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Die Egil-Saga und das Paget-Syndrom

Eine isländische Saga erzählt von einem Wikinger mit besonders furchterregenden Gesichtszügen und einem massigen Schädel, der sogar nach langem Modern im Grab Axthieben widerstehen konnte. Vermutlich litt dieser Raufbold mit poetischen Fähigkeiten an einer seltenen Knochenkrankheit.

Von allen Wikingern, die in den altnordischen Sögur (Sagas) auftreten, ist Egil (oder Egill), Sohn des Skalla-Grim, der merkwürdigste. Er wurde Anfang des 10. Jahrhunderts auf Island geboren und nahm an Raubzügen und Abenteuern in Norwegen, Schweden, Dänemark, dem östlichen Baltikum, England, Sachsen und Norddeutschland teil. Obgleich hitzig, eigensinnig und gewalttätig, war Egil Skalla-Grimsson aber auch ein Mann mit moralischen Grundsätzen und ein begabter Dichter: Er gilt als einer der bedeutendsten Skalden des insularen Landes; seine Hauptwerke sind "Die Haupteslösung", der Stab- und Endreim virtuos kombiniert, "Der Söhne Verlust", das seinen Schmerz und seine Verlassenheit zum Ausdruck bringt, und ein Preislied auf seinen Freund Arinbjörn.

Er verkörperte den Drang nordgermanischer Seefahrer des Mittelalters, auf der Suche nach Beute und Abenteuer in unbekannte Welten hinauszuziehen. Von Adalstein, dem König der Angelsachsen, empfing er wertvolle Geschenke und Freundschaftsschwüre; Erik Blutaxt jedoch, der Wikingerkönig Norwegens, bedrohte ihn mit dem Tode. Mit Mut, Stärke und List überlebte Egil Krieg und Verrat, wurde 80 Jahre alt und starb um 990 auf Island im Kreise der Verwandten offenbar eines natürlichen Todes.

Doch trotz aller Heldenhaftigkeit wirkt Egil zutiefst beunruhigend. Sein Temperament und sein Aussehen rufen Angst und Schrecken hervor. Er wird als häßlicher, reizbarer, mürrischer Mensch dargestellt. Darin gleicht Egil seinem Vater und seinem Großvater, denen beiden eine bedrohlich wirkende Erscheinung zugeschrieben wurde. Die Saga unterscheidet ihr Äußeres deutlich von dem der übrigen Verwandten, die edel und schön gewesen sein sollen.

Egils Andersartigkeit war mehr als ein kleiner persönlicher Makel. In Prosa und Versen erzählt die Saga, daß er taub wurde, oft sein Gleichgewicht verlor, erblindete, unter chronisch kalten Füßen litt, Kopfschmerzen hatte und immer wieder in Lethargie verfiel. Überdies werden ungewöhnliche Verformungen seines Schädels und seiner Gesichtszüge beschrieben (Bild 1 rechts).

Die Symptome sprechen dafür, daß Egil an einer krankhaft beschleunigten Ersetzung der Knochensubstanz litt. Dieses Syndrom hat der Londoner Chirurg Sir James Paget (1814 bis 1899) erstmals 1877 diagnostiziert; es tritt familiär auf und ähnelt Egils Gebrechen frappierend (siehe Kasten auf Seite 94 sowie Bilder 2 und 4).


Der Wahrheitsgehalt der Sagas

Warum sollte das nach einem Jahrtausend noch irgend jemanden interessieren? Egils rätselhaftes Leiden führt in einen Grenzbereich zwischen Human- und Naturwissenschaft; die Diagnose seiner Krankheit ist wichtig, um die historische Genauigkeit der isländischen Sagas beurteilen zu können. Berichten sie zutreffend über eine Wikinger-Periode, die zur Zeit der Niederschrift immerhin schon 250 Jahre zurücklag? Oder sind sie reine Phantasiegebilde von Autoren des 13. Jahrhunderts? Dazu haben sich Historiker, Germanisten, Archäologen und Linguisten ausgiebig geäußert, aber die Naturwissenschaft war an dieser Debatte bislang kaum beteiligt. Gelegentlich hat das Thema die Gemüter so heftig erregt, daß ein Gelehrter schwor, an seiner Meinung festzuhalten, bis der Tod ihm die Feder aus der Hand nehme. Neue Indizien würden die festgefahrene Beweislage drastisch verändern.

