Direkt zum Inhalt

Effizientes Energiesparen bei Mausmakis

Die kleinsten Halbaffen Madagaskars verfallen an frühen kalten Wintermorgen in einen Lethargiezustand (Torpor) mit beträchtlich abgesenkter Körpertemperatur und Stoffwechselrate; tagsüber lassen sie sich dann passiv wieder aufwärmen. Erstmals konnte nun im Freiland ermittelt werden, wieviel Energie sie dadurch sparen.

Mausmakis sind die kleinsten Primaten der Welt. Wiegt schon der Graue Mausmaki (Micro- cebus murinus) nur 50 bis 100 Gramm, wird er vom Roten Zwergmausmaki (Microcebus myoxinus, Bild 1) mit rund 30 Gramm noch unterboten. Beide Arten bewohnen die Laubschicht im Trockenwald Westmadagaskars und sind lediglich nachts aktiv; dann suchen sie nach Früchten und Insekten. Diese Vorliebe für frische, saftige Nahrung stellt sie allerdings im Winter ­ auf der Südhalbkugel also zwischen April und Oktober ­ vor erhebliche Versorgungsprobleme; denn mit Beginn der Trockenzeit werfen die meisten Bäume des Waldes ihre Blätter ab, und frische Nahrung gibt es erst wieder mit Einsetzen der Regenzeit. Außerdem wird es in den Winternächten oft empfindlich kalt: Minimaltemperaturen zwischen 5 und 10 Grad Celsius sind auch an der Westküste Madagaskars keine Seltenheit. Damit steigt der Energiebedarf für die Aufrechterhaltung der Körperfunktionen und einer konstant hohen Körpertemperatur (die wie beim Menschen etwa 37 Grad Celsius beträgt) dramatisch an. Allerdings hatte man schon vor langer Zeit an Lemuren in Gefangenschaft beobachtet, daß sie bei Kälte ihre Stoffwechselrate und Körpertemperatur absenken und ­ wie viele andere Kleinsäuger ­ in einen Torpor (eine Tagesschlaflethargie) oder sogar einen regelrechten Winterschlaf verfallen können. Bisher war jedoch unklar, ob und, wenn ja, wie häufig und ausgeprägt der Torpor auch unter natürlichen Bedingungen auftritt.


Messungen im Freiland

Der Grund dieser Unkenntnis ist, daß Untersuchungen der Körpertemperatur und vor allem der Stoffwechselrate eine aufwendige Meßtechnik erfordern, die bislang kaum außerhalb des Labors eingesetzt werden konnte. Kürzlich ist es Gerhard Heldmaier und seinen Mitarbeitern in der Abteilung Stoffwechselphysiologie der Universität Marburg jedoch gelungen, eine miniaturisierte Sauerstoff- und Kohlendioxid-Analyseeinheit zu entwickeln, die sich unabhängig von der Netzspannung mit einfachen 12-Volt-Akkus betreiben läßt. Erstmals im Feld erprobt wurde sie im Rahmen einer Kooperation mit der Arbeitsgruppe um Jörg Ganzhorn vom Deutschen Primatenzentrum in Göttingen, das im Forêt de Kirindy an der Westküste Madagaskars eine Forschungsstation unterhält.

Unterstützt durch Stipendien des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes (DAAD) begannen wir im April 1994 mit dem Aufbau einer Telemetrieanlage zur Erfassung der Körpertemperatur und Aktivität sowie der Gasanalyse zur Messung des Energieumsatzes von Mausmakis. Unser Ziel war es, Torpor unter freilandähnlichen Bedingungen nachzuweisen und, wenn möglich, den energetischen Gewinn zu quantifizieren.

Bei mehreren Individuen beider Arten konnten wir kontinuierlich und simultan mit implantierten Temperatursendern die Körpertemperatur und mit Infrarot-Detektoren die Aktivität sowie bei jeweils einem Individuum pro Tag auch die Stoffwechselrate über Wochen hinweg erfassen. Wegen der geringen Senderreichweite wurden die Mausmakis nicht völlig in Freiheit belassen, sondern in einem geräumigen Gehege gehalten, das ihre Bewegungsfreiheit jedoch nur unwesentlich einschränkte. Außerdem mußten sie ihre Baumhöhle gegen einen hölzernen, gasdichten Nistkasten eintauschen, der auch als Stoffwechsel-Box diente. Dabei waren sie jedoch den natürlichen Beleuchtungsverhältnissen sowie Temperatur- und Luftfeuchte-Einflüssen im Trockenwald ausgesetzt.

Nach einer Eingewöhnungsphase von wenigen Tagen hatten sich alle Tiere von der im Forschungscamp durchgeführten Implantation des Senders erholt und zeigten ihr natürliches Verhalten. Und dazu gehört, wie unsere Untersuchungen eindrucksvoll zeigten, auch Torpor. Schon während der Fangperiode trafen wir morgens in den Kastenfallen häufig ausgekühlte Mausmakis an, deren Rektaltemperatur nach besonders kalten Nächten unter 10 Grad Celsius liegen konnte. Das sind für torpide Kleinsäuger ungewöhnlich niedrige, normalerweise nur von Winterschläfern erreichte Werte.

