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Schutz vor Kontamination mit Mikroorganismen


Tröpfchen und Feststoffpartikel aus Reinräumen fernzuhalten ist schon schwierig genug. Mikroorganismen erfordern aber ihrer Bioaktivität wegen zusätzlich besondere Maßnahmen.

So vermehren sich einzellige Kleinstlebewesen wie Bakterien, Hefen oder Schimmelpilze bei passender Temperatur und genügendem Nahrungsangebot lawinenartig; theoretisch kann aus einer einzelnen Bakterie, die sich alle 60 Minuten teilt, nach einem Tag eine Population von mehr als 16 Millionen Zellen entstehen, die nach sechs weiteren Stunden die Milliardengrenze überschreitet. Und ist etwa bei Fertigungslinien der Mikroelektronik die bloße Verunreinigung mit Teilchen – also letztlich deren Zahl – das Problem, gilt es bei biologischen Anwendungen der Reinraumtechnik insbesondere gesundheitlichen Gefahren vorzubeugen, denn viele Mikroorganismen sind Krankheitserreger, andere verursachen Vergiftungen und wieder andere bewirken den Verderb von tierischen oder pflanzlichen Produkten. Bei der industriellen Herstellung von Arzneimitteln, Kosmetika, Medizinprodukten und Lebensmitteln sowie im Krankenhaus sind der Reinraumtechnik darum wichtige, an Bedeutung noch zunehmende Anwendungen zugefallen.

So müssen pharmazeutische Präparate, die unter Umgehung des Magen-Darm-Traktes – beispielsweise durch Injektion – verabfolgt werden, selbstverständlich frei von Erregern sein. Sie sind jedoch großenteils hochgradig hitzeempfindlich; man kann sie also nicht durch hohe Temperaturen sterilisieren, sondern muß sie in einer absolut keimfreien Umgebung verarbeiten und abfüllen.

Ein ähnliches Problem stellt sich der Lebensmittelindustrie, von der einerseits immer längere Haltbarkeit ihrer Produkte gefordert wird, während andererseits Fette und Zucker, die konservierend wirken, sowie eigentliche Konservierungsmittel zunehmend verpönt sind. Frische, wenig denaturierte, doch lagerfähige Erzeugnisse lassen sich aber nur unter Einhaltung allerhöchster Hygieneanforderungen produzieren.

Auch die Fortschritte der Chirurgie in den vergangenen Jahrzehnten wären ohne Reinraumtechnik nicht denkbar gewesen. Gerade an alten und hochbetagten Menschen, deren natürliche Infektabwehr durch das Immunsystem bereits erheblich geschwächt ist, werden mittlerweile routinemäßig auch schwerste Eingriffe vorgenommen, etwa mehrstündige Bypass-Operationen am Herzen oder der Totalersatz des Hüftgelenks (Bild 1). Große offene Wunden, eine lange Operationsdauer und schlecht durchblutete Gewebe – die Ausgangslage bei Knochenoperationen – erhöhen aber das Risiko von Wundinfektionen.

In all diesen Anwendungen ist die Reinraumtechnik lediglich eines von zahlreichen Gliedern in der Kette der Hygienemaßnahmen. Ihre spezifische Aufgabe ist es, eine keimfreie oder zumindest keimarme Atmosphäre in den kritischen Arbeitsbereichen zu gewährleisten und damit die Übertragung von Mikroorganismen auf dem Luftwege zu unterbinden.


Grenzwerte der Biokontamination

Mikroorganismen als Komponenten des Aerosols sind überall anzutreffen, in der Außenluft ebenso wie in Arbeitsräumen. Auch geeignete Voraussetzungen für ihre Vermehrung finden sie vielerorts, etwa an feuchten Geräteober- flächen. Viele Arten haben zudem die Fähigkeit, in für sie unwirtlicher Umgebung lange Zeit zu überleben, insbesondere in einer inaktiven Form als Sporen. Ändern sich die Umgebungsbedingungen in für sie günstiger Weise, beginnen sie wieder zu wachsen und sich zu teilen.

In die Raumluft von Arbeitsräumen gelangen sie im wesentlichen über die Zuluft der Klimaanlagen und durch im Raum tätiges Personal. So setzt ein Mensch, bekleidet mit der im Krankenhaus üblichen sterilisierten Baumwoll-Arbeitskleidung pro Minute durchschnittlich rund 1000 Mikroorganismen frei, deren jeder auf einem geeigneten Nährsubstrat eine Kolonie bilden kann. Wesentliche Kontaminationsquellen sind die Atemluft und die Haare, vor allem aber feinste keimtragende Hautschuppen, die bei jeder auch noch so vorsichtigen Bewegung abschilfern.