Nach meiner Überzeugung liegt die Quelle dafür auf dem Gebiet der modernen Medizin. Für mich sind die widersprüchlichen Züge von Egils Persönlichkeit nicht das Resultat künstlerischer Übertreibung, sondern eines fortschreitenden Paget-Syndroms. Um diese ungewöhnliche Schlußfolgerung zu belegen, werde ich außer medizinischen häufig auch philologische Argumente ins Spiel bringen, also historische sprachliche und literarische Zeugnisse im kulturellen Kontext untersuchen.

Die isländischen Sagas sind eine der größten Sammlungen volkstümlicher Erzählungen – 31 ausführlicher und zahlreicher kürzerer – aus dem Mittelalter. Sie schildern die Reisen der ersten Generationen altnordischer Siedler nach Island, dem wichtigsten Vorposten der Wikinger im Nordatlantik.

Die Familiensagas – in Prosa geschrieben, aber mit vielen Versen geschmückt – spielen in der Zeit von 870 bis 1030. Im Gegensatz zu den Mythen und phantastischen Geschichten der Isländer ist ihr Stil nüchtern. Mit oft drastischem Realismus geben sie den bäuerlichen und politischen Alltag detailliert wieder und beschreiben die abenteuerlichen Fahrten der Wikinger in ihren offenen Rahsegelschiffen, unter anderem nach Grönland und Finnland. Die Frage bleibt freilich, ob diese Texte das Produkt einer langen Kette mündlicher Überlieferung sind oder pure literarische Erfindung von Autoren des 13. Jahrhunderts, als man in Island des Lesens und Schreibens kundig geworden war.

Der Saga zufolge verbrachte Egil die letzten Jahre bei seiner Adoptivtochter Thordis auf dem Mosfell-Hof im Südwesten Islands, nicht weit von der heutigen Hauptstadt Reykjavik. Zunächst wurde er dort in einem heidnischen Hügelgrab beerdigt. Doch zehn Jahre darauf exhumierten Thordis und ihr Mann Grim die Überreste – um 1000 wurde Island christianisiert – und setzten sie in einer kleinen Kapelle auf ihrem Hof bei. Rund 150 Jahre später baute man etwa 500 Meter entfernt eine zweite. Skapti, ein prominenter Nachkomme Egils, grub die Gebeine zum zweiten Mal aus und überführte sie auf den neuen Friedhof (Bild 1 links).

Die letzten Seiten der Egil-Saga erzählen eine merkwürdige Geschichte über Skaptis Fund. Da heißt es (nach der Übersetzung "Die Geschichte vom Skalden Egil" aus der Sammlung Thule, Jena 1911):

... daß... man beim Umgraben des Kirchplatzes unter der Altarstätte ein menschliches Gerippe fand. Die Gebeine waren viel größer als die anderer Menschen... Es lebte damals dort der Priester Skapti Thorarinsson, ein kluger Mann. Er nahm Egils Hirnschale und bestattete sie auf dem Kirchhof. Wunderbar groß war der Schädel, aber noch seltsamer war seine Schwere. Der Schädel war außen wellenförmig gefurcht und sah aus wie eine Kammuschel. Skapti wollte nun die Dicke des Schädels prüfen. Er nahm eine ziemlich große Hausaxt, schwang sie mächtig in der einen Hand und hieb mit dem Rücken der Axt auf den Schädel: Er wollte ihn so zerbrechen. Wo die Axt aufschlug, da ward der Schädel wohl weiß, er bekam aber keine Furchen und zersplitterte auch nicht. Daraus darf man entnehmen, daß die Hiebe schwacher Männer dem Schädel wohl wenig anhaben konnten, zumal solange noch Haut und Fleisch daran waren.

