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Forschungspolitik und qualitatives Wachstum

Welche Wissenschafts- und Forschungspolitik ist angesichts einer noch unbestimmbaren Zukunft erforderlich? Wie kann sie die Probleme der Menschen, der Umwelt, von Wirtschaft und Wachstum sowie der physischen Globalisierung der Welt erfassen? In anspruchsvollen Thesen dazu schlagen einige Wissenschaftler grundsätzlich neue Ansätze vor, die derzeit im zuständigen Bonner Ministerium lebhaft diskutiert werden.

Dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBF) fehlen bisher deutliche Vorstellungen davon, welche politische Rolle es in dem ihm zugewiesenen breiten Aufgabenfeld spielen soll. Die angestrebte Reform der Ausbildungsförderung von Studenten und angehenden Meistern, die Thesen des Technologierats zur Informationsgesellschaft, die Bildung von biotechnologischen Regionen und die Hilfe für Kleinunternehmen sind sicherlich alles wichtige Vorhaben – und genügen doch den Ansprüchen an ein "Zukunftsministerium" bei weitem nicht. Nach außen hin hat das BMBF bisher wenig getan, diesen negativen Eindruck zu widerlegen.

Doch unbemerkt von der Öffentlichkeit hatte Minister Jürgen Rüttgers gleich zu Beginn seiner Amtszeit fünf Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler sowie einen Biologen beauftragt aufzuzeigen, wo seine Behörde langfristig politisch handeln muß. Die erarbeiteten Thesen wurden im Dezember 1994 in einem Workshop in Bonn diskutiert; eine Zusammenfassung dieser Gesprächsrunde liegt nunmehr in gedruckter Form vor ("Langfristige Perspektiven technischer und gesellschaftlicher Entwicklung in Deutschland. Visionen für die Forschungs- und Technologiepolitik". Beiträge zur Zukunft von Technik und Gesellschaft, Band 1, Dezember 1995. Herausgegeben vom VDI-Technologiezentrum Düsseldorf im Auftrag des BMBF). Die beiden nächsten Bände dieser direkt beim BMBF erhältlichen neuen Reihe sind den Themen "Virtuelle Realität" sowie "Bildung und Zukunft" gewidmet.

Die Analysen zeigen, daß die ökonomische Theorie das technologische Wissen als entscheidenden Faktor für wirtschaftliches Wachstum bislang eher unterschätzt hat. Mehrfach wird ausführlich dargelegt, daß und warum es sich hierbei um qualitatives Wachstum handelt. Dieses habe "strukturiertes naturwissenschaftliches Wissen zur unverzichtbaren Voraussetzung", meint Waldemar Baron vom VDI-Technologiezentrum in seiner Zusammenfassung des Fachgesprächs.

Der Biologe Hans Mohr (siehe auch Seite 37) weist auf Arbeiten in der baden-württembergischen Akademie für Technikfolgenabschätzung hin. Demnach müsse qualitatives Wachstum sicherstellen, daß die Leistungen der Volkswirtschaft mit immer geringerem Einsatz an nicht erneuerbaren Ressourcen und mit weniger Umweltbelastung erzielt werden. Strukturiertes Wissen – also Information – ersetze Rohstoffe, Energie und Zeit. Der in Baden-Württemberg begonnene Strukturwandel in diese Richtung könne bald ein Vorbild sein.

Dazu und zur Erhaltung des Wohlstands sind indes neue Technologien entscheidend. Die deutsche Industrie liegt jedoch, wie auch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) kürzlich aufzeigte, auf Gebieten mit ausgeprägter Wissenschaftsbindung im weltweiten Vergleich nicht an der Spitze; ihr droht, den internationalen Anschluß zu verlieren (siehe Spektrum der Wissenschaft, Januar 1996, Seite 122).


Auftrags- und Grundlagenforschung bedroht?

