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Die Chemie zwischen Natur und Ideal

Chemiker können in der Natur vorkommende Moleküle künstlich herstellen oder nie dagewesene Strukturen erschaffen, deren einziger Wert ihr ästhetischer Reiz ist. Worin sollten sie ihr höchstes Ziel sehen?

Zu den kunsthistorisch bedeutendsten Fresken in der Stanza della Segnatura des Vatikan – einem Raum, den Papst Julius II. für kirchliche Tribunale nutzte und von Raffael (1483 bis 1520) ausmalen ließ – gehört die berühmte "Schule von Athen". Platon und Aristoteles schreiten darin auf den Betrachter zu, wobei Platons rechte Hand zum Himmel, die von Aristoteles dagegen nach vorn zur Erde weist (Bild 1). Diese Gesten symbolisieren treffend die gegensätzlichen philosophischen Ansichten der beiden Denker der Antike: Während Platon (427 bis 347 vor Christus) eine geometrische Theorie von der Chemie der Materie aufstellte, beschrieb sein Schüler Aristoteles (384 bis 322) mit zuverlässiger Genauigkeit die Gewinnung von Tyrischem Purpur (wie man heute weiß: Dibromindigo) aus Stachelschnecken. Platon war auf der Suche nach dem Ideal, Aristoteles dagegen beobachtete die Natur.

Die moderne Chemie sieht sich bemerkenswerterweise in das gleiche Dilemma verstrickt, das Raffaels Fresko versinnbildlicht. Sollte sie der Hand Platons oder der von Aristoteles folgen? Können Chemiker, um ein Beispiel zu geben, zu leistungsfähigeren Verbundwerkstoffen kommen, indem sie die Mikrostruktur einer Vogelfeder oder eines Spinnwebfadens nachzuahmen suchen? Oder wären sie besser beraten, Inspiration aus idealisierten geometrischen Formen wie dem Ikosaeder oder der Fußballstruktur aus 12 Fünf- und 20 Sechsecken zu beziehen? Oder sollten sie sich am Ende gar vom Zufall leiten lassen?

Die Einteilung in natürlich und unnatürlich scheint manchen willkürlich. Ihr Argument, daß der Mensch offenkundig Teil der Natur sei und folglich mit ihm alles, was er hervorbringt, ist zwar durchaus vertretbar und hat eine ehrwürdige Tradition. Doch wird damit allzu leicht ein Unterschied weggewischt, den sowohl einfache Leute als auch sehr nachdenkliche Menschen deutlich empfinden und für wesentlich erachten. Ich werde deshalb zwischen den zumeist beabsichtigten Taten menschlicher Wesen und dem Wirken von Tieren, Pflanzen und der unbelebten Welt unterscheiden. Ein Sonnenuntergang ist danach natürlich, eine Schwefelsäurefabrik dagegen nicht. Die 1,3 Milliarden Stück Vieh auf dieser Welt passen allerdings bereits nicht mehr in dieses Schema; denn die Mehrzahl davon ist sowohl natürlich als auch unnatürlich – ein Ergebnis durch Menschen gesteuerter Zucht.

Die auf der Erde vorhandenen natürlichen Moleküle haben sich in den Jahrmilliarden gebildet, in denen die anfangs glutflüssigen Gesteine erkalteten, Ozeane entstanden, Gase aus dem Inneren unseres Planeten entwichen und das Leben sich entwickelte. Ihre Anzahl ist gewaltig; vielleicht einige hunderttausend hat man bisher isoliert, gereinigt und identifiziert. Die überwiegende Mehrzahl der Verbindungen, die in die Kategorie "unnatürlich" gehören, wurde hingegen erst im Laufe der vergangenen drei Jahrhunderte geschaffen. In dieser Zeit haben die Chemiker die Natur um etwa 15 Millionen gut charakterisierte Moleküle bereichert.

Alle mit unseren Sinnen erfahrbare Materie, sei sie belebt oder nicht, ist durch die ihr eigene Struktur gekennzeichnet. Auf der untersten Stufe stehen die Moleküle: dauerhafte Anordnungen aneinandergelagerter Atome. Wasser findet sich nicht nur hochrein destilliert im Labor, sondern auch in mehr oder weniger verschmutztem, leicht saurem Schnee oder angelagert an die Eiweißmoleküle unseres Körpers. In allen Fällen handelt es sich um das gleiche Molekül: H2O. Als die Chemiker noch um ein erstes Verstehen ihres Faches rangen, zögerten sie mit gutem Grund, belebte und unbelebte Materie gleichzusetzen. Erst Friedrich Wöhler (1800 bis 1882) lieferte ein für viele überzeugendes Indiz, daß keine zwei getrennten Welten existieren, indem er 1828 organischen Harnstoff aus den anorganischen Stoffen Silbercyanat und Ammoniumchlorid herstellte.

Wie entstehen Moleküle in der Natur – Penicillin in einem Schimmelpilz oder Dibromindigo in einer Stachelschnecke? Wie macht man sie in gläsern funkelnden Labors – die kilometerlangen Bahnen von Cellophanfolie oder die Milliarden von Aspirinpillen? Der Prozeß ist in beiden Fällen gleich und heißt Synthese.

Chemie ist die Wissenschaft der Moleküle und ihrer Umwandlungen. Das Ergebnis der Umsetzung A o B – gleich ob natürlich oder vom Menschen gesteuert – ist eine neue Substanz. Als Erschaffung von Neuem ist die chemische Synthese offenkundig ein schöpferischer Akt. Sie ist ebenso Ausdruck und Selbstbestätigung des Menschtums wie ein neues Gedicht von A. R. Ammons oder der Aufbau der Demokratie in Rußland

Doch jede Neuschöpfung ist auch mit Risiken behaftet. Ein neues Beruhigungsmittel kann wirksam sein, verursacht aber vielleicht zugleich Mißbildungen an Feten. Ein Gedicht von Heberto Padilla ist für einen treuen Anhänger Fidel Castros möglicherweise konterrevolutionär; und der Übergang zur Demokratie stürzt Rußland erst einmal in gewaltige wirtschaftliche und gesellschaftliche Schwierigkeiten.

