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Minimonster im Meer

Winzige begeißelte Einzeller im Meeresplankton, für die bestenfalls Bakterien als Nahrung in Frage zu kommen schienen, fressen in Wirklichkeit bis zu 50mal größere Algen.

Einzellige Algen bilden die Basis der komplexen marinen Nahrungspyramide. Als freischwebende – planktische – Organismen bauen sie durch Photosynthese mittels Sonnenenergie aus Kohlendioxid und Wasser organische Materie auf. Hauptbestandteil dieses marinen Phytoplanktons sind die Kieselalgen (Diatomeen).
Bereits seit dem letzten Jahrhundert weiß man, daß Algen nicht nur größeren Organismen als Nahrung dienen, sondern auch von einzelligen Lebewesen befallen werden können. So führte der Kieler Physiologe Victor Hensen 1887 in seinem berühmten Werk "Über die Bestimmung des Planktons oder des im Meer treibenden Materials an Pflanzen und Tieren" nicht nur den Begriff Plankton ein, sondern schrieb auch: "Mit der Produktion von Phytoplankton geht Hand in Hand die tägliche Vernichtung des Materials durch Frass der Thiere und der Parasiten, wenn letztere vorhanden sind."
Dennoch wurde diese Form des Schmarotzertums in den folgenden 100 Jahren kaum untersucht. Das mag vor allem daran gelegen haben, daß Organismen, die Kieselalgen befallen, traditionell meist als Algenpilze (Phycomyceten) bezeichnet wurden und damit in den Zuständigkeitsbereich der Pilzforscher fielen. Diese pflegten jedoch seit den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts die angeblichen Pilze im Plankton mit Kiefernpollen zu ködern. Auf diese Weise fanden sie nur saprophytische – totes organisches Material fressende – Arten, aber keine, die sich ausschließlich von lebendem Phytoplankton ernähren.
Erst in den letzten Jahren wurden zunehmend räuberische Protozoen (einzellige Urtierchen) entdeckt, die Kieselalgen verzehren, welche gleich groß oder sogar größer als sie selbst sind. So umschließen bestimmte Panzergeißler (Di-noflagellaten) einzelne Diatomeen – oder sogar komplette Algenketten – mit einer mantelförmigen Ausstülpung (Pallium) oder bohren sie mit einem Rohr an und verdauen sie.
Unlängst machten Gerhard Drebes von der Sylter Wattenmeerstation der Biologischen Anstalt Helgoland, Eberhard Schnepf sowie Michael Schweikert von der Universität Heidelberg und ich an lebenden Planktonproben aus der Nordsee eine noch erstaunlichere Entdeckung: Winzige Flagellaten (geißeltragende Einzeller), die nur rund ein hundertstel Millimeter messen, schlürfen die bis zu 50mal größeren Kieselalgen aus und vermehren sich dabei. Ähnlich wie viele andere Parasiten sind sie sehr wirtsspezifisch, befallen also nur eine oder wenige Diatomeen-Arten. Weil das Opfer die Attacke gewöhnlich nicht überlebt, spricht man nicht von Parasiten, sondern von Raubschmarotzern (Parasitoiden).
Das eigentlich Nahrhafte an der Alge ist der plasmahaltige Zellkörper, der gut geschützt innerhalb der Kieselschale liegt. Diese besteht aus zwei stärker verkieselten Hälften, die ähnlich wie die Boden- und Deckelhälfte einer Hutschachtel ineinandergreifen. Verbunden sind sie durch sich ebenfalls überlappende, schwächer verkieselte Gürtelbänder. Die Schale wirkt im Mikroskop wie mit einem Lochmuster durchsetzt; in Wirklichkeit handelt es sich jedoch um bloße Vertiefungen. Echte Öffnungen gibt es nur an wenigen Stellen; so enthalten die sogenannten Lippenfortsätze hauchfeine Poren. Aber nur wenige Raubschmarotzer verschaffen sich darüber Zugang; die Mehrheit infiziert, wie sich gezeigt hat, Kieselalgen im Bereich der Gürtelbänder.
