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Stress-Proteine

Bei unterschiedlichsten Belastungen bilden Zellen spezielle Eiweißstoffe, die einer Schädigung entgegenwirken. Als erstes wurden die sogenannten Hitzeschock-Proteine entdeckt; deren Wirkungsbereich umfaßt aber wesentlich mehr Funktionen als Schutz in Stress-Situationen. Man hofft sogar, sie für neue Therapien gegen Infektions- und Autoimmunkrankheiten sowie gegen Krebs nutzen zu können.

Wenn die Temperatur plötzlich steigt, ergreifen Zellen sofort Gegenmaßnahmen: Sie produzieren vermehrt eine bestimmte Klasse von Molekülen, die sie vor Schaden bewahren. Dies gilt für sämtliche Arten und Typen von Zellen, vom einfachsten Bakterium bis zur hochdifferenzierten Nervenzelle.

Als dieses Phänomen vor 30 Jahren erstmals beobachtet wurde, nannte man es Hitzeschock-Antwort. Später stellte sich heraus, daß Zellen in dieser Weise auch auf diverse andere widrige Umgebungseinflüsse und Situationen reagieren – gegenüber giftigen Metallen, Alkoholen und vielen Stoffwechselgiften, aber auch etwa in Kultur bei mechanischer Belastung und im Organismus bei Fieber, einem Herzanfall oder einer Chemotherapie gegen Krebs. Weil der zelluläre Abwehrmechanismus immer der gleiche ist, spricht man heute allgemeiner von der zellulären Stress-Antwort und von Stress-Proteinen.

Nach dem, was man inzwischen über Struktur und Funktion dieser Eiweißstoffe weiß, kommen ihnen weit mehr Aufgaben zu, als nur die Zelle zu schützen. Viele haben während der gesamten Lebensdauer von Zellen an grundlegenden Stoffwechselvorgängen teil; dazu gehören auch die Reaktionen, bei denen die übrigen Zellproteine synthetisiert und korrekt zusammengefügt werden müssen. Manche Stress-Proteine scheinen gar die Moleküle für die Regulation von Zellwachstum und -differenzierung zu dirigieren.

Auch wenn manche Aspekte noch nicht voll verständlich sind, eröffnen sich bereits Möglichkeiten, die Stress-Antwort von Zellen gezielt praktisch einzusetzen. Sie dürfte sich zum Beispiel hervorragend dazu eignen, den Eintrag von Schadstoffen in die Umwelt zu überwachen; und als hochempfindliche Reaktion wäre sie auch für toxikologische Tests zu nutzen. Medizinische Anwendungen lassen sich vielleicht noch nicht so bald entwickeln, sind aber auch schon absehbar.

Hitzeschock-Proteine

Daran war gar nicht zu denken, als Anfang der sechziger Jahre erstmals die zelluläre Stress-Antwort beobachtet wurde – wie so oft in der Forschung eher zufällig. Schon lange war eines der bevorzugten Studienobjekte, an dem Biologen die genetischen Grundlagen der Tierentwicklung untersuchten, die Taufliege (Drosophila melanogaster), die sich auf faulendem Obst einfindet und in Kultur rasch vermehrt. Seine Beliebtheit bei den Forschern verdankt das nur zwei Millimeter große Insekt einer genetischen Besonderheit: In den Zellen der großen Speicheldrüsen ist die Erbsubstanz – die DNA – der vier Chromosomen tausendfach vervielfältigt, wobei die kopierten DNA-Fäden jeweils Seite an Seite als dicker Strang zusammenbleiben; man kann sie unter dem Lichtmikroskop gut sehen.

In jedem Entwicklungsstadium vom Embryo bis zum geschlechtsreifen Tier schwellen bestimmte Regionen auf diesen Riesenchromosomen deutlich an (man nennt die Verdickungen nach dem englischen Begriff Puffs). Dies ist ein Zeichen für intensive Genaktivität und bedeutet, daß die Zelle die dort codierten Proteine produziert (Bild 2).