Seit 1828, als Wöhler zwei Stoffe miteinander vermischte, sie erhitzte und ein unerwartetes Ergebnis erhielt, ist viel geschehen. Um zu verdeutlichen, wie man heute neue Moleküle macht und auf welche Weise in diesem schöpferischen Prozeß Natürliches mit Unnatürlichem verwoben ist, möchte ich als Beispiel die Synthese von zwei Substanzen heranziehen: von Primaxin und dem Eisenrad.

Die unnatürliche Synthese eines Naturstoffs

Primaxin ist eines der wirksamsten Antibiotika auf dem Markt und eines der Produkte, mit denen die Firma Merck & Co. die größten Umsätze erzielt. Das Arzneimittel besteht nicht aus einem einzelnen Molekül, sondern ist eine wohlabgestimmte Mischung der beiden Verbindungen Imipenem und Cilastatin. Dies sind die sogenannten Trivialnamen der beiden Substanzen. Ihre systematischen Bezeichnungen sind etwas länger. Bei Imipenem handelt es sich beispielsweise um

[5R-[5a, 6a(R*)]]-6-(1-Hydroxyethyl)3-[[2-[(iminomethyl)amino]ethyl]thio]7-oxo-1 -azabicyclo[3.2.0]hept-2-en-2carbonsäure.

Primaxin entstand durch ein bißchen unnatürliches Herumprobieren nach dem natürlichen Vorbild der biologischen Evolution. Imipenem ist an sich ein ausgezeichnetes Antibiotikum, wird jedoch in der Niere schnell durch ein Enzym zersetzt; deshalb wäre das Arzneimittel bei Infektionen der Harnwege nur von begrenztem Nutzen. Die Chemiker von Merck fanden aber in ihrer Chemikaliensammlung eine in den vierziger Jahren synthetisierte vielversprechende Verbindung, die das in diesem Falle lästige Enzym blockiert. Cilastatin ist eine modifizierte Form dieser Substanz mit höherer Aktivität. Es war naheliegend, Antibiotikum und Enzymblocker zu kombinieren, und tatsächlich: Die Mixtur erfüllte den gewünschten Zweck.

Imipenem leitet sich von einem natürlichen Produkt ab, Cilastatin nicht. Kommerziell werden beide synthetisch hergestellt. Auf diesen Punkt möchte ich später zurückkommen. Zunächst soll die Entstehungsgeschichte von Imipenem näher beleuchtet werden.

Die Substanz wurde in den siebziger Jahren bei Merck unter der Leitung von Burton G. Christensen entwickelt. Es handelt sich um die leicht veränderte Form eines anderen Antibiotikums, Thienamycin. Dieses wiederum hatte man bei der Untersuchung von Erdproben aus New Jersey entdeckt. Es wird von einem Pilz gebildet, dem Streptomyces cattleya, der nach der blaßlila Farbe benannt ist, die er mit der Cattleya-Orchidee gemeinsam hat. Der Mikroorganismus ist eine regelrechte Arzneimittelfabrik, die außer Thienamycin noch etliche andere Antibiotika produziert.

Leider erwies sich Thienamycin bei höheren Konzentrationen als chemisch nicht stabil, und außerdem ist – um einen Mitarbeiter von Merck zu zitieren – "der entzückende orchideenfarbene Organismus etwas zu knauserig". Der gebräuchliche, von der Pharma-Industrie in den, vergangenen 50 Jahren perfektionierte Fermentierungsprozeß liefert nicht genug von dem Antibiotikum. Deshalb beschloß man, eine Labor-Synthese zu entwickeln, die größere Mengen Thienamycin versprach.

Diese Synthese umfaßt nicht weniger als 21 Hauptschritte, von denen jeder wiederum aus mehreren physikalischen Operationen wie Lösen, Erhitzen, Filtern und Kristallisieren besteht. Von der Ausgangssubstanz L-Asparaginsäure, einer gewöhnlichen Aminosäure, bis zum Endprodukt Thienamycin müssen 20 andere Moleküle isoliert und gereinigt werden. Nur acht davon sind in dem Kasten oben dargestellt.

Als erstes wirkt das Reaktionsschema erschreckend kompliziert. Diese Komplexität ist aber unvermeidlich und spiegelt nur die biochemische Komplexität der Bakterien und unseres eigenen Körpers wider. Auch Chemiker hätten lieber Problemlösungen von bestechender Einfachheit wie das Ei des Kolumbus. Doch die Wirklichkeit ist kompliziert – und gerade deshalb schön. Wir müssen uns einfach mit dieser Tatsache abfinden.

Um ein Gefühl für die Mühe (um nicht zu sagen den Schweiß und die Tränen) zu bekommen, die das Ausarbeiten dieses Synthesewegs gekostet hat, muß man den experimentellen Teil der Veröffentlichung lesen, in der die Chemiker über ihren Erfolg berichten. Hier ist ein Auszug daraus, in dem eine kritische und kreative Synthesestufe beschrieben wird: die Umwandlung von Verbindung 8 in Verbindung 9.

Eine Suspension des Diazoketoesters (8) (3,98 g, 10,58 mmol) und von Rhodium(II)acetatdimer (0,04g, 0,09 mmol) in wassefreiem Toluol (250 ml) wurde gründiich mit Stickstoff gespült und dann unter beständigem Rühren in einem Ölbad auf 80 °C erhitzt. Nach zwei Stunden wurde das Reaktionsgemisch noch warm durch wasserfreies Magnesiumsulfat gefiltert. Nach dem Eindampfen im Vakuum lieferte das Filtrat den bicyclischen Ketoester (9) (3,27g,89%) als weißlichen Feststoff.