So dringt der farblose Flagellat Cryothecomonas aestivalis an dieser Stelle unter die Schale und verleibt sich nach und nach den gesamten Inhalt der Wirtszelle ein, wobei er zu einem Vielfachen seiner normalen Größe anschwillt. Anschließend teilt er sich mehrfach. Je nach Größe der Kieselalge können mehr als 30 Tochterzellen entstehen, die das leere Gehäuse schließlich verlassen.
Während C. aestivalis also den gesamten Freß- und Vermehrungsprozeß im Inneren der schützenden Schale absolviert, saugen andere von uns entdeckte Flagellaten die Kieselalge von außen aus. Es handelt sich um acht Arten aus einer bisher unbekannten Gattung, der wir die Bezeichnung Pirsonia gegeben haben. Einige davon heften sich an die Lippenfortsätze und schieben einen Schlauch durch die feinen Poren. Er erweitert sich zu einer externen Verdauungsorganelle, die den Zellkörper der Alge portionsweise aufnimmt und zersetzt (Bild). Die aufgeschlossene Nahrung gelangt über das dünne obere Verbindungsstück zu dem außen sitzenden Geißeltierchen. Dieses wächst und teilt sich dabei. Ein einziges Individuum kann auch hier mehr als 30 Abkömmlinge haben. Diese hängen zunächst noch einige Zeit an ihrer Mutterzelle, ehe sie sich ablösen, um sich selbst ein Opfer zu suchen.
Meist setzen sich mehrere Flagellaten an einer Kieselalge fest und saugen sie völlig aus. Mehrfach haben wir dabei beobachtet, daß die Verdauungsorganellen von benachbarten Räubern fusionieren, also gewissermaßen zu einem gemeinsamen Magen verschmelzen.
Wie spüren die parasitoiden Flagellaten ihr Opfer auf? Bislang ist sehr wenig darüber bekannt. P. diadema scheint geeignete Wirte – verschiedene Kieselalgen der Gattung Coscinodiscus – gleichsam zu riechen. Statt sich wie sonst relativ geradlinig und ruhig vorwärts zu bewegen, wechselt der Flagellat oft ruckartig die Richtung, wenn er in die Nähe eines potentiellen Opfers kommt, und kreist es so schließlich ein. Interessanterweise werden bereits infizierte Algen bevorzugt befallen. Auch sonst sind die Flagellaten wählerisch: In gemischten Kulturen machen sie sich der Reihe nach über die einzelnen Wirtsarten her.
Vorkommen und Verbreitung von Raubparasiten im Meeresplankton wurden bisher nur an der Wattenmeerstation List auf Sylt längerfristig untersucht. Dort treten einige Arten jedes Jahr, andere dagegen nur gelegentlich auf. Infektionen sind überwiegend während der zweiten Algenblüte im Spätsommer und Herbst bei Wassertemperaturen von mindestens 15 Grad Celsius zu beobachten, dagegen kaum während der ersten Massenentwicklung der Kieselalgen im Frühjahr, wenn die Temperaturen noch relativ niedrig sind (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1991, Seite 52). Anscheinend überkommt die Raubschmarotzer nur in wohltemperiertem Wasser die rechte Freßlust.
In einigen Fällen waren im Herbst bis zu 50 Prozent einer Wirtspopulation befallen. Da nur ein Bruchteil der infizierten Zellen überlebt, wird die betroffene Kieselalgenart dezimiert, was die Artenzusammensetzung der gesamten Phytoplankton-Gemeinschaft deutlich beeinflussen sollte. Systematische Untersuchungen über Verlauf und Auswirkungen von Infektionen im Freiland stehen jedoch noch aus.
Unsere Untersuchungen haben jedenfalls die vorgefaßte Meinung widerlegt, daß die farblosen (heterotrophen) Klein-Flagellaten durchweg von Bakterien und anderen winzigen planktonischen Organismen oder Teilchen leben. Obwohl das für die meisten zutrifft, zeigen einige der freischwimmenden Liliputaner, die in fixierten (konservierten) Planktonproben kaum von den anderen zu unterscheiden sind, daß auch in der Mikrowelt der marinen Einzeller nicht immer nur die Großen die Kleinen fressen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1998, Seite 23
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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