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Wörter aus der Steinzeit - Völker aus dem Nichts

Neuerliche Versuche, durch Rekonstruktion von Sprachstammbäumen auf Herkunft und Kulturgeschichte von Völkern rückzuschließen, unterschätzen die Komplexität der Entwicklung von Sprachen.

Die vergleichende Sprachwissenschaft und besonders einer ihrer Teilbereiche, nämlich die Indogermanistik, scheinen sich nach einer längeren Phase praktisch gänzlichen öffentlichen Desinteresses auf einmal neuer Popularität zu erfreuen; so wurden in dieser Zeitschrift in den letzten vier Jahren nicht weniger als fünf Artikel veröffentlicht, in denen die Autoren Sprachwissenschaft und Vor- und Frühgeschichte zu verbinden suchen: „Der Ursprung der indoeuropäischen Sprachfamilie“ von Colin Renfrew (Dezember 1989, Seite 114), „Die Frühgeschichte der indoeuropäischen Sprachen“ von Thomas W. Gramkrelidse und Wjatscheslaw W. Iwanow (Mai 1990, Seite 130), „Streit um Wörter“ von Philip E. Ross (Juni 1991, Seite 92), „Frühe Landwirtschaft und die Ausbreitung des Austronesischen“ von Peter Bellwood (September 1991, Seite 106) und „Stammbäume von Völkern und Sprachen“ von Luigi L. Cavalli-Sforza (Januar 1992, Seite 90).

Dabei wird wieder einmal versucht, die Indogermanen historisch faßbar werden zu lassen, sie womöglich archäologisch zu identifizieren und eine eindeutige Zuordnung zwischen Sprache, Kultur und Population (in biologischem Sinne) zu schaffen. Urheimat und Wanderbewegungen werden rekonstruiert, und zwar nicht nur der Indogermanen, sondern sogar – wenn man das Nostratische und andere Megafamilien einbezieht – der ganzen Menschheit.

Das sind große und lohnende Aufgaben. Käme man zu allgemein akzeptierten Ergebnissen, hätten sie gute Chancen, zu Schulbuchwissen zu avancieren. Freilich entsteht der Eindruck, in der allgemeinen Euphorie kämen die Sprachwissenschaftler, die Philip E. Ross etwas abfällig „Traditionalisten“ nennt, wenig zu Wort; und tatsächlich haben sie keine solch sensationellen Resultate zu bieten, sondern nur einige Bedenken, Warnungen und methodischen Vorbehalte. Diese sollten aber trotzdem nicht verschwiegen werden.

Fragwürdiger Schluß vom Wortschatz auf die Lebensverhältnisse

Der erste Vorbehalt betrifft den Rückschluß vom Wortschatz auf die materielle Kultur einer Sprachgemeinschaft. Der Schluß „Es gibt ein gemeinindogermanisches, das heißt in allen oder den meisten indogermanischen Sprachen auf eine Grundform rückführbares Wort für X, also kannten die Indogermanen dieses X, und wenn wir sie archäologisch dingfest machen wollen, müssen wir nach einer Kultur Ausschau halten, die über dieses X verfügte“ scheint von zwingender Logik. Und wirklich wurde versucht, die Urheimat der Indogermanen mit Hilfe des indogermanischen Wortschatzes zu bestimmen.

Berühmt geworden ist das Buchen-Argument: Da das Wort für Buche (botanischer, aus dem Latein genommener Gattungsname Fagus) in vielen indogermanischen Sprachen etymologisch identisch ist, die lautlichen Unterschiede also regulär sind, lebten die Urindogermanen demnach offenbar in einer Gegend, wo Buchen wuchsen – und wo das ist, darüber können die Paläobotaniker Auskunft gegeben. Ähnlich wurde mit dem Wort für Lachs (zoologischer Artname Salmo salar) argumentiert.

Allerdings liegen die Dinge nicht ganz so einfach. Bereits das Griechische verursacht im Falle von „Buche“ Probleme, da das etymologisch passende Wort phegós „Eiche“ bedeutet. Welche Bedeutung ist nun die ursprüngliche? Ist die Frage überhaupt sinnvoll? Wäre es nicht sogar möglich, daß das indogermanische Wort ganz unspezifisch „Laubbaum mit dieser oder jener Eigenschaft“ bedeutet, also gleichermaßen auf Eiche und Buche angewendet werden konnte? Die botanischen Systematiker haben mittlerweile sieben Gattungen zweikeimblättriger Holzgewächse zur Familie der Buchengewächse (Fagaceae) zusammengefaßt; die Buchen gehören selbstverständlich dazu, desgleichen die rund 500 Arten von Eichen (Gattungsname Quercus), des weiteren aber beispielsweise auch die Edelkastanie (Castanea sativa).