Man kann sicher sein, daß diese mit Fachjargon gespickte Zusammenfassung einer experimentellen Prozedur nicht beschreibt, wie der Versuch das erste Mal wirklich abgelaufen ist. Sie stellt eine von allen mittlerweile überwundenen Irrtümern, Schwierigkeiten, mißlungenen Ansätzen und Umwegen gereinigte und stark geglättete Version der Realität darden Endzustand, ordentlich, optimiert. Doch auch in dieser Fassung spürt man noch die Anstrengung, die dahintersteckt, erkennt eine Folge zeitaufwendiger und mühsamer Arbeitsgänge. Wie bei der romantischen Vorstellung von den Versen, die einem Dichter aus der Feder fließen, übersieht man oft, mit wieviel Mühen der kreative Akt verbunden ist. Sogar der biblische Schöpfer ruhte am siebten Tag.

Interessant ist auch, was sich an den einzelnen Verfahrensschritten ändern muß, wenn man sie auf den großtechnischen Maßstab übertragen will. Schließlich läßt sich Thienamycin im Wert von einigen hundert Millionen Mark nicht auf die gleiche Weise produzieren wie einige Gramm im Labor. Hier ist die Beschreibung der industriellen Synthese für den gleichen Reaktionsschritt.

Die 200kg (8) enthaltenden Feststoffe werden in 1800 l MeCl2 in Tank TA-1432 geschüttet. In der Zwischenzeit wird der Reaktor ST-1510 mit 750 l siedendem MeCl2 gereinigt. Anschließend wird die festflüssige Dispersion in ST-1510 gepumpt und die Leitung mit 190 l MeCl2 nachgespült. Weitere 1500 l trockenes MeCl2 werden in ST-1510 eingefüllt, und Heißwasser (65 °C) wird durch die Mantelröhre geleitet, um die Charge auf 2060 l zu konzentrieren; die Dispersion KF (Karl Fischer) enthält dann etwa 0,5 g/l H20. Die Destillate werden kondensiert und in einem anderen Tank gesammelt.

Die Zubereitung von Filet Stroganoff für l000 Gäste ist eben nicht das gleiche, wie wenn man zu Hause für vier Familienmitglieder kocht.

Die Synthese von Thienamycin ähnelt einem Konstruktionsvorgang, bei dem einfache Einzelteile nacheinander zu einem komplizierten Gebilde zusammengesetzt werden. In dieser Hinsicht hat die Chemie viel mit der Architektur gemeinsam. So kann die Struktur einer erforderlichen Zwischenstufe komplizierter sein als die des Anfangs- wie auch des Endzustands denken Sie nur an Gerüst- und Schalungskonstruktionen. Und wie unsere Bauten oder Städte stellt die chemische Synthese einen zeitlich und örtlich begrenzten Sieg über die Entropie (die allgemeine Tendenz zur Zunahme der Unordnung) dar. Bei aller Ähnlichkeit zur Architektur sollte man sich jedoch klarmachen, um wieviel wunderbarer noch die chemische Baukunst ist. In einem Liter-Glaskolben schwirren etwa l023 Moleküle umher und stoßen immer wieder zufällig zusammen. Gleichsam mit den Händen im Schoß dirigiert sie der Chemiker nach seinem Belieben, so daß sie – nur den strengen Gesetzen der Thermodynamik folgend – Elektronen austauschen, an bestimmten Stellen aufbrechen oder neue Bindungen eingehen. Mit etwas Glück folgen 99 Prozent der Moleküle der vorgesehenen Prozedur.

Chemiker können für eine bestimmte Menge Ausgangssubstanz leicht berechnen, wieviel an Produkt bei vollständiger Umsetzung daraus entstünde; das nennt man die theoretische Ausbeute. Was tatsächlich herauskommt, ist die experimentelle Ausbeute. Sie kann nie größer als die theoretische sein – von nichts kommt nichts. Aber es gibt viele Gründe, warum sie oft kleiner ausfällt. Eine Möglichkeit, nur 50 Prozent Ausbeute zu bekommen, ist, die Hälfte der Reaktionslösung zu verschütten. Das ist keine Kunst. Aber selbst wenn man jeden Schritt so sorgfältig wie irgend möglich durchführt, kann es passieren, daß die Natur nur bedingt tut, was man will, und zum Beispiel 70 Prozent des Ansatzes in schwarze Schmiere verwandelt. Auch das demonstriert nicht gerade den Triumph des Geistes über die Materie. Der Prozentwert der experimentellen Ausbeute ist darum nicht nur ein Kriterium für die Wirtschaftlichkeit, die für die industrielle Nutzung ausschlaggebend ist, sondern ebenso für die Eleganz und Steuerbarkeit einer Synthesemethode.

Die unplanmäßige Synthese eines molekularen Eisenrads

Es gäbe noch mehr – viel mehr – zu geplanten organischen Synthesen zu sagen. Aber ich möchte jetzt zu dem zweiten Fallbeispiel kommen, dem Eisenrad.

Stephen J. Lippard und Kingsley L. Taft vom Massachusetts Institute of Technology in Cambridge entdeckten diese Verbindung mit der chemischen Formel [Fe(OCH3)2(O2CCH2Cl)]l0 bei der Suche nach Modellmolekülen für anorganische Reaktionen, die in biologischen Systemen ablaufen. So bilden Cluster (Gruppierungen) aus Eisen- und Sauerstoffatomen die Zentren von zahlreichen bedeutenden Proteinen wie etwa Hämerythrin, Ribonucleotid-Reduktase, Methanmonooxygenase oder Ferritin (alles wahrlich Zungenbrecher, doch sie bezeichnen lebenswichtige Stoffe).

