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Spiegelkabinette mit dunklen Punkten

Ein brennendes Streichholz in einem Spiegelkabinett ist meist in vieltausendfachen Reflexionen sichtbar. Aber es kann Punkte geben, von denen aus man keine einzige sieht.

Angela steht in einem Raum mit per- fekt reflektierenden Wänden. An einer anderen Stelle dieses Spiegelkabinetts zündet ihr Freund Bruno ein Streichholz an. Kann das Angela verborgen bleiben, wenn das Kabinett etwa sehr verwinkelt ist? Allgemeiner gefragt: Füllt das vom Streichholz ausgehende Licht den ganzen Raum, ohne auch nur einen Punkt unerleuchtet zu lassen, einerlei, wo man es entzündet?

Victor Klee, der heute an der Universität von Washington in Seattle arbeitet, hat dieses Problem 1969 erstmals veröffentlicht; Vorläufer und Varianten lassen sich dem Vernehmen nach mindestens bis in die fünfziger Jahre zu Ernst Straus zurückverfolgen, der lange Jahre an der Universität von Kalifornien in Los Angeles tätig war.

Falls alle spiegelnden Wände vertikal sind, kann man die dritte Dimension ignorieren, indem man die ganze Anordnung genau von oben betrachtet. Oder man läßt schräge Wände zu und bezieht alle drei Dimensionen ein; dann müssen allerdings auch Boden und Decke verspiegelt sein. Die Wände können gerade sein – so daß der Raum ein Vieleck oder im dreidimensionalen Falle ein Polyeder bildet – oder gekrümmt. In jedem Falle aber pflegt man Angelas Auge und Brunos Flamme als Punkte zu idealisieren und sich auf den Fall zu konzentrieren, daß beide nicht am Rande, sondern im Inneren des Raums stehen.

Für jede Reflexion gilt das übliche Gesetz "Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel" – mit einer entscheidenden Einschränkung: Wo ein Einfallswinkel nicht definierbar ist, also an Kanten oder Ecken, soll das Licht absorbiert werden. Die wandgroßen Spiegel haben gewissermaßen unendlich dünne schwarze Ränder.

Für den klassischen Fall – zwei Dimensionen, gerade Wände - hat George W. Tokarsky von der Universität von Alberta in Edmonton (Kanada) die Frage 1995 beantwortet. Sein Beweis ist eine elegante Anwendung des sogenannten Spiegelungsverfahrens und, wie alle gute Mathematik, überraschend einfach.

Er beginnt mit einem gleichschenklig-rechtwinkligen Dreieck, also der Hälfte eines diagonal geschnittenen Quadrates (ADE, grau unterlegt in Bild 1). Schaut man in ein Spiegelkabinett dieser Form von oben hinein, wirkt es wie ein Kaleidoskop: Man sieht ein Gitter, bestehend aus dem echten dreieckigen Fußboden und lauter ein- oder mehrfach gespiegelten Kopien davon. Wie das Dreieck selbst kann auch ein Lichtstrahl, der darin umhertanzt, durch Spiegelung in die Ebene fortgesetzt werden. Wo der echte Lichtstrahl an der Wand reflektiert wird, geht sein Spiegelbild einfach geradeaus weiter. Wenn man also einen Strahl, der von irgendeinem Punkt im Dreieck ausgeht, über die Seiten hinaus geradlinig fortsetzt, verhält er sich in den gespiegelten Dreiecken des Gitters, die er trifft, so wie der echte Strahl im ursprünglichen Dreieck.

Dadurch werden die Verhältnisse viel übersichtlicher. Insbesondere kann man mit diesem Trick eine entscheidende Behauptung beweisen: Ein Lichtstrahl, der von einer der spitzwinkligen Ecken des Dreiecks (zum Beispiel A in Bild 1) ausgeht, kehrt nie wieder dorthin zurück.

Zunächst ein Beispiel: Der Lichtstrahl ABCD in Bild 1 ist ersetzbar durch den geradlinigen Strahl ABC'D'. Weil er in dem nichtreflektierenden Punkt D endet, trifft der Ersatzstrahl den Gitterpunkt D'.

Ich färbe nun die Ecken des Dreiecks ein: A wird schwarz, die andere spitzwinklige Ecke E weiß und die rechtwinklige D rot. Die Färbung überträgt sich auf alle Spiegelbilder. Dann behaupte ich: Wenn es einen Strahl von A wieder zurück nach A gäbe, müßte er unterwegs die weiße oder die rote Ecke treffen. Aber dort würde er absorbiert, also kann es ihn nicht geben.

Zum Beweis dieser Behauptung nehme ich an, es gäbe einen solchen Strahl von A nach A. Dann würde der geradlinige Ersatzstrahl von A zu einem anderen schwarzen Punkt A' des Gitters verlaufen. Nun führen wir ein Koordinatensystem ein, und zwar so, daß A der Nullpunkt ist und die Gitterweite 1 beträgt. Alle schwarzen Punkte haben in horizontaler wie vertikaler Richtung den Abstand 2 voneinander: Ihre Koordinaten sind sämtlich gerade Zahlen. Der Mittelpunkt der Strecke AA' – nennen wir ihn A'' - hat die halben Koordinaten von A'. Sie sind ganzzahlig, denn die Koordinaten von A' sind geradzahlig, also ist A'' wieder ein Gitterpunkt – und der ist rot oder weiß, wenn mindestens eine seiner beiden Koordinaten ungerade ist.

