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Fibrinklebung in der Medizin

Die Verwendung eines körpereigenen Stoffs – des bei der Blutgerinnung gebildeten Fibrins – brachte den Durchbruch für die Klebtechnik auch in der Chirurgie.

Nähen oder Kleben? Seit Mitte der siebziger Jahre ist dies eine wichtige Frage für den Chirurgen, der eine Blutung stillen oder eine Wunde schließen will. Sie stellt sich aber auch, wenn eine verletzte Milz, Leber oder Niere – mitunter sogar gerissenes Lungengewebe – durch eine subtile chirurgische Technik erhalten werden soll.

An der Kinderchirurgischen Klinik der Charité in Berlin standen wir 1982 erstmals vor dieser Frage. Ein kleiner Junge mit einem Riß in der Milz – Opfer eines Verkehrsunfalls – mußte dringend operiert werden. Dabei galt es, das Organ unter allen Umständen zu erhalten, da es für die Entwicklung des kindlichen Immunsystems und damit für den Schutz vor schwerwiegenden, mitunter sogar tödlich verlaufenden Infektionen von entscheidender Bedeutung sein kann. Wir entschlossen uns, das von einer Kapsel umgebene schwammig-weiche Gewebe zu kleben. Damit gelang es, die Milz funktionsfähig zu erhalten.

Hätte es eine Naht nicht ebenso getan? Daß diese Frage nicht eindeutig bejaht werden kann, lehrt die tägliche chirurgische Erfahrung. Bei jeder Operation wird Gewebe zertrennt; vorhandene oder entstehende Blutungen sind zu stillen, und die Schnittränder müssen wieder vereinigt werden. In jedem Falle bildet sich eine Narbe aus funktionell nicht gleichwertigem Ersatzgewebe.

Vorteile des Klebens

Dem Chirurgen stehen für die Blutstillung und Gewebevereinigung verschiedene etablierte konventionelle und moderne Techniken zur Verfügung. Am bekanntesten ist die chirurgische Naht; aber auch die Blutstillung durch Koagulation mit elektrischem Strom oder Laserstrahl und die Klammerung von Gewebe sind gebräuchliche Praktiken. Unter Umständen lassen sich verschiedene Methoden kombinieren.

Das Prinzip der mechanischen Verfahren besteht in einer Kompression des Gewebes, während die Koagulation eine oberflächliche Verschorfung bewirkt. Beides kann die Durchblutung behindern und birgt die Gefahr von Nachblutungen und Infektionen. Mitunter beeinflussen diese Komplikationen oder die Funktionsminderung des Gewebes durch Bildung einer breiten Narbe das Operationsergebnis wesentlich oder stellen es gar in Frage. All diese Probleme entfallen, wenn man die Fibrinbildung, die im Prinzip der letzten Phase der natürlichen Blutgerinnung entspricht (Bild 1), zum Verbinden des Gewebes nutzt.

Das eingangs geschilderte Kleben eines Milzrisses war für uns ein erster Erfolg. Seither ist die Fibrinklebung in der Kinderchirurgischen Klinik der Charité wie auch in vielen anderen Hospitälern zur täglichen Praxis geworden. Besonders gute Erfahrungen haben wir mit dem Zweikomponentenkleber „Tissucol“ der Heidelberger Firma Immuno gemacht.

Vom Baumharz zum Fibrin

Der Wunsch, Wunden durch einen natürlichen Haftstoff zu schließen, ist uralt. Bereits vor mehr als 4000 Jahren versuchten ägyptische Ärzte, Hautwunden zu kleben. In der Antike wurden für diesen Zweck Baumharze verwendet. Sie genügten jedoch den chirurgischen Anforderungen ebensowenig wie die synthetischen Substanzen, die in unserem Jahrhundert erprobt wurden. Generell muß ein solcher Stoff nämlich nicht nur die Geweberänder zuverlässig verbinden, ohne zu schädigen, sondern sollte nach dem Verheilen auch vom Organismus selbst abgebaut werden; überdies möchte der Arzt ihn so einfach und zuverlässig handhaben können, daß selbst in schwierigsten Phasen einer Operation keine Probleme auftreten.

Beispielsweise erreichten die um 1960 entwickelten Cyanoacrylate zwar eine sehr hohe Klebkraft, verursachten aber chronische Entzündungen: Selbst Jahre später zeugten mikroskopisch nachweisbare Riesenzellen mit Cyanoacrylat-Partikeln von der noch immer andauernden Auseinandersetzung des Immunsystems mit dem Fremdstoff. Außerdem war die Klebestelle zu hart und unelastisch. Auch ein gewebeverträglicheres Gemisch aus Resorcin, Formalin und Gelatine bot keine Lösung, weil der beim Abbau des Klebers frei werdende Formaldehyd Zellen schädigt und sie eventuell sogar bösartig entarten läßt.