Frederico M. Ritossa vom Internationalen Laboratorium für Genetik und Biophysik in Neapel beobachtete nun, daß in isolierten Drosophila-Speicheldrüsen ein neues Muster solcher Puffs entstand, als er sie einer Temperatur aussetzte, die nur wenig über der für Wachstum und Entwicklung optimalen lag. Die Aufblähungen waren innerhalb von ein bis zwei Minuten nach dem Temperaturanstieg erkennbar und wuchsen noch 30 bis 40 Minuten lang. Dieser Befund regte in den folgenden Jahren viele weitere Forschungen an.

Am California Institute of Technology in Pasadena wiesen 1974 Alfred Tissières, Gastwissenschaftler von der Universität Genf, und Herschel K. Mitchell nach, daß zugleich mit den Puffs eine bestimmte Gruppe von Proteinen in großer Menge gebildet wird; sie nannten sie darum Hitzeschock-Proteine (Bild 3). Mithin repräsentieren diese Puffs die Orte auf der DNA, wo die genetische Information für diese Proteine liegt und zunächst auf Boten-RNA transkribiert wird (Übermittlermoleküle, die dann als Matrizen für die Protein-Synthese dienen).

Gegen Ende der siebziger Jahre mehrten sich die Anzeichen, daß es sich bei der Hitzeschock-Reaktion um einen allgemeinen Zellmechanismus handelt. Bei einem plötzlichen Temperaturanstieg produzieren nämlich auch Bakterien und Hefepilze sowie Pflanzen- und Tierzellen in Kultur vermehrt Proteine von gleicher Größe wie die Hitzeschock-Proteine der Taufliege. Außerdem können verschiedenste Arten von Stress die Reaktion auslösen, weshalb darin ein grundlegender zellulärer Schutz- und Abwehrmechanismus zu vermuten war.

Dies bestätigte sich in den nächsten Jahren, als man die Gene verschiedener Stress-Proteine identifizierte und isolierte: Bei Mutationen auf diesen Genen traten aufschlußreiche Zellanomalien auf. So war bei Bakterien die DNA- und RNA-Synthese gestört; eine normale Zellteilung und der Abbau von Proteinen gelangen offenbar nicht mehr richtig, und bei hohen Temperaturen stellten die Mutanten-Kulturen ihr Wachstum sogar gänzlich ein.

Wie sich herausstellte, hilft die Stress-Antwort auch tierischen Zellen, kurzzeitig hohe Temperaturen auszuhalten. Werden sie zunächst einem leichten Hitzeschock ausgesetzt, der gerade genügt, die Menge an Stress-Proteinen zu vermehren, sind sie anschließend besser gegen einen zweiten, stärkeren gefeit, den sie andernfalls nicht überleben würden. Die hitzetoleranten Zellen waren zudem gegenüber anderen sonst schädlichen Einwirkungen weniger empfindlich.

Uralte Funktionen

Die weitere Forschung erbrachte zwei unerwartete Befunde. Zum einen sind viele der beteiligten Gene bei verschiedenen Organismen einander auffallend ähnlich. Wie Elizabeth A. Craig und ihre Kollegen an der Universität von Wisconsin feststellten, sind diejenigen für das häufigste Stress-Protein, hsp70 (die Kurzbezeichnung steht für Hitzeschock-Protein mit der relativen Molekülmasse 70 Kilodalton), bei Bakterien, Hefen und der Taufliege zu mehr als 50 Prozent identisch. Offenbar wurden sie in der Evolution konserviert und spielen in allen Organismen eine ähnliche Rolle.

Zweitens werden Stress-Proteine überraschenderweise auch unter normalen Umständen gebildet. Man teilte sie darum in zwei Gruppen: solche, die nur in stressgeplagten Zellen auftreten, und jene, die auch unter gewöhnlichen Wachstumsbedingungen fortwährend exprimiert werden.

Wieso aber produzieren Zellen in so vielen verschiedenen lebensbedrohlichen Situationen immer nur die eine gleiche Sorte von Proteinen? Eine mögliche Erklärung fand 1980 Lawrence E. Hightower von der Universität von Connecticut in Storrs. Ihm war aufgefallen, daß unter all diesen Umständen Proteine denaturieren: Die langen Aminosäureketten sind in charakteristischer Weise gefaltet; wird die normale Konformation zerstört, kann das Protein seine biologische Funktion nicht mehr erfüllen. Deshalb vermutete Hightower, die Stress-Antwort werde durch die Häufung denaturierter oder abnorm gefalteter Proteine in der Zelle ausgelöst, und die Stress-Proteine hülfen dabei, solche störenden Moleküle aufzuspüren und zu beseitigen.