Im Zuge ihrer breit angelegten Studie derartiger Verbindungen führten Lippard und Taft eine trügerisch einfache Reaktion durch. Wie simpel sie zu sein scheint, zeigt der experimentelle Teil ihrer Veröffentlichung, der hier in vollem Wortlaut wiedergegeben ist:

Zur Darstellung von Verbindung 1 wurde das Monochloracetat-Derivat von basischem Eisenacetat, [Fe3O(O2CCH2Cl)6 (H2O)3](NO3) (0,315 g, 0,366 mmol) in 65 ml Methanol mit 3 Äquivalenten Fe(NO3)3 9H2O (0,444 g, 1,10 mmol) zur Reaktion gebracht. Diffusion von Ether in die grünbraune Lösung ergab eine gelbe Lösung, aus der sich nach einigen Tagen goldbraune Kristalle von (1) sowie ein gelber Niederschlag abschieden.

Durch Röntgenbeugung bestimmten Lippard und Taft die Anordnung der Atome im Molekül (Bild 2). Zehn Eisen(III)-Ionen (Eisen der Oxidationsstufe drei) sind zu einem Kreis aufgereiht. Dabei ist jedes mit seinen Nachbarn über Methoxid- und Carboxylatbrücken verbunden, so daß nach den Worten der beiden Wissenschaftler "ein molekulares Eisenrad gebildet wird".

Niemand wird die strukturelle Schönheit des Moleküls bestreiten. Es liefert nicht schätzungsweise 500 Millionen Dollar Jahresumsatz wie Primaxin. Im Gegenteil, seine Herstellung hat den amerikanischen Steuerzahler vermutlich einige tausend Dollar gekostet. Aber ich kenne keinen einzigen Chemiker – und sei er noch so knickerig –, der nicht positiv auf diese reizvolle Schöpfung reagiert hätte. Vielleicht ergibt sich eines Tages eine Anwendung für das Eisenrad, oder es hilft, die Wirkungsweise eisenhaltiger Proteine aufzuklären. Aber eigentlich kümmert mich das nicht. Mir bereitet dieses Molekül einen ähnlichen geistigen Genuß wie das Anhören eines Klaviertrios von Joseph Haydn, das ich besonders mag.

Warum ist dieses Molekül schön?

Weil seine Symmetrie direkt an unsere Seele rührt. Es läßt eine Saite der platonischen Ideale anklingen. Vielleicht hätte ich es lieber mit Judy Collins’ Interpretation von "Amazing Grace" als mit dem Trio von Haydn vergleichen sollen.

Die Themen des Trios sind zwar eingängig, doch beruht die Wirkung des Stücks in erster Linie auf seinem kontrapunktischen Aufbau, also seiner Komplexität; das Eisenrad hingegen ist reine Melodie. Im Gleichungsschema für die Synthese des Eisenrads taucht nur ein einziger Reaktionspfeil auf: vom Eisenchloracetat und Eisen(III)nitrat zum Endprodukt.

Dies ist eine ganz andere Art von Synthese als beim Thienamycin – das Produkt setzt sich praktisch von selbst zum Meisterstück zusammen. Immer wenn ich solche Reaktionen sehe, die viel typischer für anorganische als für organische Systeme sind, habe ich das Gefühl, daß etwas fehlt. Der schwedische Chemiker Sture Forsen hat diese Frustration, wenn man die Zwischenstufen einer Reaktion nicht beobachten kann, treffend beschrieben:

Das Problem, dem sich der Wissenschaftler gegenübersieht, ist mit dem eines Theaterbesuchers verglichen worden, der einer drastisch gekürzten Fassung eines klassischen Dramas – etwa "Hamlet" beiwohnt, in der nur die Eröffnungsszene des ersten sowie die Schlußszene des letzten Akts gezeigt werden. Die Hauptfiguren werden eingeführt, dann fällt der Vorhang zum Szenenwechsel, und wenn er sich wieder hebt, sehen wir auf der Bühne eine Vielzahl von "Leichen" sowie einige Überlebende. Keine leichte Aufgabe für den Unerfahrenen herauszubekommen, was inzwischen geschehen ist.

Ob Eisen- oder Riesenrad, es fügt sich nicht einfach so auf einen Schlag zusammen. Wir werden noch in Erfahrung bringen müssen, wie die Eisenatome und molekularen Brücken dazwischen zueinanderfinden.

Triumph des Geistes oder glücklicher Zufall?

Einige Chemiker, besonders wenn sie die gedanklich anspruchsvolle und intellektuell anregende Vielstufensynthese wie beim Thienamycin betreiben, sehen etwas geringschätzig auf den einstufigen Selbstaufbau von Molekülen herab. Solche Reaktionen kommen besonders häufig in der Festkörperchemie vor – bei der Synthese von Stoffen, deren Struktur sich unendlich oft in einer, zwei oder drei Dimensionen wiederholt. Die Hochtemperatur-Supraleiter sind ein gutes Beispiel; ihre Synthese erscheint nicht als Triumph des Geistes über die Materie, sondern als pure Magie.

Das ist zwar überspitzt formuliert, trifft aber eine unter Chemikern weitverbreitete Einstellung. Um einen solchen Verächter der undurchsichtigen Auf-einen-StreichSynthese – typischerweise einen Organiker – in die Enge zu treiben, müßte ich ihn nur in einen Sokratischen Dialog verwickeln, den ich mit der Frage eröffnen würde: "Wann haben Sie in letzter Zeit einen Diamanten für mich hergestellt?". Diamant kommt in der Natur vor und hat eine bestechend einfache dreidimensionale Struktur. Er enthält abgeknickte Sechsringe aus Kohlenstoff, sozusagen das tägliche Brot der organischen Chemiker. Obwohl solche Ringe leicht in einem isolierten Molekül herzustellen sind, lassen sich künstliche Diamanten nur mit Methoden erzeugen, die Organiker als unsportlich verachten indem man etwa in Methan durch eine Gleichstrom-Bogenentladung eine Plasmafackel zündet oder Graphit extrem hohen Drücken aussetzt.