Diese Erfahrungen regten zu dem Versuch an, körpereigene Substanzen als Kleber zu verwenden – schließlich vermag der tierische und menschliche Organismus kleine Blutungen durch eine Art Verkleben zu stillen.

Die entscheidende Rolle spielt dabei das Fibrin: Es wird am Ende der Blutgerinnung unter dem Einfluß von Proteinen im Blutplasma (unter ihnen Thrombin und Faktor XIIIa) aus dem Fibrinogen gebildet und dichtet als unlöslicher Stoff verletzte Gefäße ab (Bild 2). Zugleich fördert es die Wundheilung. Das Netz von Fibrinfäden ermöglicht nämlich Fibroblasten (Bildungszellen für Bindegewebe), in das Wundgebiet einzusprossen. Diese dienen dann quasi als Leitschienen für die Reparatur des Gewebedefekts, indem sie die Bildung eines narbigen Ersatzgewebes und neuer Gefäße anregen. Die räumliche Anordnung und Ausbreitung der Fibrinfasern im sogenannten Fibrin-Clot ist dabei von großer Bedeutung.

Schon 1909 wurde Fibrin als physiologischer Klebstoff mit wundheilungsfördernden Eigenschaften in der Literatur erwähnt. Im Tierversuch hatte man beobachtet, wie Fibroblasten in das Wundgebiet einsproßten, und festgestellt, daß Fibrin die Virulenz von Staphylokokken (Kugelbakterien, die diverse Infektionskrankheiten bei Mensch und Tier hervorrufen) abschwächt.

Zur Blutstillung wurde Fibrin bereits um 1915 mehrmals im Tierversuch eingesetzt. Rund 30 Jahre später folgten Versuche zur Klebung von Nervenfasern, zur Wundversiegelung und zur Hauttransplantation; so wurden 1944 bei acht Patienten mit Verbrennungen die Hauttransplantate erstmals statt mit einer Naht mit einer Fibrinogen-Lösung und Thrombin-Spray fixiert. Aber erst ab Mitte der siebziger Jahre gelang es, Fibrinogen so hoch anzureichern, daß die Klebkraft für chirurgische Zwecke ausreichte und der Klebevorgang steuerbar wurde.

Der Fibrinkleber wird aus dem Blutplasma ausgesuchter Spender gewonnen. Ähnlich wie bei der Transfusion von Fremdblut sind dabei zahlreiche Tests vorgeschrieben. Sie stellen sicher, daß das Spenderplasma weder mit Bakterien noch mit Hepatitis- oder AIDS-Viren verunreinigt ist. Klinische Langzeitstudien in verschiedenen chirurgischen Disziplinen haben denn auch belegt, daß die vom Fibrinkleber ausgehende Infektionsgefahr äußerst gering ist.

Gewöhnlich werden die beiden Kleberkomponenten Fibrinogen und Thrombin sowie Calciumchlorid in dem geeigneten Mengenverhältnis mit einer doppelläufigen Spritze gleichzeitig auf die zu klebende Oberfläche aufgetragen oder aufgesprüht. In der therapeutischen Endoskopie oder bei Operationen in Körperhöhlen ersetzt ein doppelläufiger, feiner Sprühkatheter die Spritze.

Die Polymerisation des Fibrinogens zu unlöslichem Fibrin ist normalerweise binnen drei Minuten abgeschlossen. Schon nach dieser kurzen Zeit kann die Klebestelle voll belastet werden. Allerdings ist dies nicht immer erwünscht; beispielsweise braucht man in der plastischen Chirurgie manchmal längere Zeit zur optimalen Anpassung der Klebeflächen. Durch geringere Dosierung des Faktors Thrombin läßt sich in diesem Falle die Polymerisation verzögern.

Wichtig ist, daß die beiden zu vereinenden Gewebeflächen mit einer im richtigen Verhältnis stehenden Klebermenge benetzt werden. Überschüssigen Fibrinkleber aufzubringen ist nicht nur teuer, sondern belastet den Kranken unnötig mit körperfremden Proteinen, mit denen das Produkt herstellungsbedingt immer etwas verunreinigt ist; allergische Reaktionen können die Folge sein. Dies war unter anderem ein Grund für die Entwicklung verschiedener Applikationstechniken, so daß die Fibrinklebung heute in fast jeder operativen Situation möglich ist.

Anwendungsbereiche

Anfangs wurden Fibrinkleber ausschließlich für die Blutstillung und bei Operationen an inneren Organen wie Milz, Leber und Nieren eingesetzt. Mit zunehmender klinischer Erfahrung erweiterte sich jedoch das Anwendungsspektrum. Das ermöglichte vor allem in der Ohren- und Augenchirurgie, aber auch in der Gynäkologie und Geburtshilfe gänzlich neue Operationsmethoden.