Es ist eine altbekannte Tatsache, daß die Sprache oft die für einen Naturwissenschaftler wünschenswerte Differenziertheit vermissen läßt und darum nicht ohne weiteres mit der wissenschaftlichen Nomenklatur verrechenbar ist. Häufig werden unterschiedliche Tier- oder Pflanzenarten mit demselben Wort bezeichnet, oder die Namen sind irreführend. So ist mit „Butterpilz“ zwar immer ein eßbarer Röhrling gemeint, aber keineswegs in allen Gegenden Deutschlands der gleiche; der Buchweizen ist kein Weizen, sondern ein Knöterichgewächs, und der Beutelwolf kein Wolf. Wollten wir also über Tier- und Pflanzenhabitate die Frage nach der Urheimat beantworten, so müßten wir sicher sein können, daß zum Beispiel im Falle des Lachs-Arguments das zugrundeliegende indogermanische Wort tatsächlich „Salmo salar“ bedeutete und nicht etwa „Lachsforelle“, „eßbarer Fisch“, „Flußfisch“, „Fisch mit rosa Fleisch“ oder dergleichen. Ich sehe nicht, woher wir diese Sicherheit nehmen sollten.

Wie sieht es nun mit dem kulturellen Wortschatz aus? Können wir wenigstens zum Beispiel aus der Tatsache, daß es gemeinsame indogermanische Wörter für „Joch“ und „Pferd“ gibt, herleiten, daß die Indogermanen über Pferde als Zugtiere verfügten?

Betrachten wir dazu die romanischen Sprachen, die in derselben Weise vom Lateinischen abstammen wie die indogermanischen von dem, was wir „indogermanisch“ nennen. Sie geben also ein ausgezeichnetes Modell ab, an dem sich die Zuverlässigkeit der Rekonstruktionsmethoden überprüfen läßt, weil das Lateinische in üppiger Bezeugung vorliegt. Wollte man nun aus dem gemeinromanischen Wortschatz auf die römische Kultur schließen, so ergäbe sich, daß Rom von Königen beherrscht wurde, daß es Bischöfe gab, daß Kaffee und Tabak in Bars konsumiert wurden und das Wort für Feuer focus lautete (statt in Wahrheit ignis).

Noch skurriler wird es, wenn man aus dem Fehlen eines Wortes für Y ableitet, daß die entsprechende Kultur kein Y kannte. Zum Beispiel gibt es kein gemeinromanisches Wort für „Kopf“ (italienisch testa, aber spanisch cabeza). Sollten wir dem entnehmen, daß die Römer kein Wort für Kopf (wie wir wissen, lautet es caput), ja vielleicht überhaupt keine Köpfe hatten?

Und doch werden etwa aus dem Vorhanden- oder Nichtvorhandensein von gemeinsamen Bezeichnungen für bestimmte Metalle genau diese Schlüsse gezogen. Ernst Pulgram, Professor für Romanische Sprachwissenschaft an der Universität von Michigan in Ann Arbor, hat kritische Überlegungen dazu bereits im Jahre 1958 vorgebracht. Er sieht den Kardinalfehler darin, daß unzulässigerweise „gemeinindogermanische Wörter mit urindogermanischen Wörtern gleichgesetzt“ werden.

Probleme bei der Rekonstruktion von Ursprachen

Der Erkenntnisweg vom Wortschatz zur Kultur ist also voller Fallen. Um den Grund zu verstehen, muß man sich darüber klar werden, welche Art von Realität den rekonstruierten Formen zuzusprechen ist.

Die Meinungen darüber gehen auseinander. Der Optimismus des in Prag und Jena lehrenden Stammbaumtheoretikers August Schleicher (1821 bis 1868), der gleich eine ganze Fabel auf Indogermanisch verfaßte, ist heute zwar nicht mehr konsensfähig. Aber ebenso übertrieben mag umgekehrt auch die Zurückhaltung des französischen Indogermanisten Antoine Meillet (1866 bis 1936) gewesen sein, der meinte, nicht eine „Wiederherstellung des Indogermanischen als gesprochene Sprache“, sondern nur ein „Entsprechungssystem“ sei zu erreichen. Wenn wir das Indogermanische als Sprache ernst nehmen wollen, müssen wir ihm jedenfalls zugestehen, was alle Sprachen haben: Lehnwörter aus anderen Sprachen, Unregelmäßigkeiten als fossile Überreste längst nicht mehr wirksamer Regeln, lokale Varianten und Archaismen neben Innovationen. Was wir nicht erwarten sollten, ist Homogenität – die könnte eine Rekonstruktion auch gar nicht leisten.