Diese These prüften und bestätigten Richard Voellmy von der Universität Miami (Florida) und Alfred L. Goldberg von der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) innerhalb der nächsten Jahre mit einem bahnbrechenden Experiment. Sie riefen in lebenden Zellen schon dadurch eine Stress-Antwort hervor, daß sie denaturierte Proteine injizierten.

Die Familie der Aufpasser

Nun machten verschiedene Forscher sich daran, die Stress-Proteine rein zu gewinnen und ihre biochemischen Eigenschaften zu beschreiben. Besonders hsp70 wurde gründlich untersucht. Mit Hilfe molekularer Sonden fand man heraus, daß dieses Protein sich nach einem Hitzeschock im Zellkern in einer besonderen Struktur – dem Nucleolus oder Nebenkern – anreichert (dort werden die Ribosomen fabriziert, welche die Proteine entlang der Matrize aufbauen).

Dieser Befund war insofern aufschlußreich, als frühere Experimente gezeigt hatten, daß Zellen nach einem Hitzeschock die Produktion von Ribosomen einstellen und der Nucleolus von deren Resten geradezu überschwemmt ist. Hugh R.B. Pelham vom Laboratorium für Molekularbiologie des britischen Medizinischen Forschungsrates in Cambridge vermutete deshalb, hsp70 könne denaturierte Moleküle erkennen und ihnen wieder zu ihrer korrekten Faltung und damit zur biologisch aktiven Struktur verhelfen.

Pelham und seinem Kollegen Sean Munro gelang es 1986, mehrere Gene für Proteine zu isolieren, die allesamt dem hsp70 verwandt sind. Eines dieser Proteine ist mit dem Schwerketten-Bindeprotein (BiP) identisch, das sich an eine Komponente – die lange Kette – von Immunglobulinen anlagert und diese Antikörper wie auch andere Proteine für die Sekretion bereit macht. An solche Proteine bindet es sich, kurz nach deren Synthese, während sie ihre funktionsfähige, dreidimensional aufgeknäulte Form erlangen, was bei einigen auch bedeutet, daß mehrere Stränge oder Abschnitte sich in spezifischer Weise zusammenlagern (Bild 4). Treten bei diesem Vorgang Fehler auf, bleiben die Moleküle an BiP gebunden und werden schließlich wieder abgebaut. Wenn sich jedoch unter bestimmten Bedingungen verkehrt gefaltete Proteine anhäufen, bilden die Zellen sogar mehr BiP. Alles in allem scheint BiP bei der Vorbereitung der Proteinsekretion zu gewährleisten, daß nur korrekt gefaltete Proteine freigegeben und alle fehlerhaften zurückgehalten werden.

Seither hat man noch mehr Gene für Proteine gleich dem hsp70 und BiP gefunden – eine regelrechte Proteinfamilie. Deren Mitgliedern sind bestimmte Eigenschaften gemein, so eine starke Affinität zu Adenosintriphosphat (ATP), das im Zellstoffwechsel als Energieträger fungiert. Mit einer Ausnahme kommen sie alle auch unter regulären Wachstumsbedingungen vor; doch bei Stoffwechselstress produzieren die Zellen sie in viel größerer Menge. Wie BiP steuern auch die anderen die Reifung von zellulären Proteinen. Diejenigen dieser Moleküle, die außerhalb des Zellkerns – im Cytoplasma – wirken, kümmern sich beispielsweise um diverse Proteine, die gerade an Ribosomen zusammengebaut werden (Bild 5).

Solange die Zellen wohlauf sind, hält der Kontakt der unreifen Proteine mit dem hsp70-Partner nur kurze Zeit an und hängt vom ATP-Angebot ab (bei ATP-Gabe wird die Bindung wieder gelöst – ein Zeichen, daß ein energieabhängiger Prozeß abläuft). In Stress-Situationen dagegen, die eine normale Reifung von neuen Proteinen erschweren, bleiben die beteiligten Moleküle fest aneinander gebunden.

