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Schwarze Tage im Nationalpark Wattenmeer

Anfang Juni dieses Jahres sind große Teilflächen des Ostfriesischen Watts umgekippt in dem Sinne, daß sich in einem sauerstoffhaltigen (aeroben) Biotop schwarze, erstickende (anaerobe) Zonen bildeten, in denen höheres Leben nicht mehr existieren kann. Die grundlegende Ursache war ein Überangebot an Nährstoffen, das sich durch eine Kaskade von Ereignissen zur Katastrophe entwickelte.

Die zum Niedersächsischen Landesamt für Ökologie gehörende Forschungsstelle Küste auf Norderney machte bei Flügen über das Watt am 28. und 30. Mai 1996 eine alarmierende Entdeckung: Die bis dahin nur wenige Meter großen schwarzen Flecke auf trockenfallenden Flächen des Ostfriesischen Watts, die schon länger als Warnsignal erkannt und im Rahmen des Verbundprojektes "Ökosystemforschung im Niedersächsischen Wattenmeer" (ÖSF) wissenschaftlich bearbeitet worden waren, hatten sich dramatisch vermehrt und teilweise die Größe von Fußballfeldern angenommen (Bild 1). Nach Mitteilung eines Wattführers vom 31. Mai lag der Schwerpunkt des Phänomens zwischen dem Küstenort Neßmersiel und der Insel Baltrum.

Den Höhepunkt erreichte die verheerende Entwicklung am 10. Juni. Hatten die schwarzen, stinkenden Stellen in den letzten Jahren allenfalls 0,1 Prozent der trockenfallenden Flächen ausgemacht, bedeckten sie zu diesem Zeitpunkt bis zu einem Fünftel (Bild 2). Priele waren schwarz verfärbt, und das Restwasser auf dem Watt wies überall ein Sauerstoffdefizit auf. Übelriechender Schwefelwasserstoff erreichte im Porenwasser und selbst in den Pfützen für Bodentiere toxische Konzentrationen. Wattwürmer und Muscheln starben in Massen (Bild 3), nachdem der harte Winter, in dem das Watt monatelang vereist war, ohnehin schon große Verluste bei den Herzmuscheln verursacht hatte. Ab dem 12. Juni besserten kräftiger Wind und sinkende Temperaturen das äußere Erscheinungsbild, ohne jedoch an der grundsätzlichen Situation etwas zu ändern.


Ein empfindliches Gleichgewicht

Mit dieser Katastrophe waren die schlimmsten Befürchtungen der Experten eingetreten, die eine solche Situation als extreme Folge von Überdüngung und Übernutzung zwar nicht ausgeschlossen, aber doch für wenig wahrscheinlich gehalten hatten. Zur Funktion der Wattsedimente in den Stoffkreisläufen des Küstenmeeres gehört der Abbau von organischem Material. Dieses entsteht zum einen am Ort durch Wachstum von Bakterien, Algen, Pflanzen (wie dem inzwischen kaum noch vorhandenen Seegras) und Bodentieren; zum anderen schwemmen es Tiden, Strömungen und Wind aus dem vorgelagerten Seegebiet ein. Es wird durch physikalische Umlagerung und durch Wühlarbeit der Bodentiere (Bioturbation) in das Sediment eingearbeitet.

Der Abbau erfolgt in Oberflächennähe unter Verbrauch von Sauerstoff, in der Tiefe dagegen überwiegend durch Reduktion von Sulfat, einem wesentlichen Bestandteil der im Meerwasser gelösten Salze, zu Sulfid (der anionischen Form des Schwefelwasserstoffs). Die Grenze zwischen dem tiefgelegenen, sauerstoff-freien Sediment, dem das Sulfid in Verbindung mit Eisen ein schwarzes Aussehen verleiht, und der hellgefärbten oxischen Schicht darüber bildet der sogenannte Redoxhorizont. Normalerweise verläuft er in einigen Zentimetern, bei Schlicksedimenten manchmal auch nur in einigen Millimetern Tiefe. Seine Lage wird wesentlich von der Wühlarbeit der Bodentiere beeinflußt; denn die Bioturbation ist die wichtigste Art des Transports von Sauerstoff in die Tiefe. Das im anaeroben Sediment aus Sulfat gebildete Sulfid wird in der oxischen Schicht wieder zu Sulfat oxidiert, was die vom Sauerstoff der Oberfläche abhängigen Bodentiere vor dem giftigen Stoff schützt.