Organiker sind Meister in der Steuerung von Synthesen im quasi-nulldimensionalen Raum. An ein nahezu punktförmiges Kohlenstoffatom, das Teil eines nicht spiegelsymmetrischen (chiralen) Moleküls sein kann, bauen sie Stück für Stück weitere winzige Atomgruppierungen an. Langsam, in mühsamer Kleinarbeit, erwächst so ein kompliziertes molekulares MiniaturBauwerk von so gut wie verschwindenden Dimensionen.

(Thienamycin ist ziemlich einfach verglichen mit dem, was man heutzutage zustande bringt.)

Vertreter eines Teilbereichs der organischen Chemie haben immerhin auch die eindimensionale Konstruktionstechnik beherrschen gelernt. Das sind die Polymerchemiker oder Kettenbauer. Obwohl sie in der Organik nicht so angesehen sind, wie sie es verdienten, verdienen sie zumindest eine Menge Geld.

Aber in zwei oder drei Dimensionen gleicht die Syntheselandschaft einem Niemandsland. Es gibt so gut wie keine Methoden, Reaktionen so zu steuern, daß nach Bedarf theoretisch (thermodynamisch) instabile, aber praktisch (kinetisch) beständige ausgedehnte Strukturen entstehen. Um es positiv auszudrükken – hier liegt ein weites, fruchtbares Feld für die Chemie der Zukunft.

Synthesen lassen sich wie Menschen nicht gut typisieren. Jede ist anders, hat ihre eigenen Vorzüge und Mängel. Aus jeder lernen wir. Ich möchte an dieser Stelle – wenn auch widerwillig – den Bericht über Primaxin und das Eisenrad beenden und mich einigen allgemeinen Fragen zuwenden, die ich schon berührt habe, besonders der Unterscheidung zwischen natürlich und unnatürlich.

Was ist natürlich?

Hinter der Kunst der Synthese verbergen sich zwei Paradoxa. Das erste besteht darin, daß die Synthese zweifelsfrei ein menschlicher und damit unnatürlicher Akt ist, auch wenn man versucht, eine natürliche Substanz herzustellen. Das zweite Paradoxon ist, daß man bei der Synthese idealer Moleküle – wenn man also gerade das nicht in der Natur Vorkommende schaffen will – manchmal dennoch auf die Hilfe der Natur angewiesen ist. Lassen Sie mich diese Punkte anhand der beiden bereits besprochenen Synthesen erläutern.

Imipenem, die eine Komponente des erfolgreichen Merck-Präparats, wird aus Thienamycin hergestellt. Dieses entstammt fraglos dem Arsenal der Natur, aber aus chemischen und ökonomischen Gründen wurde entschieden, es in der kommerziellen Produktion künstlich zu fabrizieren.

Zweifelsohne diente in diesem Falle das natürliche Molekül den Chemikern als Vorlage; aber sie stellten es im Labor selbstverständlich nicht auf die gleiche Weise her, wie es im Pilz entsteht. Der Organismus hat seine eigenen komplexen chemischen Produktionsstätten, nämlich die im Laufe der Evolution optimierten Enzyme. Erst in jüngster Zeit haben wir gelernt, durch gentechnische Verfahren solche biologischen Miniatur-Fabriken oder ganze Mikroorganismen für unsere eigenen Zwecke nutzbar zu machen.

Unsere Stärke liegt in der Laborchemie, die bei aller Komplexität doch wesentlich einfacher ist als die evolutiv entstandene Chemie der Lebewesen. Christensen hätte mit seinem Team niemals versucht, die Wirkungsweise eines Pilz-Enzyms bis ins kleinste nachzuahmen. Dagegen traute er sich zu, es dem niederen Pilz mit seinen eigenen Labormethoden auf einem sehr begrenzten Feld – der Synthese von Thienamycin gleichzutun. Das Ziel war natürlich, die Methode nicht.

Zur Herstellung von Thienamycin verwendeten Christensen und seine Mitarbeiter eine bunte Mischung natürlicher und synthetischer Reagenzien. So wird bei der Synthese von Substanz 3 (siehe Kasten auf den Seiten 70 und 71) die Magnesiumverbindung (CH3)3CMgCl eingesetzt, ein sogenanntes Grignard-Reagens. Zwar kommen Magnesiumverbindungen in der Natur häufig vor (etwa als Bittersalz oder Chlorophyll), aber das fragliche Reagens, für den heutigen Synthetiker ein Standard-Hilfsmittel, hat der französische Chemiker Victor A. F. Grignard (1871 bis 1935) um die Jahrhundertwende erstmals erzeugt. Die Herstellung von Substanz 3 erfordert außerdem die Behandlung mit Salzsäure und Ammoniumchlorid, beides natürliche Stoffe. (Die Salzsäurekonzentration in Ihrem Magen ist nur unwesentlich geringer als die bei der Synthese erforderliche, und Ammoniumchlorid ist das Salmiaksalz der Alchemie.) Doch obwohl diese Substanzen in der Natur vorkommen, ist es wesentlich einfacher, sie industriell herzustellen.

Weil alle Stoffe letztlich aus der Erde, der Luft oder dem Wasser stammen, geht ohnehin jede für Synthesezwecke verwendete unnatürliche Chemikalie ursprünglich auf natürliche organische oder anorganische Vorstufen zurück. Das Ausgangsmaterial bei der Synthese von Thienamycin ist allerdings direkt eine natürlich vorkommende Aminosäurer die Asparaginsäure.