Diese Passage hat oft als Beispiel für die Unglaubwürdigkeit der Sagas herhalten müssen: So realistisch die Beschreibung auch anmuten möge, hätte ein 150 Jahre alter Schädel in Wirklichkeit dem Hieb von Skaptis Axt doch gewiß niemals widerstanden.

Doch nach Gesichtspunkten der modernen Medizin erscheint diese Episode nicht nur als literarisches Mittel, die Unverwundbarkeit der Wikinger zu unterstreichen. Die Egil-Saga beschreibt den Schädel präzise als "außen wellenförmig gefurcht... wie eine Kammuschel". Die Genauigkeit ist erstaunlich, denn dies ist der einzige Fall in der gesamten altnordischen Literatur, daß die sonst wohlbekannten Wörter hörpuskel (Kammuschel) und báróttr (geriffelt, wellig, gerippt, gekräuselt) zur Charakterisierung menschlicher Merkmale dienen. Eine kammuschelförmig gewellte Knochenoberfläche wird keinem anderen Wikingerhelden zugeschrieben, paßt aber gut ins medizinische Bild des Paget-Syndroms: Dabei diagnostiziert man oft Unregelmäßigkeiten der äußeren Schädeloberfläche und beschreibt ihr Aussehen als gerunzelt und wellenförmig; das Merkmal tritt in etwa einem von 15 typischen Fällen auf (siehe unteres Bild im Kasten auf Seite 94).

Den Ärzten ist auch die außergewöhnlich elastische, elfenbeinartige Härte der betroffenen Knochen aufgefallen. Sogar die weiße Spur von Skaptis Axt auf Egils Schädel ist ein deutlicher Hinweis auf das Paget-Syndrom: Bei einem Schlag kann etwas von dem weichen, bimssteinartigen äußeren Material des vergrößerten Paget-Schädels abplatzen, so daß der weiße, verhärtete und hochelastische Kern sichtbar wird (Bild 3).


Ein "Helm-Fels von Kopf"

In der Saga spricht Egil in sehr merkwürdiger Weise von seinem Kopf. Auf eine Begnadigung, die ihm sein Erzfeind Erik Blutaxt gewährt hat, antwortet er unter anderem mit folgenden Versen:

Gern nehme ich,

mag ich auch häßlich sein,

meinen Helm-Fels von Kopf

von einem König entgegen.

Vielleicht war durch das Paget-Syndrom auch Egils Gesicht auffällig deformiert, denn es beschäftigte noch nach vielen Jahren die literarische Phantasie. Die Saga beschreibt ausführlich, wie er in England nach einer Schlacht an der Festtafel saß; sein Gegenüber war König Adalstein, der ihm – wie er glaubte – Genugtuung für den Tod seines Bruders Thorolf schuldete:

Egil saß aufrecht da, aber sein Kopf hing vornüber. Egil war durch hervorstechende Merkmale gezeichnet. Er hatte eine breite Stirn, gewaltige Brauen, eine nicht lange aber ungeheuer dicke Nase, und durch den Bart waren starke und lange Lippen zu sehen. Er hatte ein auffallend breites Kinn und eine ebensolche Kinnlade, einen kräftigen Nacken und breite Schultern und, mehr als andere Männer, einen grimmigen Blick sowie unbändigen Jähzorn, wenn er gereizt war. Gut gewachsen war er und größer als andere, mit dichtem wolfsgrauem Haar, aber frühzeitig kahl. Während er dasaß, wie vorher erzählt, zog sich seine eine Braue von oben bis zum Kinn herab, die andere aber empor bis zu den Haarwurzeln der Stirn; über den schwarzen Augen waren die Brauen fast zusammengewachsen. Er wollte nicht trinken, soviel man ihm auch anbot, und senkte und hob immer abwechselnd die Brauen.