Die Hilfe der hsp70-Familie bei der frühen Proteinreifung hat eine Parallele in einer anderen Familie von Stress-Proteinen. Wegweisenden Arbeiten etwa von Costa Georgopoulos von der Universität von Utah in Salt Lake City zufolge können in Bakterien, bei denen die Gene für die beiden verwandten Stress-Proteine groEL und groES mutiert sind, bestimmte kleine Viren sich nicht mehr vermehren: Die Zellmaschinerie, auf welche die Viren angewiesen sind, fügt dann viele der viralen Proteine nicht mehr korrekt zusammen.

Ähnliche Stress-Proteine wie groEL und groES wurden mittlerweile in Pflanzen, Hefepilzen und tierischen Zellen gefunden und hsp10 beziehungsweise hsp60 genannt. Sie waren jeweils nur in Mitochondrien – den Kraftwerken von Zellen – nachzuweisen oder in Chloroplasten, in denen bei Pflanzen die Photosynthese stattfindet (Bild 5). In anderen Zellkompartimenten scheinen aber nach neueren Befunden weitere Formen vorzukommen.

Hsp10 und hsp60 sind, wie man inzwischen weiß, für die Faltung und den Zusammenbau von Proteinen unerläßlich. Hsp60 besteht aus zwei siebenteiligen, übereinanderliegenden Ringen. Das Molekül ist sozusagen eine Werkbank, auf die sich noch ungefaltete Proteine heften, um ihre dreidimensionale Struktur zu erhalten.

Nach derzeitigen Vorstellungen ist der Ablauf außerordentlich dynamisch. Mehrfach wird die Bindung gelöst und wieder neu geknüpft. Jeder dieser Schritte verbraucht Energie, die durch enzymatische Spaltung von ATP bereitgestellt wird, und erfordert die Mitarbeit der kleinen hsp10-Moleküle. Dabei ändert das reifende Protein Zug um Zug seine Konformation, bis es korrekt und stabil gefaltet ist.

Vermutlich arbeiten die hsp60- und die hsp70-Moleküle bei der Proteinherstellung zusammen. Der eben an einem Ribosom entstehende Aminosäurestrang könnte sich gleich im freien Cytoplasma oder in einem der Zellkompartimente an hsp70 binden. Dies würde verhindern, daß er sich vorzeitig faltet, während er an einem Ende noch wächst (Bild 5, links oben). Wenn er fertig ist, so die Modellvorstellung, bliebe er zunächst an hsp70 gebunden und würde nun an spezifisches hsp60 überführt. In diesem Verband begänne dann die Faltung des Proteins beziehungsweise auch sein Zusammenbau mit anderen Komponenten.

Chaperonine

Diese Befunde und Ideen gaben Anlaß, frühere Modelle der Proteinfaltung neu zu überdenken.

In den fünfziger und sechziger Jahren hatte sich herausgestellt, daß denaturierte Proteine sich spontan wieder richtig zusammenfalten können, sobald man das denaturierende Agens entfernt. So entstand das Konzept, daß Proteine ihre Konfiguration selbst organisieren; dafür erhielt der amerikanische Biochemiker Christian B. Anfinsen 1972 den Nobelpreis für Chemie. Demnach wird der Faltungsprozeß allein durch die Abfol- ge der Aminosäuren im Polypeptid bestimmt: Hydrophobe – wasserunlösliche – Aminosäuren sollten sich beim Aufknäulen nach innen drängen, hydrophile – wasserlösliche – nach außen, zum wäßrigen Milieu in der Zelle hin. Die Faltung würde mithin allein thermodynamischen Zwängen folgen (siehe auch „Die Faltung von Proteinmolekülen“ von Frederic M. Richards, Spektrum der Wissenschaft, März 1991, Seite 72).

Auch nach heutigem Wissen erlangen Proteine ihre endgültige Konformation zwar vor allem aus eigener Kraft. Zusätzlich aber, so vermuten viele Forscher, müssen weitere Agentien in der Zelle dabei unterstützend mitwirken, darunter die Mitglieder der hsp60- und hsp70-Familien der Stress-Proteine.

