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Informationsgesellschaft und nachhaltige Entwicklung

Eine von der Bundesregierung eingesetzte Arbeitsgruppe hat erheblich weiter gedacht als so mancher Politiker.


Es gibt einen neuen Namen für ein nicht ganz so neues Konzept: Dematerialisierung. Gemeint ist, daß es gelingt, ein Bedürfnis mit geringerem Aufwand an Materie zu befriedigen als zuvor. Ein bekanntes Beispiel ist das Auto, das durch verbesserte Konstruktion nur noch drei Liter Benzin auf 100 Kilometer benötigt. Ein verminderter Energieverbrauch ist einem verminderten Materieverbrauch äquivalent, insofern die Energie – wie meistens – durch Verbrennen von Materie gewonnen wird.

Dematerialisierung gehört also seit jeher zum Wesen des technischen Fortschritts. Sie rückt neuerdings ins Zentrum der Betrachtung, weil der Materieverbrauch im globalen Maßstab an die Grenzen der Nachhaltigkeit gerät und sie teilweise bereits weit überschritten hat. Das deutlichste Indiz dafür ist – neben vielen anderen – der Anstieg des Kohlendioxidgehalts in der Atmosphäre mitsamt seinen zu befürchtenden Folgen für das globale Klima. Immerhin haben sich auf der Konferenz von Rio de Janeiro 1992 und der Nachfolgekonferenz von Kioto Ende letzten Jahres die meisten Länder der Erde darauf verständigt, den globalen Kohlendioxidausstoß nicht weiter ansteigen zu lassen (Spektrum der Wissenschaft, März 1998, Seite 96); damit wird automatisch auch der Verbrauch an brennbarer Materie begrenzt, und das lange bevor die Lagerstätten fossiler Brennstoffe erschöpft sind. Gleichartige Begrenzungen folgen aus dem Gebot der Nachhaltigkeit für die Nutzung des ökologischen Kapitals in Gestalt der natürlichen Artenvielfalt oder der Kapazität, Umweltschadstoffe aufzunehmen und abzubauen.

Spätestens wenn diese Grenzen wirksam werden, liegt die einzige Möglichkeit für einen globalen Wohlstandszuwachs in der Dematerialisierung oder, was dasselbe ist, in der effizienteren Nutzung materieller Ressourcen.

Sowie dies jedoch – insbesondere durch technischen Fortschritt – gelingt, sinkt in aller Regel auch der Preis des so hergestellten Gutes; dadurch wächst die Nachfrage, und zwar häufig so stark, daß die ursprüngliche Einsparung an Materieverbrauch weit überkompensiert wird. Der Erfolg im Einzelfall verursacht also nahezu zwangsläufig das Scheitern im globalen Maßstab. Auch für diesen – nicht unbedingt neuen – Zusammenhang gibt es einen neuen Namen: rebound effect oder Bumerangeffekt. Ein ähnliches Phänomen ist in der Welternährung zu beobachten: Jede Steigerung des landwirtschaftlichen Ertrages ist ursächlich für ein Bevölkerungswachstum, das den Zusatzertrag alsbald wieder aufzehrt.

Problem und Lösungsansätze sind Thema eines Gremiums, das eigentlich unter einem anderen Obertitel tätig ist. Das "Forum Info 2000" ist ein 1996 von der Bundesregierung ins Leben gerufener Diskussionskreis; es will "informieren, Anstöße geben, Leitmodelle entwickeln und vor allem ... eine Plattform schaffen für eine Diskussion, die sich mit den Chancen und Gefahren des Informationszeitalters offen auseinandersetzt", so die Selbstdarstellung im World Wide Web (http://www.forum-info2000.de/Forum_Info_2000/FI2000.html). Eine der zehn Arbeitsgruppen, in die sich das Forum gliedert, befaßt sich mit nachhaltiger Entwicklung. Eine sehr ähnliche Struktur gibt es auf europäischer Ebene: Das von der Europäischen Kommission gegründete "Forum Informationsgesellschaft" besteht aus sechs Untergruppen, darunter "Nachhaltigkeit in einer Informationsgesellschaft". Den Vorsitz beider Arbeitsgruppen hat Franz Josef Radermacher inne, Professor für Informatik und Leiter des Forschungsinstituts für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung an der Universität Ulm. Es ist im wesentlichen auf seine Initiative zurückzuführen, daß beide Gruppen ein gemeinsames Dokument erarbeitet haben, das "die zentrale Rolle moderner Techniken und offener Märkte unter geeigneten weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Bewältigung der Zukunft herausarbeiten" soll ("Herausforderungen 2025", http://www.forum-info2000.de/AGs/Infos/AG3/Public/Download/konf/heraus(deutsch).htm). Auf einer Tagung am 2. Juli dieses Jahres in Stuttgart wurde es der Öffentlichkeit vorgestellt.

Welchen Anlaß haben gerade die Vertreter der Computer- und Kommunikationstechnik, sich mit nachhaltiger Entwicklung zu befassen? Zunächst eine Art Verursacherprinzip: Die Informationstechnik sei eine der wesentlichen Triebkräfte der Globalisierung, der immer engeren Verflechtungen der Volkswirtschaften und des weltweiten Wachstums samt der daraus folgenden Umweltbelastung – zugleich sei sie aber auch ein Mittel zur Bewältigung der selbstgeschaffenen Probleme.