In den schwarzen Flecken ist dieser Kreislauf offenbar gestört. Aus diesem Grunde untersuchte sie die ÖSF, deren Leitungskollegium ich angehöre, schon seit 1989. Zunächst konnten wir durch Beobachtung feststellen, auf welche Weise die Flecke zustande kamen. Zum Beispiel trat die Schwärzung auf, wenn Makroalgen, die sich in der überdüngten Nordsee in den letzten Jahren stark vermehrt haben, von Wellen und Strömung zusammengeballt und im Sediment vergraben wurden; andere Auslöser waren tote Sandklaffmuscheln. Anhand dieser Erkenntnisse vermochten wir die Flecke dann auch künstlich zu erzeugen, um ihre Entstehungsbedingungen genauer zu untersuchen.

Dabei zeigte sich, daß die sich zersetzende Biomasse den Sauerstoff so rasch verbraucht, daß er von der Oberfläche nicht nachgeliefert werden kann. An seine Stelle tritt das Sulfat, das nun auch in der obersten Schicht zum Sulfid reduziert wird und mit Eisen-Ionen einen schwarzen Niederschlag bildet. Schwarze Flecke sind demnach nichts anderes als Stellen, an denen die oxische Schicht verschwunden und die schwarze, anaerobe Zone bis zur Oberfläche durchgedrungen ist. Die Farbe ist dabei ein direkter Indikator für die Abwesenheit von Sauerstoff; ihr Auftreten zeigt, daß die Abbaukapazität des Bodens erschöpft und auch die Bioturbation zum Erliegen gekommen ist.

Im nachhinein muß man die Untersuchungen der ÖSF als glücklichen Umstand bewerten. Wir gewannen dabei Informationen über eine Störung des Stoffkreislaufs im Watt, solange sie noch ein lokal begrenztes Phänomen war. Von Anfang an aber sahen wir darin auch ein Warnsignal für eine drohende großflächige Überlastung; und als sich das Phänomen zur Katastrophe ausweitete, wußten wir, womit wir es zu tun hatten.


Eine Ursachen-Kaskade

Angesichts der sich zuspitzenden Situation Ende Mai dieses Jahres riefen die Nationalparkverwaltung und das Common Wadden Sea Secretariat (CWSS) – mit den Niederlanden, Deutschland und Dänemark als Mitgliedern – eine internationale Expertengruppe in Dornumersiel (nahe dem Schwerpunkt des Phänomens) zusammen. Am 12. und 13. Juni informierten sich die Wissenschaftler bei einer Begehung des Watts über die Situation und diskutierten die Ursachen. Dabei werteten sie umfangreiches Forschungsmaterial über das Wattenmeer aus, das in den letzten 20 Jahren gesammelt worden war und zu dem auch die Untersuchungen der ÖSF gehören. So konnten sie eine schlüssige Ursache-Wirkungs-Kette rekonstruieren; sie enthält zwar noch einige hypothetische Elemente, die aber auf der Basis der Systemkenntnis plausibel sind.

Die entscheidende Rolle spielt demnach die von Holland bis Sylt schon seit längerem dokumentierte Vorbelastung des Watts durch zu hohen Organismen- und damit Biomassebestand (Spektrum der Wissenschaft, Mai 1991, Seite 52). Sie ist um so bedenklicher, als zugleich die Zahl der Miesmuscheln mit ihrer wichtigen biologischen Filterfunktion dramatisch abgenommen hat.

Durch die lange Frostperiode von Januar bis März dieses Jahres spitzte sich die Situation zu. Der ungewöhnliche Eiswinter ließ einen Großteil der kälteempfindlichen Bodentiere, vor allem Herzmuscheln (Cerastoderma edule) und Bäumchenröhrenwürmer (Lanice conchilega), auf den trockenfallenden Flächen absterben. Die Kadaver bildeten ein Reservoir abbaubarer Biomasse, die aber wegen niedriger Temperaturen im Sediment großenteils bis Ende Mai konserviert wurde. Immerhin zeigte ein Anstieg von Sulfid und Ammonium im Porenwasser bereits die beginnende Überlastung an.

Eine Blüte der planktischen Kieselalgen Coscinodiscus concinnus und C. walesii steuerte vermutlich weiteres sauerstoffzehrendes Material bei. Nach ihrem Zusammenbruch könnten Lipide aus den abgestorbenen Mikroorganismen zudem als Fettfilm das Eindringen von Sauerstoff in das Sediment und die Kiemenatmung von Bodentieren zeitweise behindert haben. Die Untersuchungen dazu sind noch nicht abgeschlossen. Von ihnen erhofft man sich auch Hinweise darauf, warum sich die Schäden auf die niedersächsische Küstenregion mit dem Baltrumer Watt als Zentrum konzentrieren. Palmöl, das Mitte Mai aus einem russischen Frachter auslief, dürfte dagegen allenfalls eine untergeordnete Rolle gespielt haben.