Calvert Watkins von der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) hat das so ausgedrückt: „Die Grammatik einer rekonstruierten Sprache kann nie synchron sein. Sie kann nicht den état de langue“ – den Zustand – „an einem bestimmten Punkt in Zeit und Raum beschreiben. Wir können zwar für einzelne Erscheinungen eine relative Chronologie aufstellen, aber das Bild eines kompletten Sprachsystems zusammenzufügen liegt außerhalb unserer Möglichkeiten.“ Das heißt: Ob die Erscheinung Q, die wir durch vergleichende Rekonstruktion gewonnen haben, im Rahmen des Indogermanischen ein Archaismus oder eine Innovation war, ist schwierig zu bestimmen, ob eine lokale Variante oder ein Lehnwort, oft unmöglich herauszufinden.

Ursprünglich aus anderen Sprachen übernommen (oft, aber durchaus nicht immer zusammen mit dem Gegenstand, den sie bezeichnen), gliedern sich Lehnwörter im Laufe der Zeit immer besser in die Nehmersprache ein, nehmen an Lautveränderungen teil und sind schließlich vielfach nicht mehr als Fremdwörter kenntlich. So ist zum Beispiel jedem klar, daß „Rhythmus“ kein genuin deutsches Wort ist; daß aber „Bauer“ ein germanisches Erbwort, „Mauer“ hingegen eine Entlehnung aus dem Lateinischen ist, läßt sich aus dem Sprachgefühl heraus nicht mehr erkennen.

Die Konsequenzen für das Indogermanische formulierte der in Wien und Würzburg lehrende Indogermanist und Hethitologe Heinz Kronasser (1913 bis 1968) so: „Für die Zeitspanne, die zwischen Beginn der Grundsprache und den belegten Einzelsprachen liegt, sind wir nicht in der Lage, zwischen Erb- und Lehnwörtern zu unterscheiden; zwischen Erb- und Lehnwort liegt nur ein chronologischer Unterschied.“ Das heißt etwa im Falle von „Joch“ (althochdeutsch joh, gotisch juk, englisch yoke, schwedisch ok, altindisch yugám, griechisch zygón, lateinisch iugum): Wir enden zwar bei einem gemeinindogermanischen Wort (*yugom – das Sternchen weist darauf hin, daß es erschlossen, also nicht belegt ist); ob dieses aber wiederum ererbt oder aus einem anderen Idiom übernommen worden ist, können wir nicht sagen – und erst recht nicht, wann. Und ebensowenig wie wir bei einer archäologisch bezeugten Kultur mit Joch völlig sicher sein können, hier nun endlich die Indogermanen vor uns zu haben, vermögen wir bei einer jochlosen Kultur Indogermanen auszuschließen: Es könnte sich ja um Indogermanen vor Übernahme des Wortes und der Sache „Joch“ aus einer verschollenen Sprache und Kultur handeln. In Anbetracht dieser Überlegungen scheint es problematisch, aus rekonstruiertem Vokubular weitreichende Schlüsse auf seine eventuellen Benutzer zu ziehen.

Fallen beim Aufstellen von Sprachbäumen

Ein zweiter Vorbehalt betrifft das Erstellen von Sprachbäumen und die versuchte Parallelisierung mit der Stammesgeschichte des Menschen. Wenn wir sagen, daß die indogermanischen Sprachen vom Indogermanischen „abstammen“, dann deshalb, weil diese Sprachen nicht nur im Wortschatz, sondern vor allem in den Ausdrucksmitteln der Grammatik, der Form- und Stammbildung (die wir in Anlehnung an den Sprachgebrauch der Biologie „Morphologie“ nennen) systematische Übereinstimmungen aufweisen, die nicht auf Zufall beruhen können. Grammatikalische Übereinstimmungen sind dabei besonders wichtig, weil Formbildungselemente wesentlich schwerer von einer Sprache in eine andere wandern können als ganze Wörter – sie haben keine eigene Bedeutung und sind fest im Kategoriensystem der jeweiligen Sprache verankert, wogegen Wörter geradezu von einer Sprache zur anderen springen und bisweilen auch wieder zurück.