R. John Ellis von der Universität von Warwick in Coventry (England) und andere haben dafür den Begriff Chaperonine (sozusagen molekulare Behüter nach dem veralteten Wort Chaperone für Anstandsdame) eingeführt. Obgleich die Stress-Proteine keine Information für den Zusammenbau und die Faltung von anderen Proteinen übermitteln, stellen sie sicher, daß diese Vorgänge schnell und sehr präzise ablaufen: Sie sind förderlich, indem sie vor falschen Entscheidungen bewahren.

Dies scheint ihre normale Funktion zu sein. Warum aber stellen gestresste Zellen solche Chaperonine vermehrt her? Vielleicht erklärt sich dies wiederum aus der Stress-Situation selbst. Weil Temperaturen, die in der Zelle eine Stress-Antwort auslösen, auch Proteine denaturieren können, wären diese dann – wie noch ungefaltete neue Proteine – Bindungsziel für hsp70 und hsp60. Nach einiger Zeit dürften die meisten der vorhandenen Chaperonine für solche Bindungen beansprucht sein; sie fehlen nun der Zelle für die weitere Proteinsynthese. Diese erkennt offenbar den Engpaß und erhöht die Chaperonin-Produktion.

Man vermutet, daß die Zelle auch mehr Stress-Proteine braucht, um sich von einem Stoffwechselschock zu erholen. Sie muß dann Proteine, die durch Hitze oder andere Einwirkungen irreparabel geschädigt wurden, ersetzen. Produziert sie mehr Chaperonine, kann sie rascher regenerieren. Zudem vermag ein größeres Angebot an Stress-Proteinen eine weitere Zerstörung von Proteinen zu unterbinden oder wenigstens wesentlich einzuschränken.

Die Funktionen von hsp90

Moleküle dieser Klasse wirken aber noch bei anderen grundlegenden Prozessen mit. So erregte die hsp90 genannte Familie Aufmerksamkeit, als Berichte über einen Zusammenhang mit bestimmten krebsauslösenden Viren erschienen.

In den späten siebziger und frühen achtziger Jahren hatte die Krebsforschung sich verstärkt den Mechanismen zugewandt, nach denen solche Viren Zellen infizieren und sie entarten lassen. Beim Rous-Sarkom-Virus war ein Gen gefunden worden, das bei Geflügel Krebs erzeugt. Das von ihm codierte Enzym, pp60src, wirkt auf andere Proteine, die vermutlich das Zellwachstum regulieren. Unabhängig voneinander stellten drei Arbeitsgruppen fest, daß dieses Enzym sich nach seiner Fertigstellung im Cytoplasma rasch mit zwei anderen Proteinen zusammenfügt; das eine heißt p50, das andere ist hsp90.

Solange diese Dreierbindung besteht, ist pp60src enzymatisch nicht aktiv. Gelangt das Konglomerat jedoch zur Plasmamembran (der äußeren Zellmembran), koppeln die beiden Begleiter ab. Das pp60src kann sich nun in der Membran verankern und wird aktiv.

Man kennt inzwischen den gleichen Vorgang – stets mit Beteiligung der beiden zusätzlichen Komponenten – von krebsauslösenden Enzymen verschiedener anderer Tumorviren. In Begleitung dieser beiden Moleküle scheinen sie nicht an den entscheidenden Stellen in der Zelle wirksam werden zu können, von denen die Entartung ausgeht.

Nach anderen Untersuchungen ist hsp90 auch wichtig für die Wirksamkeit von Steroidhormonen. Sie haben bei Tieren vielfältige lebenswichtige Aufgaben. Die Glucocorticoide etwa helfen unter anderem Entzündungen unterdrücken; andere sind für die Geschlechtsdifferenzierung und die Sexualentwicklung maßgeblich. Wenn solche Hormone an oder in ihre Zielzellen gelangen, binden sie sich an spezifische Rezeptorproteine, die daraufhin die DNA veranlassen, die Expression bestimmter Gene anzukurbeln oder zu stoppen.

Lange wußte man nicht, wie Steroidhormon-Rezeptoren inaktiv gehalten werden, solange ihre Hormone nicht vorhanden sind. Dies wurde erst klar, als man sowohl die aktive als auch die inaktive Form des Rezeptors für das Hormon Progesteron charakterisierte: Befindet sich in der Zelle kein Progesteron, bindet sein Rezeptor sich an verschiedene zelluläre Proteine, darunter auch hsp90, die ihn inaktiv halten; erst wenn sich ein Hormonmolekül anlagert, löst das hsp90 sich ab, und der Rezeptor kann die nötigen Schritte durchmachen, um mit der DNA in Kontakt zu treten. Somit dürfte hsp90 außer der Aktivität von viralen Enzymen auch die von Steroidhormon-Rezeptoren steuern (Bild 6).