Dem König Adalstein blieb Egils drohende Haltung nicht verborgen. Um den Wikinger zu besänftigen, bot er ihm für den Tod seines Bruders eine großzügige Entschädigung an und gewann so Egils Loyalität.

Selbst wenn man der Darstellung literarische Freiheit zubilligt, ist es doch höchst ungewöhnlich, dem Protagonisten einer Saga derart groteske körperliche Merkmale beizulegen – es sei denn, der Autor erzählte eine wohlbekannte Geschichte. Die für das Paget-Syndrom typischen, oft schmerzhaften Verformungen und Verhärtungen von Knochen können als Kranialsklerose das Krankheitsbild der Leontiasis cranii hervorrufen (Bild 2). Dabei verändert sich der Gesichtsschädel in einer Weise, daß die Mediziner von "Löwengesicht" sprechen (Bild 1). Von dem Leiden sind vor allem Männer ab dem fünften Lebensjahrzehnt betroffen; es kann aber auch in der Jugend auftreten und paßt sehr gut zu Egils Beschreibung. Was die bizarre Beweglichkeit der Augenbrauen betrifft, so dürfte ein so furchterregender Mensch durchaus gelernt haben, mit seinem deformierten Gesicht absichtlich eine besonders gräßliche Wirkung zu erzielen, die den Augenzeugen noch lange im Gedächtnis blieb.

Auch die Beschwerden, die Egil im hohen Alter zusetzten, stützen die nachträgliche Diagnose. Die Saga erwähnt unter anderem Verlust des Gleichgewichts, des Gehörs und des Sehvermögens, Kälte in den Gliedern, Kopfschmerzen und auffallendes Wackeln und Hängenlassen des Kopfes – lauter Symptome des Paget-Syndroms im Spätstadium. Dem Text zufolge ging der greise Egil, nachdem er bei seinem Schwiegersohn Grim in Mosfell eingezogen war, eines Tages draußen im Freien spazieren, als er stolperte und hinfiel. Einige Frauen sahen das, lachten über ihn und sprachen:

"Du bist jetzt wohl ganz ohne Kraft, Egil, da du von selbst hinfällst. Da sagte der Bauer Grim: "Weniger spotteten die Weiber über uns, da wir noch jung waren". Jetzt sprach Egil:

Das Pferd des Halsbandes schwingt hin

und her,

Mein kahler Kopf schlägt auf, wenn ich

falle;

Mein Stück ist weich und klamm,

Und ich kann nicht hören, wenn sie rufen.

Warum sollte wohl dieses Gedicht über einen hin und her schwingenden Hals und andere Gebrechen überliefert worden sein? Ein Grund ist, daß die Verse in einer für altnordische Gedichte typischen Weise persönliche Gefühle in ein kompliziertes und buntes Worträtsel kleiden. Zu Zeiten der Wikinger galt Dichtung als ein Geschenk des Gottes Odin, und dichterische Begabung wurde hoch geschätzt. Hier spiegeln die Zeilen die immer noch rege Fähigkeit des alten Kriegers wider, körperliche Leiden in einprägsame Bilder zu verwandeln.

Die altnordische Versdichtung war ein Rätselspiel, das dem, der die Regeln begreift, wichtige Information liefert. Die erste Zeile bedeutet: Mein Hals wackelt. Um dieses Bild zu evozieren, gebrauchte der Autor eine poetische Umschreibung, im Altisländischen Kenning genannt. Stilistisch lassen Kenninge sich mit gewissen Metaphern im Deutschen vergleichen, zum Beispiel Wüstenschiff für Kamel. Die Kenning helsis valr (wörtlich: Pferd des Halsbandes) bedeutet Hals. Das Wort Schwingen wird durch váfa (beim Hängen hin- und herschwingen oder baumeln) ausgedrückt. Folglich meint die erste Verszeile einen Hals, der sich unter dem Gewicht eines wackelnden Kopfes krümmt.