Zum einen konnte die Operationszeit beachtlich reduziert, zum anderen die Operation sicherer gestaltet werden. Wichtig ist dies beispielsweise in der Transplantations- und Herzchirurgie. Gerade bei älteren Patienten, die oft zusätzlich unter Begleiterkrankungen wie Herz-Kreislauf-Schwäche oder Diabetes leiden, wirkt sich das Verkürzen der Narkosezeit mitunter sehr günstig auf die weitere Genesung aus.

Auch in der Kinder- und speziell in der Neugeborenenchirurgie eröffnet die Fibrinklebung bessere Behandlungsmöglichkeiten. Das eingangs zitierte Beispiel der organ- und funktionserhaltenden Milzchirurgie sowie die Fortschritte in der rekonstruktiven Nierenchirurgie belegen dies ebenso wie die Ergebnisse, die wir in den letzten Jahren bei der Korrektur angeborener Fehlbildungen der Speiseröhre und des Darmes erzielt haben (Bild 3). Vielfach könnte der Operateur bei den immer komplizierter werdenden Eingriffen gar nicht mehr nähen oder koagulieren – sei es mangels Aktionsraum wie oft bei mikrochirurgischem Vorgehen, sei es wegen der zu erwartenden Reaktionen des Gewebes. Wenn es beispielsweise darum geht, Knorpelfragmente in verletzten Gelenken wieder anzubringen oder rekonstruktive Eingriffe im Mittelohr oder am Auge vorzunehmen, ist die Fibrinklebung die Methode der Wahl. Eine große Rolle spielt sie des weiteren bei der minimal-invasiven Chirurgie, die unter anderem dank dieser Technik heute genauso sicher und zuverlässig ist wie eine offene Operation (siehe Spektrum der Wissenschaft, Juni 1993, Seite 108).

Mit zu bewerten ist der günstige Einfluß des Fibrin-Clots auf die Wundheilung. Selbst chronische Wunden – beispielsweise bei Zuckerkranken – zeigen bei Fibrinklebung bessere Heilungs-tendenzen. Gleiches gilt beispielsweise für Eiterungen des Knochenmarks, infizierte Wunden nach schweren Knochenbrüchen, Fisteln nach Eingriffen im Bauch- oder Brustraum und Lymphfisteln nach Tumoroperationen.

Schließlich hilft die Fibrinklebung, nach bauchchirurgischen Eingriffen Verwachsungen zwischen den Darmschlingen zu vermeiden, die nicht selten Ursache eines Darmverschlusses sind. Unsere Erfahrungen an 17 Kindern bestätigen die dazu vorliegenden Ergebnisse von Tierversuchen.

Mögliche Nachteile

Die Zufuhr von zwar artgleichem, aber körperfremdem Eiweiß könnte theoretisch Abwehrreaktionen auslösen. Dem beugt die industrielle Vorbehandlung des Spenderplasmas, wodurch die Antigenität des daraus extrahierten Fibrinogens soweit wie möglich reduziert wird, jedoch wirksam vor. Zwar gibt es vereinzelt Berichte über eine örtliche Immunreaktion auf das eingebrachte Fremdprotein, die gelegentliche Auseinandersetzungen zwischen dem Fibrinpräparat und dem geklebten Gewebe belegen; die Klebung und den Gesundheitszustand des Kranken beeinträchtigte das aber nicht. Auch die manchmal geäußerte Befürchtung einer erhöhten Infektionsgefährdung durch Übertragung von viralen oder bakteriellen Krankheitserregern mit dem Kleber hat sich als unbegründet erwiesen.

Somit bleibt als einziger Nachteil der relativ hohe Preis der Fibrinkleber: Dabei gilt es jedoch, Kosten und Nutzen abzuwägen. Wenn die Fibrinklebung dazu beiträgt, Transfusionen von Fremdblut zu reduzieren, das Risiko und die Komplikationshäufigkeit von operativen Eingriffen zu minimieren sowie weitere Operationen und lange Krankenhausliegezeiten zu vermeiden, sind dies überzeugende Argumente für ihren indikationsgerechten Einsatz.

Trotz aller Vorteile des Klebens kann es das Nähen und Koagulieren nicht generell ersetzen. Letztlich wird immer der behandelnde Arzt auf der Grundlage seiner persönlichen Erfahrungen und Fähigkeiten und unter Berücksichtigung der jeweiligen Situation des Patienten über die Wahl der chirurgischen Techniken entscheiden. Die Fibrinklebung bietet ihm jedoch zusätzliche Möglichkeiten, mit einer biologischen Methode das Behandlungsergebnis zu optimieren.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1993, Seite 95
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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