Medizinische Nutzanwendungen

Inzwischen zeichnen sich bereits praktische Anwendungen der zellulären Stress-Antwort ab. Besonders die Medizin könnte daraus Nutzen ziehen.

Bei einem Infarkt oder Schlaganfall werden Herz beziehungsweise Gehirn zeitweise nur mangelhaft mit Blut versorgt. Dadurch fehlt es an Sauerstoff und lebenswichtigem ATP für Stoffwechselprozesse. Doch auch die Reaktionen des Organismus, die eine Normalisierung gewährleisten sollen, können für die Zellen schädlich sein: Bei neuerlicher Durchblutung bilden sich durch das plötzlich erhöhte Sauerstoffangebot freie Radikale – hochreaktive Verbindungen, die ihrerseits die Zerstörung fortsetzen.

Die Induktion der Stress-Antwort in solchen Fällen hat man bei Tieren beobachtet. Dafür wurde die Blutversorgung von Herz oder Gehirn vorübergehend kurz unterbunden. Wie stark daraufhin die Stress-Reaktion ausfällt, scheint direkt mit dem Ausmaß der Schädigung zu korrelieren. Kliniker untersuchen jetzt, ob sich umgekehrt aus den jeweiligen Mengen von Stress-Proteinen bei Patienten auf die Schwere eines Infarkts oder Schlaganfalls schließen läßt.

Zellen, die Stress-Proteine in größerer Menge bilden, scheinen besser gegen Sauerstoffmangel gewappnet zu sein. Könnte man deren Produktion medikamentös erhöhen, böte dies vielleicht zusätzlichen Schutz zum Beispiel bei operativen Eingriffen oder bei Transplantationen, wenn Gewebe oder Organe isoliert und dann wieder an den Kreislauf angeschlossen werden müssen.

Faszinierende Entwicklungen zeichnen sich des weiteren für die Immunologie und die Bekämpfung von Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Malaria, Lepra oder Schistosomiasis ab, an denen Jahr für Jahr Millionen von Menschen erkranken. Es hat sich nämlich herausgestellt, daß die hauptsächlichen Antigene, an denen das Immunsystem die auslösenden Mikroorganismen erkennt und die es nutzt, um gegen sie vorzugehen, vielfach Stress-Proteine sind. Möglicherweise gibt unser Immunsystem ununterbrochen auf fremde Moleküle dieser Art acht. Das würde aber auch bedeuten, daß man sie gentechnisch gezielt als Impfstoffe herstellen könnte. Auch sollten sie sich unterstützend – gekoppelt an virale Proteine – verabreichen lassen, um die Abwehrkräfte gegen Virusinfektionen anzuregen.

Sogar zwischen Autoimmunerkrankungen und Stressproteinen meint man einen Zusammenhang entdeckt zu haben. Bei den meisten dieser Leiden wendet sich die körpereigene Abwehr gegen gesundes Gewebe. In einigen Fällen war zu beobachten, daß der Organismus Antikörper gegen eigene Stress-Proteine bildet, als wären es fremde Antigene, so bei rheumatoider Arthritis, der Bechterew-Krankheit (einer Wirbelsäulenversteifung) und dem systemischen Lupus erythematodes, bei dem unter anderem Blutzellen betroffen sind und Gefäßentzündungen charakteristische Veränderungen von Haut, Gelenken und inneren Organen zur Folge haben. Sollte sich herausstellen, daß diese Reaktion bei vielen der Betroffenen vorkommt, wäre das nicht nur für die Diagnose, sondern auch für die Entwicklung von Therapien hilfreich.