Ein hängender, baumelnder Kopf ist kein gewöhnliches Merkmal hohen Alters; und auch die plastische Beschreibung des Halswackelns ist in der altisländischen Dichtung keinesfalls gebräuchlich. Ich habe bei einer Suche mittels Computer kein weiteres Beispiel für diese Kombination gefunden; der Dichter beschreibt somit eindeutig einen außergewöhnlichen Einzelfall.

Die Saga erzählt weiter, wie Egil sich als Greis durch körperliche Untüchtigkeit gedemütigt fühlt (sowohl Degeneration der Sehnervenfasern wie auch Lethargie und heftiges Verlangen nach Wärme sind Symptome des Paget-Syndroms):

Egil wurde endlich ganz blind. An einem Wintertage, da sehr kaltes Wetter war, ging er zum Feuer, um sich zu wärmen... "Steh auf", sagte die Frau, "geh zu deinem Platz und laß uns unsre Geschäfte verrichten." Egil stand auf, ging zu seinem Platz und sagte:

Ich tappe blind neben der Feuerstelle,

Bitte die Weiber um Nachsicht,

Bitter der Kampf

auf meinen Brauen-Ebenen.

Bei diesem Vers bedeuten die isländischen Wörter für "Brauen-Ebenen" (hvarma hnitvellir) die Augenpartie im Gesicht oder den Bereich der Nasenwurzel. Die Passage läßt darum offen, ob sich die Worte nur auf die Augen selbst beziehen oder auf die Partie um und zwischen den Augenhöhlen. Im ersten Falle wäre wiederum Egils Blindheit gemeint, im zweiten die Aussage: "Ich habe dort Schmerzen, wo sich die Augen treffen." Das würde heißen, daß Egil unter Kopfschmerzen litt. Möglicherweise waren beide Auslegungen beabsichtigt.

Egils Kopfschmerzen und Kälteempfindungen passen zu seinen anderen Symptomen. Opfer des Paget-Syndroms haben gelegentlich Kopfschmerzen, die durch den Druck der vergrößerten Wirbel auf das Rückenmark verursacht werden. Außerdem leiden sie sehr häufig an Arteriosklerose und Herzschäden. Zusätzlich treten Kreislaufprobleme – insbesondere kalte Hände und Füße – auf, weil das Herz überlastet ist und weil Blut, welches normalerweise die Gliedmaßen versorgt, für den rapiden Knochenumbau benötigt wird.

Kalte Füße, kalte Frauen

Auch eine weitere Klage zeugt von Egils Kälteschauern und kalten Füßen – und von seiner Fähigkeit, kluge Wortspiele zu erfinden:

Eigum ekkjur

allkaldar tv“r,

en ð“r konur

ðurfa blossa.

(Zwei Füße habe ich,

kalte Witwen.

Diese eisigen alten Weiber

brauchen eine Flamme.)

Hier spielt der Dichter gekonnt mit einer Doppelbedeutung. Seine Zuhörer wußten, daß sie, um das Rätsel der Strophe zu lösen, ein nichtgenanntes Wort finden mußten, dessen Bedeutung die erklärende Brücke schlagen würde. Dieses verborgene Wort ist hier h“ll (Ferse). Wenn man nämlich das Wort ekkja (Witwe) dadurch ersetzt, erhält es die zusätzliche Bedeutung "Fuß". Zuhörer Egils, die an den Feinheiten skaldischer Dichtung ihre Freude hatten, kannten die Assoziation der Pluralbildungen ekkjur (Witwen) und konur (Frauen) mit h“llar, dem Plural von h“ll: Der bedeutet sowohl "Füße" als auch "Frauen".