Doch auch die Wissenschaft selbst läuft in Deutschland Gefahr, im Vergleich mit anderen Ländern zurückzufallen. Nach einem im März bekanntgewordenen Urteil des Bundesfinanzhofs sollten nichtuniversitäre Forschungseinrichtungen im Bereich der Auftragsforschung ihre Gemeinnützigkeit verlieren und entsprechend Substanzsteuern (etwa Vermögens- und Körperschaftssteuer) sowie höhere Umsatzsteuern zahlen. Ein solches Vorgehen würde die wichtige enge Verbindung zwischen Wissenschaft und Industrie empfindlich stören. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe der Finanzminister will nun, um dies zu vermeiden, dem Bundestag eine Änderung der Abgabenordnung vorschlagen. Spätestens beim Jahressteuergesetz 1997 wird sich zeigen, ob das Parlament dem folgt.

In der Grundlagenforschung sei die grundgesetzlich garantierte Freiheit in Gefahr, befürchtet die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) in einer Denkschrift. Sie plädiert für bessere Rahmenbedingungen für die Forschung. Diese sei zunehmend von Gesetzen und Normen, dem Handeln der Verwaltung, allgemeinen rechtlichen Belastungen – darunter auch dem Steuerrecht – sowie von fehlender Akzeptanz, die bis zu Gewalthandlungen gegen Forscher und deren Einrichtungen reicht, bedroht. Die von einer interdisziplinären DFG-Arbeitsgruppe ausgearbeitete Schrift geht ausführlich auf das von ihrem Vorsitzenden, dem Juristen Rüdiger Wolfrum, beklagte "Netz von Behinderungen, das die Forschungsarbeit erstickt", in fünf Problemfeldern ein: Tierversuche, Gentechnik und Biotechnologie, Embryonenforschung und Fortpflanzungsmedizin, Umwelt- sowie Datenschutz. Neue Forschungshemmnisse werden überdies vom europäischen Gemeinschaftsrecht befürchtet.

In ihren Empfehlungen wird die DFG-Denkschrift sehr politisch: Das BMBF müsse im Gesetzgebungsverfahren erweiterte Kompetenzen erhalten und bei Fragen von forschungspolitischer Bedeutung auch in die Sachkompetenz eines anderen Ministeriums eingreifen können. Generell solle sich die Legislative mit forschungsbehindernden Gesetzen zurückhalten. DFG-Präsident Wolfgang Frühwald fordert, die Beweislast für eine Beeinträchtigung der Freiheit von Wissenschaft und Forschung müsse nicht der Forscher erbringen, sondern derjenige, der sie verursache.


Neues Technikleitbild

Zu den traditionellen High-Tech-Bereichen neue Werkstoffe, Mikrosysteme, Telekommunikation, Bio-, Energie- und Verkehrstechnologien fügt Mohr in dem vom BMBF herausgegebenen "Perspektiven"-Band zugunsten einer nachhaltigen gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland auch neue Agrar- und Lebensmitteltechnologien hinzu. Man brauche für die neuen Zukunftstechnologien "ein neues Technikleitbild, das die besonderen Stärken unserer Industrie betont – hohe Qualität bei hohen Preisen –, aber zugleich markt- und problemorientiert ist". Das Fachgespräch folgte Mohrs Anregung, Technikfolgenabschätzung auszuweiten. Dazu und zur Umwelt-, Technik- und Risikokommunikation sei weitere Forschung erforderlich.

Integrierter Umweltschutz als Voraussetzung für qualitatives Wachstum erfordert nach Thesen des Soziologen Joseph Huber von der Universität Halle-Wittenberg teilweise neue Förderungswege und -kriterien. Dazu zählen verläßliche langfristige Vorgaben des Staates für Neuentwicklungen ebenso wie eine Einigung der Europäischen Union, der Vereinigten Staaten und Japans auf gewisse Grundlinien der Umwelt-, Technik- und Industrie-Entwicklungspolitik, die systematische Übernahme großer Teile der Kosten und Risiken für erwünschte Neuentwicklungen durch die öffentliche Hand, globale Pools für nicht-erneuerbare strategische Rohstoffe sowie eine risikobereitere Förderung neuer kleiner und innovativer Unternehmen.

In einer auf qualitatives Wachstum gerichteten Politik verdrängt Ressourcenproduktivität auch die bisher im Vordergrund stehende Arbeitsproduktivität. Darauf weist vor allem der Leiter des Wuppertal Instituts, Ernst Ulrich von Weizsäcker, in seinen Ausführungen über die Effizienzrevolution bei Energie und Stoffen hin, die einen immensen, das BMBF betreffenden Forschungs- und Entwicklungsbedarf bedeute. Wissenschaftliche Erkenntnisse und Empfehlungen spielen bei diesem Wandel eine zentrale Rolle. Doch fällt es den Politikern schwer, sie auch in ihr Handeln zu übernehmen, denn sie müssen in kurzen Zeitabständen immer wieder korrigiert werden. Die Politiker hätten, so die These der Experten, darum ihre politischen Entscheidungen korrekturfähiger zu gestalten.