Betrachten wir nun das gänzlich unnatürliche, aber formvollendete Eisenrad. Wie gesagt, entstand es einfach durch Reaktion zweier künstlicher Moleküle, Eisenmonochloracetat und Eisennitrat, in Methanol, einem natürlichen Lösungsmittel. Das verwendete Methanol war allerdings höchstwahrscheinlich synthetisch hergestellt. Die beiden Eisenverbindungen wiederum stammten aus Reaktionen von Säuren mit metallischem Eisen, das seinerseits aus natürlichem Eisenerz gewonnen worden war. Das Fabelhafte an der Synthese ist, daß die Bausteine des Moleküls gleichsam wie von selbst an die richtige Stelle fallen. Was könnte natürlicher sein, als einem System freien Lauf zu lassen auf seinem Weg zum thermodynamischen Gleichgewicht?

Offenbar werden bei der unnatürlichen Synthese einer Natursubstanz (Thienamycin) oder einer unnatürlichen Verbindung (Eisenrad) gleichermaßen natürliche wie künstliche Reagenzien und Lösungsmittel in einem komplexen und verflochtenen Handlungsschema verwendet, bei dem den Dingen teils freier Lauf gelassen und teils von außen nachgeholfen wird. Das einzig Unveränderliche in diesem Geschohen ist die Veränderung, die Transformation.



Kohlenstoff-Polyeder als Herausforderung der Synthesekunst

Aber wir können den chemischen Schöpfungsakt noch weiter hinterfragen. Welcher Maxime sollte unser kreatives Handeln verpflichtet sein? Auf die Synthese welcher Moleküle sollten wir unsere Energien verwenden? Ist es nicht ein größeres Verdienst, statt etwas der Natur Ahnlichem stets nur das vollkommen Neue zu erschaffen?

Vier ideale Kohlenstoff-Polyeder haben in den vergangenen 40 Jahren den Ehrgeiz der synthetischen organischen Chemiker angestachelt (Bild 3): Tetrahedran (C4H4), Cuban (C8H8), Dodecahedran (C20H20) und Buckminsterfulleren (C60).

Tetrahedran ist äußerst instabil, weil an den Kohlenstoffatomen eine sehr große sterische Spannung herrscht (der Winkel zwischen drei beliebigen Kohlenstoffatomen beträgt nur 60 Grad, während jedes Kohlenstoffatom im Normalfall einen Winkel von 109,5 Grad zu seinen nächsten Nachbarn einnimmt). Tetrahedran ist daher nur bei sehr tiefen Temperaturen in besonderen Lösungsmitteln nachweisbar – aber selbst dann nicht als solches, sondern lediglich in Form eines "substituierten Derivats", bei dem die Wasserstoffatome durch voluminöse organische Gruppen ersetzt sind. Auch Cuban ist wegen der Bindungswinkel von 90 Grad an den Kohlenstoffatomen noch recht instabil.

Das C60 am anderen Ende der Reihe schließlich steht gleichfalls unter einer gewissen inneren Spannung. Hier fehlen die Wasserstoffatome als vierte Bindungspartner, so daß jedes der vierbindigen Kohlenstoffatome mit einem seiner drei Nachbarn über eine Doppelbindung verknüpft ist. Unter diesen Umständen wäre die ideale Struktur eigentlich das im Graphit realisierte ebene Wabenmuster aus Kohlenstoff-Sechsringen. Die Wölbung der Schichten und der Einbau von Fünfringen erzeugen Spannung.

Soweit bekannt, existieren Tetrahedran, Cuban und Dodecahedran nicht als natürliche Stoffe auf der Erde. C60 hat man in altem Ruß und in kohlenstoffreichem Urgestein namens Schungit entdeckt; vielleicht findet es sich auch in kosmischem Staub. Wie dem auch sei alle vier Moleküle wurden mindestens 20, teils sogar 50 Jahre vor ihrer Herstellung als lohnende Syntheseziele ins Auge gefaßt. Einige der weltbesten Chemiker versuchten sich vergeblich an ihrer Herstellung. Die Synthesen von Cuban und besonders von Dodecahedran waren gewaltige Errungenschaften in der Chemie unnatürlicher Produkte.

Beim C60 lagen die Dinge anders. Seine hübsche polyedrische Gestalt erregte zuerst das Interesse von Theoretikern, deren Rechnungen auf eine gewisse Stabilität schließen ließen. Bei den damals zur Verfügung stehenden Näherungsverfahren waren die Ergebnisse solcher Kalkulationen aber nicht unbedingt zuverlässig; deshalb ignorierten Experimentatoren und viele Kollegen der Theoretiker diese Hirngespinste. Manchmal ist es eben schwierig, die Schultern der Riesen zu erkennen, auf denen man steht, wenn man so angestrengt nach vorne schaut. Ich selbst habe die Existenz einer metallischen Modifikation von Kohlenstoff postuliert, die sich von Graphit und Diamant unterscheidet, und obwohl ich in chemischen Fachkreisen einen wesentlich höheren Bekanntheitsgrad genieße als seinerzeit

die Proponenten von Buckminsterfulleren, hat man auch meinen Gedankenspielereien bisher kaum Beachtung geschenkt – wahrscheinlich mit gutem Grund. Wir sehen, was wir sehen wollen.

Ein mir bekannter sehr guter Organiker, Orville L. Chapman von der Universität von Kalifornien in Los Angeles, hatte sich unabhängig von anderen Gedanken über die Struktur von C60 gemacht und viel Zeit in dessen systematische, planmäßige Synthese gesteckt. Schließlich handelte es sich im Grunde um ein einfaches Molekül ohne ausgedehnte, sich selbst wiederholende Gitterstruktur wie im Diamant. Also sollte es herstellbar sein. Aber trotz hartnäckiger Versuche über einen Zeitraum von zehn Jahren schaffte es Chapman mit seinen Studenten nicht.