Wenn man erst einmal die Beziehung zu Füßen hergestellt hat, ist alles übrige einfach. Beide Hauptwörter sind mit dem Eigenschaftswort allkaldar (völlig kalt) verbunden. Demnach meint die Passage sowohl "kalte Füße" als auch "kalte Frauen"; beides machte dem alten Egil zu schaffen.

Zwar war es durchaus üblich, daß isländische Krieger-Poeten sich über Frauen beklagten – aber kaum über kalte Füße. Doch oft berichten die Sagas über den Kampf gegen das eigene Schicksal, und dazu gehört auch die Entkräftung durch Wunden, Krankheit und Alter. In diesem Falle erinnern die Verszeilen an den einsamen Kampf eines Mannes mit einem besonders qualvollen Leiden. Trotzdem vermochte Egil noch scharfsinnige Gedichte zu erfinden. James Paget hat dieses Phänomen auf klassische Weise formuliert: "Selbst wenn der Schädel enorm verdickt ist und all seine Knochen strukturell extrem verändert sind, bleibt der Geist unbeeinflußt."


Fiktion oder Beobachtung?

Wenn Egils Knochenbau ein derart auffallendes Bild des Paget-Syndroms liefert, mag man sich fragen, ob vielleicht erst die Exhumierung der Gebeine im 12. Jahrhundert die Quelle der Dichtung gewesen sei. Könnte ein Dichter des 13. Jahrhunderts von dem Zustand der Knochen erfahren und Verse über die Härte von Egils Schädel geschrieben haben, indem er Kenninge benutzte? Die Antwort lautet: Ja, vielleicht – zumindest was die Knochen anbelangt. Ein solcher Dichter hätte aber die Einzelheiten des Paget-Syndroms nicht gekannt; allein aufgrund der vergrößerten Knochen hätte er kaum das detaillierte Porträt eines Mannes mit kalten Füßen, Kälteschauern und Kopfschmerzen zeichnen können, mit einem vornüber baumelnden Kopf, unregelmäßigen Schüben von Lethargie sowie schweren Gleichgewichts-, Hör- und Sehstörungen.

Gegen den Knochenfund als Quelle der Saga spricht zudem, daß der mittelalterliche Text Egils Leiden einfach als die zerstörerische Wirkung hohen Alters schildert und keinerlei Verbindung zwischen Knochen und Krankheit herstellt. Ganz im Gegenteil: Der Saga-Autor zeigt sich sogar tief beeindruckt von Größe und Festigkeit des Schädels; er betont, wie nützlich ein so harter Kopf für einen Krieger ist. Entscheidend ist, daß die Versdichtung – möglicherweise das älteste Element der Saga – die Beschreibung der Knochenanomalien durch eigene, von den Prosapartien unabhängige Details ergänzt.

Könnte eine andere Krankheit Egils Probleme verursacht haben? In Betracht kämen Ostitis fibrosa (Recklinghausen-Krankheit), Akromegalie, Hyperostosis frontalis interna, fibröse Dysplasie und Osteopetrose (sogenannte Marmorknochenkrankheit); doch in all diesen Fällen passen wichtige Symptome nicht zu der Beschreibung Egils. Anhand sämtlicher heute verfügbarer Quellen können wir bei Egil mit hoher Wahrscheinlichkeit das Paget-Syndrom diagnostizieren.


Epidemiologie des Paget-Syndroms

Zwar bin ich durch Textpassagen in einer mittelalterlichen Saga auf das Paget-Syndrom gestoßen; doch unterdessen steht für mich fest, daß die gegenwärtig anerkannte Statistik dieser Krankheit für Island und vielleicht für ganz Skandinavien ungenau ist. Den meisten Studien zufolge soll dort das Syndrom extrem selten oder praktisch nicht vorhanden sein. Es mangelt aber an genauen Diagnosen. Zum Beispiel ergab 1982 eine ausführliche Studie zur Verteilung des Paget-Syndroms in Westeuropa, bei der 4755 Radiologen befragt wurden, daß die Krankheit in Großbritannien am häufigsten sei. In der Studie kamen allerdings Island, Norwegen, Schweden und Finnland gar nicht vor, weil man von vornherein annahm, dort sei die Häufigkeit sehr gering.