Wegen der hochgradigen strukturellen Ähnlichkeit von mikrobiellen und menschlichen Stress-Proteinen könnte das Immunsystem permanent gezwungen sein, noch geringste Unterschiede zwischen körpereigenen und fremden zu bemerken. Die Möglichkeit, daß solche Moleküle in einzigartiger Weise gerade in den Grenzbereich fallen, wo die Toleranz gegen Krankheitskeime aufhört und gegen körpereigene Antigene anfängt oder umgekehrt im Krankheitsfall die Aggression gegen Erreger nicht ausreicht beziehungsweise die gegen eigenes Gewebe überschießt, wird zur Zeit intensiv diskutiert.

Hilfreich für die ärztliche Diagnose wäre der Nachweis von Antikörpern gegen Stress-Proteine wie die von Chlamydia trachomatis. Dieser Mikroorganismus verursacht unter anderem die Ägyptische Augenkrankheit, die weltweit häufigste Ursache von Blindheit durch eine Infektion, und eine Geschlechtskrankheit mit Entzündungen und Vernarbungen im Beckenbereich, auf die in vielen Fällen die Unfruchtbarkeit von Frauen zurückzuführen ist. Zwar produziert der befallene Organismus gegen Antigene des Erregers Antikörper, so auch gegen Stress-Proteine, und häufig vermag diese Immunreaktion die Chlamydien schließlich abzutöten; bei manchen Betroffenen aber – vor allem, wenn sie sich wiederholt angesteckt haben oder chronisch infiziert sind – reagiert die Abwehr zu heftig, so daß sich auch umliegende Gewebe entzünden.

Nach einer Erhebung von Richard S. Stephens und seinen Kollegen an der Universität von Kalifornien in San Francisco haben mehr als 30 Prozent der Patientinnen mit solchen Entzündungen im Unterbauch außergewöhnlich viele Antikörper gegen das Stress-Protein groEL von Chlamydien; bei denen mit einer Bauchhöhlenschwangerschaft sind es sogar mehr als 80 Prozent. Durch Bestimmen der Antikörper-Titer sollte sich feststellen lassen, ob eine Frau in diese Risikogruppe gehört.

Noch mehr ist von neuen Entdeckungen zu erwarten, die einen weiteren Zusammenhang zwischen Stress-Proteinen, Immunantwort und Autoimmunkrankheiten aufzeigen. Einige Mitglieder der hsp70-Familie sind nämlich in ihrer Struktur und Funktionsweise den Histokompatibilitäts-Antigenen ( kurz H-Antigenen) bemerkenswert ähnlich. Das sind Proteine auf der Zelloberfläche, die in sehr frühen Stadien der Immunantwort mitwirken, indem sie den Immunzellen Antigene präsentieren; sie dienen bei Transplantationen dazu, die Gewebeverträglichkeit (Histokompatibilität) des Transplantats zu prüfen.

Lange war rätselhaft, wie ein solches Protein verschiedenartigste Antigene anzulagern vermag. Vor einigen Jahren aber klärten Don C. Wiley und seine Kollegen an der Harvard-Universität die dreidimensionale Struktur der H-Proteine der Klasse I auf. Diese Moleküle haben eine Tasche, auf deren Grund sie Peptide binden können (Spektrum der Wissenschaft, Januar 1990, Seite 82). Zur gleichen Zeit berichtete James E. Rothman, der damals an der Universität Princeton (New Jersey) tätig war, daß Stress-Proteine der Familie hsp70 ebenfalls an kleinere Peptide ankoppeln können – was dazu paßt, daß sie mit ungefalteten oder neu synthetisierten Polypeptidketten an bestimmten Stellen Bindungen einzugehen vermögen.

Computermodelle zeigten, daß die Peptid-Bindungsstelle von hsp70 wohl der von H-Antigenen der Klasse I analog ist. Die Ähnlichkeit ist um so interessanter, als manche der für hsp70 codierenden Gene sehr dicht bei denen der H-Proteine liegen. Dies stützt die Vorstellung von Stress-Proteinen als integralen Komponenten des Immunsystems.

Eine Manipulation der Stress-Antwort könnte auch in der Krebstherapie Anwendung finden. Viele Tumoren sind gegen Hitze empfindlicher als gesundes Gewebe. Noch ist die Methode, bösartige Geschwülste durch Überwärmung zu zerstören, im Experimentierstadium. Doch erste Versuche haben gezeigt, daß eine lokale Hitzebehandlung – unter Umständen mit Bestrahlung oder anderen konventionellen Therapien kombiniert – bei bestimmten Tumoren eine Rückbildung bewirkt.