Im Verlaufe unserer Messungen konnten wir dann auch quantitativ ermitteln, wie häufig eine solche Tagesschlaflethargie auftritt. Dabei zeigte sich eine stark unterschiedliche Torporneigung der einzelnen Tiere: Während einige bis zu 78 Prozent der Versuchstage in Kältestarre fielen, trat das Phänomen bei anderen nur an ungefähr 30 Prozent der Tage auf. Allerdings war kein Tier dabei, das niemals Torpor zeigte.


Gedrosselte Wärmeproduktion

Die meisten Kleinsäuger erniedrigen in ihrer Ruhephase ­ im Falle nachtaktiver Tiere also am Tage ­ gegenüber der Aktivitätsphase Stoffwechselrate und Körpertemperatur. Allerdings ist diese Reduktion beim Torpor besonders markant: Die Stoffwechselrate ­ und damit die Wärmebildung ­ wird auf lediglich 10 Prozent des Ruheumsatzes gedrosselt (Bild 2). Infolge dieses Hypometabolismus sinkt mit einer leichten zeitlichen Verzögerung zugleich auch die Körpertemperatur.

Andere Kleinsäuger zeigen zwar ebenfalls eine solche Hypothermie, doch lassen sie ihre Körpertemperatur nicht unter einen bestimmten Wert (etwa 15 Grad Celsius) fallen, auch wenn sie dafür kostbare Energie aufwenden müssen. Dagegen sind bei Lemuren unter freilandähnlichen Bedingungen keine Indizien dafür erkennbar, daß die minimale Körpertemperatur im Torpor in irgendeiner Weise reguliert würde. Offenbar können Mausmakis im Gegensatz zu den Bewohnern gemäßigter oder alpiner Lebensräume unter den klimatischen Bedingungen im madagassischen Trockenwald auf einen derartigen Regulationsmechanismus verzichten.

Tatsächlich erreicht die Umgebungstemperatur im Forêt de Kirindy auch im tiefsten Winter am Tage durchweg Werte über 30 Grad Celsius. Wie unsere Studie zeigt, nutzen die Lemuren diese Erwärmung der Luft, um sich passiv aufheizen zu lassen: Bis zu einem Schwellenwert von etwa 25 Grad Celsius folgt die Kurve der Körpertemperatur exakt dem Anstieg der Umgebungstemperatur; erst dann wird sie durch Ankurbelung des Stoffwechsels über das Niveau der Umgebung angehoben. Diese Anpassung bringt eine enorme Energie-Ersparnis. Das Tier kann den Stoffwechsel zur kältesten Tageszeit sozusagen auf Sparflamme fahren und sich zudem die hohen Kosten einer aktiven Wiedererwärmung schenken. Allerdings läßt sich der Lethargiezustand wegen des Temperaturanstiegs am Nachmittag, der zwangsläufig auch die Äffchen aufheizt, nicht beliebig lange ausdehnen.

Anhand unserer Ergebnisse können wir nunmehr abschätzen, daß Mausmakis an kalten Tagen allein über den Torpor immerhin 25 bis 40 Prozent ihres Ruheumsatzes einsparen können. Weil wir den Tieren ermöglichten, sich natürlich zu verhalten und den Nistkasten mit der Meßapparatur nach Belieben zu verlassen oder zu betreten, ließ sich der Energieumsatz während der nächtlichen Aktivitätsphase zwar nicht kontinuierlich messen; doch dürfte er nach den vorliegenden Daten doppelt bis dreimal so hoch sein wie im Ruhezustand. Zudem stellten wir fest, daß sich die Bewegungsaktivität im Verlauf des Winters dramatisch verringerte und bei manchen Individuen schließlich fast gänzlich auf eine kurze abendliche Nahrungssuche beschränkte; die Tiere verharrten dann teils mehr als 18 Stunden im Lethargiezustand (Bild 3).

Dadurch erhöht sich der energetische Gewinn noch einmal deutlich ­ auf 50 bis 80 Prozent. Dieser Betrag, den Thomas Ruf und Heldmaier im Labor auch bei Dsungarischen Zwerghamstern nachgewiesen haben, reicht an die Energie-Ersparnis echter Winterschläfer heran. Der Torpor hat also einen enormen Wert für das Energiebudget der kleinen madagassischen Halbäffchen.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1998, Seite 22
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Kennen Sie schon …

Spektrum - Die Woche – »Das fühlt sich an wie eine Narkose«

Menschen im Winterschlaf? Was in dieser Zeit mit dem Körper passieren würde und wieso die Raumfahrt daran so interessiert ist, lesen Sie im aktuellen Titelthema der »Woche«. Außerdem: Zwischen den Zeilen einer Heiligenschrift aus dem Jahr 510 lässt sich das Alltagsleben am Donaulimes entdecken.

Spektrum Kompakt – Facetten des Winters

Die kalte Jahreszeit bedeutet Schnee, Eis und Frost. Solche Bedingungen bringen Wetterphänomene, jedoch auch Gefahren mit sich. Die Tierwelt findet hierfür originelle Überlebensstrategien, die sie nun für den Klimawandel anpassen muss - und auch der Mensch erfährt einen sich verändernden Winter.

Spektrum - Die Woche – Krebs: Geheilt heißt nicht vorbei

Der Krebs ist besiegt und bleibt dennoch da. Viele Menschen gehen bestärkt aus einer Krebserkrankung hervor, doch die Angst vor einer Rückkehr des Krebses bleibt. Außerdem in dieser »Woche«: Wie es sich anfühlt, tagelang kein Wort zu sprechen und warum Chinas Bevölkerung schrumpft.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.