Der erste Nachweis – zwar indirekt, doch unzweideutig – kam aus einem ganz anderen Zweig unserer Wissenschaft: der physikalischen Chemie. Der Entdeckerruhm gebührt Richard E. Smalley und Robert F. Curl von der RiceUniversität in Houston (Texas) sowie Harold W. Kroto von der Universität von Sussex in Brighton (England). Die drei fanden stichhaltige Beweise für winzige Mengen von C60 in der Gasphase, gaben dem Molekül seinen Namen und – was noch wichtiger ist – leiteten seine Struktur ab.

Hatten sie die Verbindung hergestellt? Auf jeden Fall. Für mich oder andere, die von dem gelungenen Nachweis überzeugt waren, hatte es keine Bedeutung, daß sie "nur" 1010 Moleküle C60 erzeugt hatten anstatt der zehnmilliardenfachen Menge, die man für einen winzigen Kristall braucht. Aber es gab viele Zweifler, insbesondere – wie ich vermute – unter den Organikern. Man wollte den Stoff einfach sehen.

Buckminsterfulleren in Gramm-Mengen lieferte schließlich eine Synthese von Wolfgang Krätschmer und Konstantinos Fostiropoulos vom Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg sowie von Donald R. Huffman von der Universität von Arizona in Tucson. Das Zünden eines Kohlenstoff-Lichtbogens unter Helium-Atmosphäre (was sie taten) ist etwa genauso unsportlich, wie mit dem Laser auf Graphit zu feuern (das Verfahren von Smalley, Kroto und Curl). Aber jedenfalls entstehen dabei so große Mengen von C60, daß man seinen Aufbau mit Standardmethoden der organischen Chemie bestimmen und jeden Chemiker davon überzeugen konnte, daß es die Fußballstruktur besitzt (siehe "Fullerene" von Robert F. Curl und Richard E. Smalley, Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1991, Seite 88).

Die hilfreiche Hand des Zufalls

Ich glaube, daß sich viele Chemiker gewünscht hätten, C60 wäre in einer planmäßigen, schrittweisen Synthese hergestellt worden. Mich freut, daß es eine Zufallsentdeckung war – und sei es nur, weil die Welt sich dadurch einmal mehr als nicht ganz so planbar erwiesen hat, wie wir sie gerne hätten. Doch auch der Zufall begünstigt den, der geistig bereit ist. Das gilt für den Chemiker bei einer Synthese, wie es für den japanischen Töpfermeister im Mittelalter galt, der organische Materie um keramische Gegenstände in seinem Bizen-Ofen auftürmte. Man muß das Wissen haben (einige nennen es Intuition), um die Zündbedingungen des Lichtbogens oder die Anordnung der Blätter im Brennofen gerade in der richtigen Weise zu variieren. Man benötigt geeignete Instrumente und zielgerichtete Phantasie, um aus einigen verschwommenen Linien in einem Spektrum eine Molekülstruktur herauslesen zu können und keinen falschen Fährten aufzusitzen – so wie man den Mut braucht, eine dem ästhetischen Konzept nicht vollkommen entsprechende Vase zu zertrümmern, und die Bereitschaft, aus einem Brennvorgang zu lernen, was beim nächsten besser zu machen sei.

Viele chemische Synthesen, auch wenn sie Bestandteil eines großangelegten Planes sind, enthalten Schritte, bei deren Ausgestaltung der Zufall mitgewirkt hat. Man möchte an jener Stelle eine Bindung schließen, aber es geht nicht wie geplant. Also gibt man einer Ahnung nach und probiert es etwas anders – keineswegs die vielgerühmte wissenschaftliche Methode. Aber wenn die Umsetzung einmal klappt, findet sich schon eine plausible Erklärung dafür, die schick genug ist, um die Kollegen zu beeindrucken. Schließlich muß man die verflixte Reaktion zum Laufen bringen, wenn sie gemäß der Syntheseplanung ein unerläßlicher Schritt ist.

Weil der Zufall leicht die schönsten Entwürfe zunichte macht, ist bei jeder noch so sorgfältig geplanten Synthese damit zu rechnen, daß einer der vorgesehenen Schritte nach keiner herkömmlichen Methode funktioniert. Also muß man sich eine neue ausdenken, die dann den Fundus der Chemiker bereichert und anderen in aller Welt hilft, gleichartige Probleme zu meistern. Einige Synthetiker – wie etwa Elias J. Corey von der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts), ein Großmeister seiner Kunst und Träger des Chemie-Nobelpreises 1990 – haben die besondere Gabe, nicht nur interessante, hochkomplizierte Moleküle zu fabrizieren, sondern bei dieser Gelegenheit auch brillante neue Methoden zu entwickeln, die für andere Synthesen nützlich sind.

War eine Synthese geplant, sei ihr Ziel ein natürliches oder unnatürliches Molekül, so wird alles Zufällige an der tatsächlichen Syntheseroute, wie sie sich am Ende darstellt, gern unterschlagen. Uns schmeichelt eben die Vorstellung, die Materie völlig kontrolliert, ihr unser geistiges Konzept übergestülpt zu haben. Entsteht dagegen ein unvorhergesehenes Molekül wie das Eisenrad, läßt sich die Hand des Zufalls schwerlich verbergen. Er ist jedoch ein belebendes – wenn auch meist verkanntes – Element einer jeden Synthese.

Fluch und Segen des Prometheus

Kehren wir zur Natur zurück und zu unserem Bemühen, sie nachzuahmen oder gar zu übertreffen. Können wir Substanzen herstellen, die Naturstoffen in gewissen Eigenschaften überlegen sind? Ich bejahe das, wohl wissend, daß die Formulierung "der Natur überlegen" einseitig wertend und anthropozentrisch ist und sofort ökologische Bedenken auf den Plan ruft.