In seinen 20 Punkten zu den Anforderungen an die künftige Forschungs- und Technologiepolitik nennt der Soziologe Richard Münch von der Universität Bamberg unter anderem die Interdisziplinarität in Forschung und Lehre. Huber betont, wie notwendig es sei, das Verhältnis von Ausbildung, Beruf und Lebensarbeitszeit neu zu verstehen. Der Bonner Wirtschaftswissenschaftler Meinhard Miegel meint, die Bevölkerungen hochindustrialisierter Länder müßten sich "sowohl auf die Beherrschung explosionsartiger als auch implosionsartiger Entwicklungen" einstellen.


Wege aus der Orientierungskrise

Bernd Guggenberger, der an der Freien Universität Berlin den Lehrstuhl für ökonomische Analyse und politische Systeme innehat, sucht in seinem stark wissenschaftstheoretisch geprägten Beitrag "Soziale und politische Probleme in der von Wissenschaft und Technik bestimmten Welt von morgen" die Orientierungskrise zu erläutern, die aus einer Ungleichgewichtigkeit zwischen Technologie und Humanstruktur herrührt: Die Moderne sei eine zur Zukunft hin "offene", zugleich unbestimmbare wie bestimmungsbedürftige Zeit, welche die geographische Ordnung verdränge. Die Probleme würden global ("wir leben nicht mehr in einer Region, sondern in einem Kommunikationssystem"), Mobilität erobere den Raum, Städte lüden nicht mehr zum Verweilen ein, sondern würden zu Orten der Durchreise. Das mündet in eine relativ kühne These: "Vielleicht sollte eine Technologiepolitik mit sozialen Weichenstellerambitionen die neuen Technologien verstärkt auch auf ihren möglichen Beitrag zu einer Wiederentdeckung der Seßhaftigkeit hin beobachten."

Deutschland dürfe nicht nur als ökonomischer, sondern müsse auch als sozialer und kultureller Standort verstanden werden. Eine Technologiepolitik, die sowohl diese Multidimensionalität als auch die Übernationalität der Probleme ernst nimmt, habe "alle Chancen, sich zur neuen politik- und planungsstrategischen Schnittstelle ‰Zukunftssicherung' zu verdichten" und werde Querschnittspolitik sein. Das BMBF müsse sich darum "zum umweltkompetenten Infrastrukturministerium mit umfassenden Zuständigkeiten im Bereich der Sozialprävention mausern".

Einen Schritt in diese Richtung hat jetzt die SPD-Fraktion des Bundestages unternommen. In einem ausführlich begründeten Antrag fordert sie eine präventive "sozial-ökologische Zukunftsforschung". Das BMBF müsse aufgewertet, mit einem größeren Etat versehen und zu einem Innovationsministerium ausgebaut werden.

Es liegt nahe, aus alledem die Empfehlung für eine grundlegende Neuorientierung innerhalb der Regierung abzulesen. Globale Zusammenhänge erfordern neue Instrumente der Außen- und Entwicklungspolitik. In der Umweltpolitik muß ein neues Steuersystem eindeutig ökologische Aspekte berücksichtigen. Forschungs- und Technologiepolitik ist ohne industriepolitische Absichten kaum mehr vorstellbar. Wirkungsvolle Umweltpolitik erfordert Änderungen des bestehenden Rechts. In der Arbeitspolitik verdient die Umstellung von der Arbeits- auf die Ressourcenproduktivität neue Ideen, deren sich auch die Gewerkschaften annehmen müssen. Städtebau- und Verkehrspolitik verlangen nach neuen Konzeptionen. Ob das Zukunftsministerium seinem Namen künftig gerecht zu werden und seine Kompetenzen – auch in dem von DFG und SPD beschriebenen Sinne – auszuweiten vermag, wird sich in den nächsten Monaten zeigen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1996, Seite 119
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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