länder etwa gleich stark sind und Eingriffe eines Partners im föderativen System jeweils durch den anderen verhindert werden können. Wenn nun die neuen Länder nicht imstande oder nicht willens sind, dem Bund Paroli zu bieten, so geraten die Wissenschaftsorganisationen – zumindest im Osten – in eine erhebliche Abhängigkeit vom Bund, dem damit prinzipiell erweiterte Steuerungsmöglichkeiten offenstehen.

Eine andere nicht intendierte Störung des forschungspolitischen Gleichgewichts betrifft die Bedeutung der westlichen Wissenschaftsorganisationen im gesamtdeutschen Wissenschaftssystem. Separate östliche Einrichtungen der Grundlagen- und Anwendungsforschung hatte man zwar verhindern können; doch haben die Empfehlungen des Wissenschaftsrates die – vor allem von der Hochschulrektorenkonferenz beklagte – Gründung einer Vielzahl neuer Blaue-Liste-Institute zur Folge gehabt (Spektrum der Wissenschaft, März 1993, Seite 114). So ist letztlich doch eine verstärkte Konkurrenzsituation innerhalb des Systems der außeruniversitären Forschung in Deutschland entstanden. Immerhin ist die Blaue Liste durch die hinzugekommenen Einrichtungen im Osten personell und dem Finanzvolumen nach fast ebenso stark wie die Max-Planck-Gesellschaft und die Deutsche Forschungsgemeinschaft.

Des weiteren hat das gesamte Evaluationsverfahren den Anstoß zu der vom Wissenschaftsrat aufgegriffenen Forderung gegeben, auch die Einrichtungen im Westen zu evaluieren. Diese geraten also unter zunehmenden Legitimationsdruck, der insbesondere wiederum dem Bund die Gelegenheit gibt, möglicherweise lange geplante Strukturreformen in den Institutionen durchzusetzen. Vorrangig betrifft das gegenwärtig die Großforschungseinrichtungen, die sich einer systematischen programmatischen Überprüfung durch das BMFT mit zum Teil erheblichen Kürzungsvorgaben gegenübersehen. Grundsätzlich müssen sich jedoch von der in Ostdeutschland lauter werdenden und vom Wissenschaftsrat unterstützten Forderung nach einer Analyse und Neubewertung der Forschung im Westen alle Einrichtungen angesprochen fühlen.

Es könnte also sein, daß sich infolge der staatlichen Vereinigung das forschungspolitische Gleichgewicht zugunsten des Bundes verlagert. Ob und unter welchen Bedingungen dieses Szenario Realität wird, hängt nicht zuletzt davon ab, ob die 16 Länder der neuen Bundesrepublik – trotz aller Disparitäten – willens und fähig sein werden, genügend wechselseitige Solidarität aufzubringen, um einem solchen Zentralisierungsdruck standzuhalten. Voraussetzung und erste Nagelprobe dafür war bereits die Neuregelung des Länderfinanzausgleichs unter Einbeziehung der neuen Bundesländer, denn erst bei einer von allen Beteiligten als gerecht akzeptierten Verteilung der finanziellen Bürden läßt sich Solidarität überhaupt erwarten.

Selbst wenn es gelänge, das wissenschaftspolitische Bund-Länder-Gleichgewicht stabil zu halten, wird eine wertende Prüfung und – wo nötig – eine Strukturreform der gesamtdeutschen Forschungsorganisation weiter eingefordert werden. Die betroffenen Einrichtungen wären deshalb gut beraten, wenn sie aktiv und selbstkritisch daran mitwirkten.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1993, Seite 88
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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