Darum sind überall dort, wo menschliche Tätigkeit Gesundheitsrisiken birgt, Hygiene- und Sicherheitsvorschriften nicht einfach den Betrieben selbst überlassen. Wenige Branchen haben eine solche Vielzahl von Verordnungen, Auf-lagen, Ausführungsrichtlinien und technischen Normen zu beachten wie die Pharma-, die Medizinprodukte-, die Kosmetik- und die Lebensmittelindustrie. Inspektionsbehörden erteilen Betriebsbewilligungen erst nach Überprüfung der Produktionsstätten und inspizieren Anlagen für kritische Verfahrensschritte in regelmäßigen Abständen.

Ganzheitlich konzipierte Qualitätssysteme bauen auf den Regelwerken auf und stellen sicher, daß die Produktionsprozesse sorgfältig definiert und entsprechend dokumentiert sind. Sie behandeln alle Größen, die in irgendeiner Weise die Produktqualität beeinflussen – daher die Bezeichnung. Kern dieser Qualitätssysteme sind die Leitfäden einer "guten Herstellungspraxis", abgekürzt GMP-Richtlinien (nach dem englischen Begriff good manufacturing practices).

Solche Richtlinien legen unter anderem auch fest, welchen reinraumtechnischen Auflagen ein bestimmter Produktionsprozeß zu entsprechen hat. So unterscheidet der GMP-Leitfaden der Europäischen Union bei der Herstellung steriler Arzneimittel vier Güteklassen von Prozeßbereichen nach der Luftreinheit (Bild 2). Arzneimittel beispielsweise, die keiner Endsterilisierung unterworfen werden können, müssen in einem Arbeitsraum der Luftreinheitsklasse A abgefüllt werden, bei der turbulenzarme Verdrängungsströmung die Zahl der Mikroorganismen auf weniger als einen pro Kubikmeter reduziert. Die unmittelbare Umgebung dieses aseptischen Kernbereichs hat in diesem Falle noch der Luftreinheitsklasse B zu genügen; dort sind fünf Einzeller pro Kubimeter Luft erlaubt.

Starre Regelungen dieser Art gewährleisten zwar Eindeutigkeit, vermitteln aber wenig Anreiz zur Verbesserung von Prozeßtechnologien und delegieren letztlich einen Teil der Verantwortung an den Gesetzgeber. Eine entgegengesetzte Strategie zur Beherrschung von Gesundheitsrisiken liegt sowohl der Lebensmittelverarbeitung als auch der Herstellung von medizisch-technischen Produkten zugrunde: Die erforderlichen Hygienemaßnahmen beruhen auf einer systematischen Risikoanalyse.

Daraus ergeben sich, um beispielsweise beim Abpacken von Fertiggerichten die Übertragung von Keimen vom Personal auf die Portionenplatten zu verhindern, vielfältige Vorkehrungen, angefangen bei der Schutzkleidung mit Gummihandschuhen und Mundmaske; das Konzept schließt auch verschiedene reinraumtechnische Maßnahmen ein. Welche davon jeweils im einzelnen zu treffen sind, ergibt sich aus der Ermittlung potentieller Risiken, der Wahrscheinlichkeit für ihr Auftreten und der von ihnen ausgehenden Gefahren. Hinzu kommen immer wieder Kontrollen, ob alle Zielgrößen im Rahmen festgelegter Toleranzen bleiben und ob das Sicherheitssystem zu ergänzen ist.


Keimfreie Luft im Operationssaal

Die Reinraumtechnik nutzt vor allem drei technische Hilfsmittel, um die jeweils nötige mikrobiologische Luftreinheit zu gewährleisten:

- Schwebstoff-Filter, welche die Zuluft praktisch keimfrei machen,

- eine den Anforderungen entsprechende Luftführung auf möglichst kurzen Wegen, sei es eine turbulente Mischströmung, um die Keimkonzentration zu verdünnen, oder eine turbulenzarme Verdrängungsströmung beziehungsweise eine Laminarströmung, um im Raum freigesetzte Partikel aus dem Arbeitsbereich abzuschwemmen, sowie

- eine Druckabstufung zwischen Arbeitsräumen mit unterschiedlichem Kontaminationsrisiko. Gilt es beispielsweise, einen Raum gegen das Einschleppen von Keimen aus umgebenden Räumen zu schützen, muß man darin einen leichten Überdruck aufrechterhalten; dann können zwar Partikel mit entweichender Luft abströmen, nicht aber durch Sog eindringen.

Hinzu kommt, wenn immer möglich, eine strikte Abtrennung der kritischen Arbeitsbereiche von ihrer Umgebung mittels Trennflächen. Allerdings ist eine solche strenge Abschirmung der Arbeitsplätze nicht immer mit den Abläufen kompatibel. Man muß sich dann bewußt sein, daß ein Restrisiko verbleibt, und die Fläche für den Reinluft-Einstrom etwas größer wählen, als dies an sich erforderlich wäre.