Nach einer gleichmäßig kühlen Periode (mit nur einem warmen Tag am 31. Mai) stiegen die Temperaturen ab dem 5. Juni von durchschnittlich 15 auf 30 Grad und gingen erst am 12. Juni wieder zurück. Zudem herrschte nur schwacher oder gar kein Wind. Mit dem Temperatursprung setzte schlagartig der sauerstoffzehrende Abbau der akkumulierten Biomasse ein, der die physikalischen wie biologischen Mechanismen der Sauerstoffversorgung überforderte.

Die so entstandene Situation ist tragischerweise teilweise selbsterhaltend, ja wahrscheinlich sogar selbstverstärkend. Weil die Bodentiere in den schwarzen Flecken absterben, kommt die Bioturbation und damit ein wichtiger Mechanismus zum Eintrag von Sauerstoff zum Erliegen. Sulfid wird folglich nur langsam wieder oxidiert und durch die weiter dominierende Sulfatreduktion stetig nachgebildet. Dies wiederum erschwert oder verhindert die Neuansiedlung der Bodentiere. Zusätzlich ist zu befürchten, daß toxische Schwermetalle, die im oxischen Sediment fester gebunden sind als im anaeroben, freigesetzt werden.

Selbst wenn die schwarzen Flecke verschwinden, bilden sie sich schon bei viel geringerer Nährstoffbelastung wieder. Normalerweise wirkt nämlich das Eisen im Sediment als Puffer zum Abfangen des Sulfids. Weil das Metall bei der Bildung der Flecke jedoch weitgehend an das giftige Sulfid-Ion gebunden wurde, ist dieser Puffer erschöpft. Dadurch können sich künftig leichter hohe Sulfidgehalte im Porenwasser aufbauen. Dies hat mein Kollege Wolfgang Ebenhöh vom Institut für Chemie und Biologie des Meeres der Universität Oldenburg schon vor einiger Zeit mit einem mathematischen Modell der schwarzen Flecke gezeigt, und es wird durch die aktuellen Beobachtungen bestätigt.

Prognose

Die künftige Entwicklung hängt stark vom Wetter ab. Heiße Stagnationsperioden werden die akuten Symptome von Anfang Juni wiederkehren lassen. Windiges und kühles Wetter dürfte die Schäden dagegen dämpfen, weil sich das Verhältnis zwischen Sauerstoffverbrauch und -versorgung bessert. Sommerstürme oder besser sogar Sturmfluten könnten Wunder bewirken (in diesem Punkt sind unsere Wünsche denen des Tourismus diametral entgegengesetzt). In jedem Falle wird der partielle Zusammenbruch des Ökosystems über Monate weiterwirken und vielleicht auch im nächsten Jahr noch zu spüren sein. Ein wesentlicher Faktor ist dabei vorerst unbekannt: ob die subtidalen, also im Überflutungsbereich lebenden Organismen Schaden genommen haben. Wenn ja, fällt ihr Larvenfall für die Neubesiedelung aus. Nur von schwarzen Tagen im Nationalpark zu sprechen, ist deshalb vielleicht unangemessen optimistisch. Solche Tage gehen üblicherweise vorüber; im Watt aber könnten sie zum Dauerzustand werden.

Der Nationalpark ist in seinen Steuerungsmitteln auf Betretungsverbote, Befahrensregeln und Fischereiregulationen beschränkt. Diese Maßnahmen sind zwar geeignet, Störungen von Brutvögeln und Seehunden zu verhindern; doch schon als Mittel zum allgemeinen Artenschutz waren sie bisher wenig erfolgreich. Gänzlich wirkungslos müssen sie jedoch bleiben, wenn die Biotopqualität auf großen Flächen so drastisch absinkt wie jetzt und dies das Ergebnis jahrzehntelanger weiträumiger Belastung und nicht die Folge eines akuten lokalen Unfalls ist. Statt einer kurzfristigen Unterlassung kann also nur die entschiedene und dauerhafte Verminderung der Nährstoffeinleitungen in die Nordsee Abhilfe schaffen. Im Bundesnaturschutzgesetz, Paragraph 14, heißt es: "Nationalparke sind ... Gebiete, die im überwiegenden Teil ... die Voraussetzungen eines Naturschutzgebietes erfüllen, sich in einem vom Menschen nicht oder wenig beeinflußten Zustand befinden". Der Einfluß des Menschen reicht, wie das Watt spätestens jetzt schmerzlich gezeigt hat, sehr viel weiter, als diese Formulierung unterstellt.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1996, Seite 16
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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