Das Paget-Syndrom ist gewiß selten, doch tritt es im heutigen Skandinavien öfter auf als allgemein angenommen. Bis vor kurzem glaubte man, in Island gebe es die Krankheit überhaupt nicht, aber in den letzten zehn Jahren hat man dort allmählich immer mehr Fälle entdeckt. Diese Tatsache blieb – mit Ausnahme einer Fallstudie aus dem Jahre 1981, die Gunnar Sigurdsson vom Städtischen Krankenhaus Reykjavik in einer kleinen isländischen Fachzeitschrift publiziert hat – bislang unveröffentlicht. Im Juli 1991 teilte Sigurdsson mir auf Anfrage mit, bei ihm seien zehn Paget-Kranke in Behandlung. Seine Beschreibung der Symptome deckte sich mit den Angaben von Thordur Hardarson von der Nationalen Universitätsklinik Islands, der auch Paget-Kranke behandelte.

Zur wachsenden Anzahl beobachteter Fälle im heutigen Island kommt, daß wahrscheinlich auch zur Zeit der mittelalterlichen Sagas ein Isländer oder gar eine ganze Familie an der Krankheit gelitten hat. Damit entsteht eine epidemiologische Geschichte über ein ganzes Jahrtausend hinweg.

Egils Gedichte, Skaptis mittelalterliche Untersuchung der Gebeine und die Erkenntnisse der modernen Medizin lassen sich wie Steine eines Mosaiks zu einem detaillierten Bild des Paget-Syndroms zusammensetzen. Nun läßt sich nicht länger behaupten, die Egil-Saga habe zur Erklärung für einen unförmigen Schädel, der im 12. Jahrhundert ausgegraben wurde, nichts Vernünftiges beizutragen. Vielmehr zeigt sich, daß eine Saga durchaus exakte Information zu liefern vermag. Gewiß dürfen wir daraus nicht gleich schließen, alle Sagas seien historisch wahr; doch Egils Gebeine sind ein starkes Indiz dafür, daß manche Passagen die Vergangenheit detailgetreu wiedergeben.

Vielleicht gelingt uns in diesem Falle sogar der endgültige Beweis: Egils Gebeine liegen möglicherweise noch immer auf dem alten Friedhof von Mosfell. Wir warten nun auf die Gelegenheit, seine sterblichen Überreste zum dritten Mal in diesem Jahrtausend auszugraben.

Literaturhinweise

- Die Helden von Thule. Isländische Sagas. Diederichs, München 1987.

– Die schönsten Geschichten aus Thule. Diederichs, München 1993.

– Corrugation of the Skull in Paget's Disease of the Bone. Von N.K. Chakravorty, S.K. Das und M.S. Kataria in: Postgraduate Medical Journal, Band 53, Heft 615, Seiten 40 bis 46, Januar 1977.

– Paget's Disease of the Bone: Assessment and Management. Von R.C. Hamdy. Praeger Scientific, 1981.

– Paget's Disease of the Bone: Clinical Assessment, Present and Future Therapy. Herausgegeben von Frederick R. Singer und Stanley Wallach. Elsevier Science Publishing, 1991.

– The Skull and Bones in Egil's Saga: A Viking, a Grave, and Paget's Disease. Von Jesse L. Byock in: Viator, Band 24, Seiten 23 bis 50, 1993.

– Medieval Iceland. Society, Sagas, and Power. Von Jesse L. Byock. University of California Press, 1988.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1995, Seite 90
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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