Ein Operationssaal in einer chirurgischen Klinik ist dafür ein gutes Beispiel (Bild 1). Die schwebstoffgefilterte Reinluft strömt aus dem Deckenfeld als turbulenzarme Verdrängungsströmung zunächst vertikal nach unten ab. Vom Operationstisch wird sie horizontal abgelenkt, wodurch die Operationswunde in der Stauzone vor Verunreinigung geschützt ist, und umströmt dann das Operationsteam, so daß die von diesem freigesetzten Mikroorganismen in den Hintergrund abgeschwemmt werden. Es leuchtet ein, daß in diesem Falle ein offenes Schutzkonzept gewählt werden muß, ohne Trennwände zwischen dem eigentlichen Risikobereich und den Akteuren.

Trotz der vielen um den Patienten bemühten Ärzte und Schwestern gelingt es mit diesem vergleichsweise einfachen Konzept, die Keimkonzentration in der unmittelbaren Umgebung der Wunde auf weniger als zehn koloniebildende Mikroorganismen je Kubikmeter zu verringern. Dieser Wert gilt selbst gemäß den besonders strengen schweizerischen Richtlinien für lufttechnische Systeme im Krankenhaus auch für schwerste Eingriffe als ausreichend.

Kostenoptimierte Schutzkonzepte

Wegen des großen Luftbedarfs erfordert der Einsatz der turbulenzarmen Verdrängungsströmung erhebliche Investitions- und Betriebsmittel. Es gilt also, dieses leistungsfähige Prinzip konsequent nur dort anzuwenden, wo dies unbedingt erforderlich ist.

Von Vorteil ist es, kritische Arbeitsbereiche im Inneren einer Prozeßanlage anzuordnen oder etwa in unmittelbarer Nähe einer Maschine mit Trennwänden abzuschirmen – flexible, transparente Kunststoff-Folien genügen häufig als sogenannte Trennschürzen. Aus diesen Zonen strömt die Luft frei in die umgebenden Raumbereiche ab, wo sich eine turbulente Mischströmung einstellt (Bild 4). Ein Beispiel aus der Lebensmittelindustrie sind Abfüllstationen für Joghurt in einer Molkerei; die Aufsichtsperson greift nur bei Störungen ein, ansonsten ist der Prozeßbereich durch Trennschürzen separiert (Bild 3).

Noch strenger sind Mensch und Prozeß bei der aseptischen Abfüllstation (Bild 5) für flüssige Arzneimittel getrennt. Glaswände schirmen den Abfüllbereich vor der Umgebungsluft ab, Eingriffe sind nur über Handschuhöffnungen möglich. Auch in der unmittelbaren Umgebung des Prozeßbereichs herrscht turbulenzarme Verdrängungsströmung; so läßt sich dort die Luftreinheitsklasse B auch unter ungünstigsten Bedingungen aufrechterhalten. Der Mehraufwand wird im Interesse höchster Sicherheit in Kauf genommen.

Verständlicherweise sucht auch die pharmazeutische Industrie allen Anforderungen mit geringstem Aufwand, also kostensparend, zu genügen. Darum setzt sich mehr und mehr das sogenannte Isolatorprinzip durch.

Beispielsweise kann eine Ampullen-Abfüllanlage in einem allseits geschlossenen Gehäuse installiert sein, das unter leichtem Überdruck steht. Weil der Isolator über ein separates Belüftungssystem versorgt wird, genügen geringere Luftvolumenströme, und die strikte Trennung von Mensch und Prozeß erübrigt es häufig, im Inneren eine kostspielige turbulenzarme Verdrängungsströmung aufrechtzuerhalten. Für allfällige Eingriffe sind in die transparenten Isolatorwände Handschuhe und Halbanzüge integriert (Bild 6). Überdies läßt sich dieses geschlossene System vergleichsweise einfach sterilisieren, während eine offene Lösung mit direktem Kontakt zum Arbeitsbereich der Menschen dafür nur bedingt geeignet wäre. Außerdem brauchen die Arbeitskräfte keine spezielle Reinraum-Kleidung zu tragen; normale Labormäntel und Hauben genügen.

Das Isolatorprinzip ist zwar seit Jahrzehnten von der Nukleartechnik her bekannt. Auf die Pharmazeutika-Produktion ließ es sich aber erst übertragen, seit die dafür nötigen Maschinen und Anlagen hinreichend automatisiert wurden und so zuverlässig sind, daß das Personal nur mehr selten in den Prozeßablauf korrigierend eingreifen muß.

Letztlich ist aber jede technische Lösung nur so gut wie ihr Benutzer: An der Zuverlässigkeit und der Gewissenhaftigkeit eines jeden Mitglieds des Arbeitsteams liegt es, ob die in Reinräumen entstandenen Produkte hygienisch einwandfrei sind und höchsten Sicherheitsansprüchen genügen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1994, Seite 116
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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