Was aber, wenn beide Koordinaten von A' durch 4 teilbar sind? Dann ist A'' zwar schwarz; aber das macht nichts, denn dann halbieren wir die Strecke AA'', finden einen neuen Mittelpunkt A''', und so weiter. Nach endlich vielen derartigen Ersetzungen landen wir bei einem Mittelpunkt, der mindestens eine ungerade Koordinate hat und deshalb rot oder weiß ist. Wenn etwa A'=(48, 28) ist, erhalten wir A''=(24, 14) und in einem weiteren Schritt A'''=(12, 7).

Also trifft jede gerade Linie von einem schwarzen Gitterpunkt zu einem anderen schwarzen unterwegs mindestens einen roten oder weißen. Mithin gerät der echte Strahl, der in derselben Richtung von A ausgeht, früher oder später in die weiße oder rote Ecke, wo er absorbiert wird.

Das Beweisprinzip läßt sich auf kompliziertere Räume verallgemeinern. Man baue ein Spiegelkabinett, dessen Wände genau auf Gitterlinien stehen und das rote und weiße Punkte lediglich in Ecken, nicht aber im Inneren oder inmitten einer glatten Wand enthält (Bild 2 oben). Angela und Bruno stehen auf schwarzen Punkten im Inneren. Kann Angela Bruno sehen oder er sie? Nein; denn zu jedem Lichtstrahl, der von Angela zu Bruno verläuft, gibt es einen geradlinigen Ersatzstrahl von schwarz nach schwarz, und der trifft unweigerlich einen roten oder weißen Punkt, wo er endet.

Wenn Sie selber solche Räume zu konstruieren versuchen, werden Sie feststellen, daß das nicht einfach ist. Zuweilen muß man dem Raum ein Dreieck hinzufügen, um zu verhindern, daß ein roter oder weißer Punkt auf einer glatten Wand liegt; aber eben dadurch kann ein anderer roter oder weißer Punkt verbotenerweise ins Innere geraten. Der Raum von Bild 2 oben besteht aus 40 Gitterdreiecken; Tokarsky hat einen angegeben, der dieselben Eigenschaften bereits mit 27 Dreiecken erreicht. Finden Sie ihn, oder gar noch kleinere? Lösungen zeigt Bild 3. Tokarsky gibt auch Spiegelkabinette an, die auf Dreiecken anderer Form oder auf Quadraten aufgebaut sind (Bild 2 unten), und dreidimensionale, die aus lauter Würfeln bestehen.

Es gibt also dunkle Punkte in Spiegelkabinetten, die mit nur einer punktförmigen Lichtquelle ausgestattet sind – aber eben nur einzelne Punkte. Beliebig dicht benachbarte Punkte sind gut ausgeleuchtet. Kann es überhaupt dunkle Flecken geben: unbeleuchtete Teilgebiete mit einem Flächeninhalt größer als null?

Diese Frage ist erheblich schwieriger. Für gerade Wände ist die Antwort anscheinend unbekannt. Für einen Raum mit gekrümmten Wänden hat Roger Penrose von der Universität Oxford (England) zusammen mit einem Mitarbeiter 1958 bewiesen, daß es dunkle Flecken geben kann.

Eine Ellipse hat zwei spezielle Punkte, ihre Brennpunkte. Ein Lichtstrahl, der von einem Brennpunkt ausgeht, einerlei in welche Richtung, trifft nach einer Reflexion am Rande den anderen Brennpunkt. Mehr noch: Ein Strahl, der zwischen den Brennpunkten durchläuft, tut dies noch einmal, nachdem er am Rand reflektiert worden ist und bevor er wieder den Rand trifft. Man halbiere nun eine Ellipse entlang dieser Hauptachse, ziehe die beiden Hälften auseinander und verbinde sie durch eine Art Wespentaille (Bild 4). Jeder Lichtweg von Bruno zu Angela muß durch dieses Mittelstück verlaufen. Also kreuzt er in beiden Halbellipsen unweigerlich die Verbindungsstrecke zwischen den Brennpunkten und wird postwendend auf diese begrenzte Linie zurückgespiegelt.

Es gibt zahlreiche weitere Probleme dieser Art, darunter etliche noch ungelöste (siehe die Literaturhinweise). Jeffrey B. Rauch von der Universität von Michigan in Ann Arbor hat gezeigt, daß es einen Raum mit gekrümmter Wand gibt, der zur vollständigen Ausleuchtung unendlich viele punktförmige Lichtquellen erfordert. Dabei hat er nur einen einzigen Punkt, wo die Wand nicht glatt ist und deshalb das Licht absorbiert. Man kann sogar auf diesen einen irregulären Punkt verzichten und zu jeder endlichen Zahl n einen Raum konstruieren, der mit n Streichhölzern nicht auszuleuchten ist.

Janos Pach vom City College New York hat eine sehr raffinierte Frage gestellt: Wenn man irgendwo in einem großen, perfekt reflektierenden Wald – jeder Baumstamm ein außen verspiegelter Zylinder – ein Streichholz anzündet, dringt dann überhaupt Licht nach draußen? Bis jetzt weiß niemand die Antwort.

Literaturhinweise

- Polygonal Rooms Not Illuminable from Every Point. Von George W. Tokarsky in: American Mathematical Monthly, Band 102, Heft 10, Seiten 867 bis 879, 1995.

– Unsolved Problems in Geometry. Von Hallard T. Croft, Kenneth J. Falconer und Richard K. Guy. Springer, Heidelberg 1991.

– Alte und neue ungelöste Probleme in der Zahlentheorie und Geometrie der Ebene. Von Victor Klee und Stan Wagon. Erscheint im April 1997 bei Birkhäuser, Basel.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1997, Seite 14
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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