Allerdings ist die Stress-Antwort bei Krebszellen keineswegs wünschenswert. Wenn dieser zelleigene Schutzmechanismus nämlich gegen gewollte Therapieschäden wirksam wird, macht dies den Tumor unter Umständen gegen eine weitere Behandlung widerstandsfähiger. Man müßte vielmehr selektiv die Stress-Antwort der Krebszellen blockieren, so daß sie sich gegen den medizinischen Angriff nicht mehr wehren können.

Gentechnisch hergestellte Detektive

Ebenfalls erst im Frühstadium sind Untersuchungen, ob die Stress-Antwort sich für die Toxikologie nutzen ließe. Veränderte Mengen an Stress-Proteinen – speziell solcher, die ausschließlich in angegriffenen Zellen vorkommen – erlauben möglicherweise Aussagen über die Giftigkeit etwa von Pharmaka, Kosmetika oder Lebensmittelzusätzen. Einige Erfolge zeichnen sich bereits ab.

Gentechnisch wurden Zell-Linien gezüchtet, die Stress und mithin biologische Risiken besonders gut anzeigen. Die DNA-Sequenzen, welche die Aktivität der für Stress-Proteine codierenden Gene steuern, werden mit einem Gen für ein Enzym gekoppelt, das als Indikator fungiert – etwa b-Galaktosidase. Unter Belastung bilden die Zellen dann außer Stress-Proteinen auch diesen sogenannten Reporter, der sich mit verschiedenen Verfahren leicht nachweisen läßt. Zum Beispiel verfärben die Zellen sich bei Zugabe eines bestimmten Stoffes blau, und die Farbintensität ist der Enzymkonzentration und damit der Menge an Stress-Proteinen direkt proportional. Auf solche Weise ließe sich mit wenig Aufwand erkennen, wie stark Kulturen von Zellen auf Chemikalien oder andere Einflüsse reagieren. Tierversuche zur Toxizitätsprüfung könnte man dann einschränken oder ganz absetzen.

Des weiteren böten sich solche Techniken dafür an, den Eintrag von Umweltschadstoffen zu überwachen, von denen viele eine Stress-Antwort auslösen. Auch zu diesem Zweck entwickelt man genetisch veränderte Reporter-Organismen. Eve G. Stringham und E. Peter M. Candido von der Universität von British Columbia in Vancouver (Kanada) haben – zusammen mit der Firma Stressgen Biotechnologies im benachbarten Victoria – Würmern ein Reporter-Gen für b-Galaktosidase übertragen, das von dem Promotor für ein Hitzeschock-Protein kontrolliert wird. (Von der Promotorregion auf der DNA her wird die Gentranskription gesteuert.) Bei Kontakt mit zahlreichen Umweltgiften bilden die Würmer das Reporter-Enzym und werden blau (Bild 1). Gegenwärtig prüft Candidos Arbeitsgruppe die Bandbreite der Reaktion auf mögliche Anwendungen hin.

Voellmy und Nicole Bournias-Vardiabasis, die damals am Nationalen Medizinischen Zentrum „City of Hope“ im kalifornischen Duarte arbeitete, entwickelten mit einem ähnlichen Ansatz eine Linie transgener Taufliegen. In diesem Falle werden die Insekten blau, wenn sie mit Substanzen in Berührung kommen, die für die Keimesentwicklung gefährlich sind. Sie reagieren auf viele der Stoffe, die beim Menschen Mißbildungen hervorrufen. Somit eröffnen sich neue Möglichkeiten, für Umweltschutz und Schadstoffprüfungen nicht nur einzelne Zellen, sondern sogar vielzellige Organismen als Stress-Anzeiger heranzuzüchten.

Vor rund 30 Jahren hielten viele das Phänomen Hitzeschock- oder Stress-Antwort allenfalls für eine molekulare Eigenheit von Taufliegen. Mittlerweile beschäftigen sich maßgebliche Forschungszweige intensiv und sehr erfolgreich damit. Aber trotz aller Erkenntnisse haben wir nach meiner Einschätzung die Tragweite des Stress-Mechanismus in Zellen, der so alt ist wie das Leben, erst ansatzweise begriffen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1993, Seite 40
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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