Immerhin bietet sie das drastischste Beispiel einer Dematerialisierung: Ein moderner Mikrochip bewältigt eine Rechenleistung, für die vor fünfzig Jahren noch die millionenfache Menge an Material erforderlich war. Ebenso heftig ist in diesem Fall der Bumerangeffekt: Alle Miniaturisierung kann nicht verhindern, daß Jahr für Jahr mehr Materialaufwand für alle Computer der Welt zusammen getrieben wird.

Allerdings kann die Dematerialisierung der Informationsindustrie selbst keine nennenswerte Entlastung der globalen Materie- und Energieströme bringen. Der wesentliche Effekt muß in den Wirkungen bestehen: Wo immer möglich, sollen Kilobyte statt Kilogramm transportiert werden. Statt leibhaftig zu Tagungen, geschäftlichen Besprechungen und überhaupt zur Arbeit anzureisen, sollen die Menschen Telekonferenzen führen und zu Hause statt im Büro am Computer sitzen. Zeitungen, Verkaufskataloge, Fahrpläne und Verzeichnisse aller Art würden nicht mehr gedruckt und zum Kunden transportiert, sondern nur noch auf dem World Wide Web verfügbar gehalten. Der Anrufbeantworter beim Telephonkunden ist schon heute ersetzbar durch ein viel weniger aufwendiges Stück Speicherplatz in der Vermittlungsstelle. Eine intelligente Logistik erspart den Waren lange Umwege vom Hersteller zum Endkunden.

Das mag alles sehr angenehm sein, besonders für Bewohner eines Industrielandes; allerdings wirken die Lösungen viel zu klein für die großen Probleme. Die materiellen Grundbedürfnisse des Menschen sind eben per definitionem nicht dematerialisierbar.

Einleuchtender ist der Bildungsaspekt. Indem die Informationstechnologie den Bewohnern der armen Länder, und dort vor allem den Frauen, andere Lebenspläne zugänglich und attraktiv macht als das Großziehen von Kindern, kann sie dazu beitragen, das Bevölkerungswachstum zu verlangsamen.

Am überzeugendsten wirken die Ergebnisse der Arbeitsgruppen jedoch dort, wo ihre Mitglieder den fachlichen Rahmen verlassen und gesamtgesellschaftlich argumentieren. Die enge Verknüpfung von Dematerialisierung und Bumerangeffekt wäre demnach in einer marktwirtschaftlichen Ordnung nur aufzulösen, indem das Endprodukt künstlich verteuert wird – ob durch Ökosteuern oder handelbare Emissionszertifikate (vergleiche die Diskussion in diesem Heft ab Seite 30), ist aus dieser globalen Position eine zweitrangige Frage.

Radermacher selbst spricht das deutlicher aus als das unter den Beteiligten Wort für Wort abgewogene Dokument: Daß Benzin fünf Mark pro Liter kosten müsse – oder auch mehr –, stehe außer Frage; nur müsse ein solcher Preis im wesentlichen weltweit gelten, und der Ertrag einer entsprechenden Steuer sei nicht etwa zur Lösung nationaler Probleme wie der Senkung der Lohnnebenkosten zu verwenden. Vielmehr seien mit diesem Geld die Bewohner der ärmeren Länder dafür zu entschädigen, daß sie pro Kopf der Bevölkerung weit weniger Benzin verbrauchen als wir und die bei uns heute üblichen Verbrauchszahlen wegen der Gefahren für das Weltklima nie erreichen dürfen.

Zu begründen sei das mit allgemeinen Gerechtigkeitsgrundsätzen – ein Inder beispielsweise ist im Prinzip nicht weniger wert als ein Deutscher –, aber eben auch mit wohlverstandenem Egoismus (insightful selfishness): Es ist im Interesse der Reichen, den Armen ihren Anteil an knappen globalen Gütern zuzugestehen – oder zu fairen Preisen abzukaufen –, statt es auf einen großen Konflikt oder die Zerstörung des Ökosystems durch unbegrenzten Verbrauch ankommen zu lassen.

Das Konzept läuft darauf hinaus, in der Zukunft den potentiellen Wohlstandszuwachs der Industrieländer abzuschöpfen und in die Entwicklungsländer zu transferieren, damit diese das materialintensive Stadium der Entwicklung überspringen und gleich zur Informationsgesellschaft übergehen können. Durch die dann zu erwartende Abnahme der Geburtenrate würde sich das globale System weiter stabilisieren.

Damit lassen die beiden Arbeitsgruppen die gegenwärtige politische Diskussion weit hinter sich. Da jedoch die Bundesregierung in der deutschen Arbeitsgruppe mit am Tisch sitzt, ergeben sich zum Teil merkwürdige Widersprüche. So verkündete Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt auf der Stuttgarter Tagung unverdrossen wirtschaftsliberale Prinzipien. Insbesondere forderte er eine Liberalisierung des Haftungsrechts der Unternehmen, während das Dokument "Herausforderungen 2025" die Politiker gerade dazu auffordert, die Unternehmen stärker in die Verantwortung zu nehmen.

Den Autoren dieser Schrift ist der Gedanke an einen Rückzug der Staaten aus der Wirtschaft ohnedies fern. Gegen das geläufige Argument, die Regierungen im allgemeinen und die deutsche im besonderen würden nur den Status quo verfechten und stünden damit der Entwicklung zu einer gerechteren Weltordnung im Wege, weiß Radermacher einzuwenden, daß es immerhin die Regierungen waren, die sich in Rio und Kioto zu einer globalen Verantwortung bekannt haben und damit ihren Völkern zum Teil weit vorausgeeilt sind. Dies gelte es bei aller Enttäuschung über die konkreten Ergebnisse von Kioto festzuhalten.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1998, Seite 107
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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