Fischernetze enthalten Nylon statt Baumwolle, Damenstrümpfe Nylon anstelle von Seide. Niemand, am wenigsten ein Fischer in der Dritten Welt, wird die Baumwollnetze zurückhaben wollen. Zwar tragen einige Damen neuerdings wieder Seidenstrümpfe, aber nur die Reichen, um damit zu prunken. Es gibt neue chemische Werkstoffe und neue Kombinationen alter Materialien für Zahnersatz. Sie verhelfen vielen älteren Menschen zu einer früher nicht gekannten Lebensqualität, und ihre Vorzüge lassen sich nicht von der Hand weisen.

Trotzdem ist der Gedanke, besser sein zu wollen als die Natur, von provokativer Arroganz. ln unserem unermüdlichen Streben, die Natur zu vervollkommnen (während wir nicht imstande sind, das Natürlichste an uns selbst zu kontrollieren, nämlich unseren Fortpflanzungstrieb), verändern wir seit Jahrhunderten so viel an unserer Welt in einem solchen Ausmaß, daß- wir das eigene Nest verunreinigt und merklich störend in die großen Kreisläufe dieses Planeten eingegriffen haben. Wir müssen uns der Einsicht stellen, daß die natürliche Evolution viel zu langsam voranschreitet, um mit den von uns verursachten Veränderungen fertig zu werden. Die Sorge um die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen sollte in Zukunft ebenso bestimmend für Synthesen in industriellem Maßstab sein wie die Frage der Zweckmäßigkeit.

Ich möchte noch einen anderen Aspekt menschlicher Arroganz ansprechen, der auch für die chemische Synthese gilt. Der französische Chemiker Alain Sevin hat ihn treffend beschrieben:

Die unglaubliche Vielfalt und Erindungsgabe der Natur ist eine Herausforderung für den Menschen – als ob er in jeder Disziplin besser sein müßte. Schneller fliegen als Vögel, tiefer tauchen als Wale... Wir sind prometheische Gestalten in einem endiosen Drama, dessen molekularer Akt gerade begonnen hat.

Es ist uns ein Bedürfnis, zu verändern, und wir haben es sehr gut gelernt. Aber dieses Stück ist keine Komödie.

Suchte man nach einem Sinnbild für die chemische Synthese, so wäre die ausgestreckte Hand des Prometheus, der dem Menschen das Feuer bringt, eine gute Wahl. Prometheus, dessen Name auf deutsch "der Vorausdenkende" bedeutet, repräsentiert das Element des planvollen Entwurfs, der den schöpferischen Beitrag des Zufalls fruchtbringend einbindet. Das Feuer symbolisiert die Triebkraft der Umwandlung, und die Hand des Prometheus schließlich ist das Sinnbild der Schöpfung – die Hand Gottes, die sich in Michelangelos Fresko in der Sixtinischen Kapelle des Vatikan zu Adam ausstreckt, die Hände des jungen Jesus im Streitgespräch mit den Schriftgelehrten, wie es Albrecht Dürer dargestellt hat, oder die unendliche Vielfalt der Hände, die Auguste Rodin in Bronze gegossen hat. Hände segnen, liebkosen und verbergen, aber vor allem formen sie.

Die Bildhauerkunst selbst liefert ein Gleichnis der Gratwanderung eines Chemikers entlang der unscharfen, fließenden Grenze zwischen dem Natürlichen und dem Unnatürlichen. Bei seinem menschlichen Schöpfungsakt formte Rodin gemäß einem vorgefaßten Plan mit der Hand (unter Verwendung von Werkzeugen) in unnatürlicher Größe ein gleichwohl naturgetreues Abbild einer Hand. Sein Werkstoff war synthetisch (Bronze), aber natürlichen Ursprungs (Kupfer- und Zinnerze). Er benutzte ein Verfahren – den Bronzeguß nach Maquetten (verkleinerten Wachs- oder Tonmodellen) –, das in seinen Zwischenstufen ziemlich kompliziert ist. Und er schuf dabei etwas sehr Reales, dessen Sinn es war, uns das Ideal ins Bewußtsein zu rufen.

Die britische Schriftstellerin Margaret Drabble schrieb, Prometheus sei "fest verankert in der realen Welt aus Mühsal, Angst und Schmerz". Ohne chemische Synthese gäbe es kein Aspirin, kein Cortison, keine Pille zur Empfängnisverhütung, kein Betäubungsmittel und kein Dynamit. Die Errungenschaften der chemischen Synthese sind eng verknüpft mit unserem Bemühen, die Fesseln von Krankheit und Armut abzustreifen. Auf der Suche nach dem Ideal vereinen sich Geist und Hände und schaffen das Menschenmögliche.

Literaturhinweise

Synthesis. Von R. B. Woodward in: Perspectives in Organic Chemistry. Herausgegeben von A.R. Todd. Interscience, 1956.

A Stereocontrolled, Enantiomerically Specific Total Synthesis of Thienamycin. Von T. N. Salzmann, R. W. Ratcliffe, F. A. Bouffard und B. G. Christensen in: Philosophizal Transactions of the Royal Society of London, Serie B, Band 289, Nummer 1036, Seiten 191 bis 195; 16.Mai 1980.

Moleküle. Von P. W. Atkins. Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg 1988.

The Logic of Chemical Synthesis. Von E. J. Corey und Xue-Min Cheng. John Wiley & Sons, 1989.

Synthesis and Structure of [Fe(OMe)2 (O2CCH2Cl)]10, a Molecular Ferric Wheel. Von Kingsley L. Taft und Stephen J. Lippard in: Journal of the American Chemical Society, Band 112, Seiten 9629 bis 9630; 19. Dezember 1990.

The Organic Chemistry of Drug Design and Drug Action. Von Richard B. Silverman. Academic Press, 1992.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1993, Seite 68
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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