Darum sind auch die angeblich 1600 nostratischen Wurzeln des Indogermanischen zwar geeignet, Sprachkontakte plausibel zu machen, nicht aber, Urverwandtschaft zu beweisen – es sei denn, es ließe sich zeigen, daß bestimmte Teile des Wortschatzes grundsätzlich nicht entlehnt werden. Der russische Linguist Sergej Starostin allerdings behauptet das tatsächlich, wie im Artikel von Philip E. Ross zitiert: „Es ist bekannt, daß Völker Dinge und mit ihnen die Wörter, die sie bezeichnen, entlehnen – aber nicht einen Begriff wie Hand. Das kommt nicht vor.“

Doch diese Grundannahme ist unhaltbar: Unser deutsches Wort „Kopf“ beispielsweise geht auf das lateinische cuppa zurück, dessen ursprüngliche Bedeutung noch im englischen cup durchschimmert, das eine Vielzahl schalen-, becher- oder kelchförmiger Gegenstände bezeichnet. Ob cuppa zum Zeitpunkt seiner Entlehnung bereits umgangssprachlich für „Kopf“ gebraucht werden konnte (so wie testa, das ja auch eigentlich „Schüssel“ hieß) oder ob dieser Bedeutungswechsel erst im Deutschen stattfand, ist dabei unerheblich – es bleibt eine Tatsache, daß „Kopf“ ein Lehnwort ist und das echte Erbwort „Haupt“ praktisch ersetzt hat. Starostin unterschätzt die vielfältigen Möglichkeiten semantischen Wandels. Wortgleichungen sind und bleiben schlechte Argumente, die nicht dadurch besser werden, daß es viele sind. Die Frage „Nachbarn oder Verwandte?“ läßt sich so nicht entscheiden.

Als Schleicher es als erster unternahm, über bloße Sprachvergleiche hinaus die Protosprache zu rekonstruieren und einen Stammbaum der indogermanischen Sprachen zu erstellen (Bild 1), war dies eine Frucht seiner Auseinandersetzung mit den Werken Charles Darwins (1809 bis 1882): Schon 1863, vier Jahre nach der Erstpublikation von „Origin of Species“, erschien in Weimar seine Abhandlung „Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft“. Was liegt also näher, als die Stammbäume, die Sprachwissenschaft und Paläoanthropologie liefern, zu vergleichen und den einen zur Ergänzung des anderen heranzuziehen?

Bei aller Analogie zur Biologie darf jedoch nicht übersehen werden, daß das Stammbaummodell die Ausdifferenzierung von Sprachen in mancher Hinsicht keineswegs so adäquat zu beschreiben vermag wie die von Lebewesen. Das liegt unter anderem daran, daß es sich bei biologischen Arten um abgeschlossene, wohldefiniert diskrete Einheiten handelt, zwischen denen in der Regel keine gemeinsamen fortpflanzungsfähigen Nachkommen gezeugt werden können; Gene der Art A können also nicht mehr in den Genpool der Art B gelangen. Die Sprachwissenschaftler müssen hingegen ohne so klar differenzierte Untersuchungsobjekte auskommen: Sprache und Dialekt lassen sich kaum sauber abgrenzen; und es ist ohne weiteres möglich, daß Sprache A selbst dann, wenn sie nur sehr entfernt oder gar nicht mit Sprache B verwandt ist, diese dennoch beeinflußt. Man denke nur an die französischen Wörter im Deutschen oder die Sanskrit-Wörter im Englischen.

Aber auch im morphologischen Bereich gibt es Beispiele: So läßt sich zeigen, daß manche slawischen Sprachen unter dem Einfluß des Griechischen den Infinitiv aufgegeben haben. (Auf Neugriechisch sagt man, anders als auf Altgriechisch, nicht „ich will kaufen“ mit Infinitiv, sondern etwa „ich will, daß ich kaufe“.) Wörter wie „Elektroenzephalogramm“ oder „Omnibus“ sind sogar längst nach dem Aussterben des Altgriechischen und Lateinischen ins Deutsche gelangt – man versuche einmal, sich einen analogen Vorgang in der Biologie vorzustellen!

Wenn Cavalli-Sforza durchaus zu Recht ein „plausibles Konzept von einem Stammbaum“ in der Grundannahme findet, die genetische Distanz zweier Populationen verhalte sich proportional zur Dauer ihrer Trennung, so ist dies also auf Sprachen nicht ohne weiteres übertragbar. Die These, Sprachen seien um so unterschiedlicher, je länger der Zeitpunkt der Abspaltung vom gemeinsamen Vorfahren zurückliege, trifft zum Beispiel im Falle des Englischen und Französischen nicht zu: Altfranzösisch und Alt-englisch weisen gewiß weniger Gemeinsamkeiten auf als ihre heutigen Nachkommen; der Grund dieser Umkehr einer für natürlich gehaltenen Entwicklung ist historischer Art und exakt zu datieren – auf das Jahr 1066, als der normannische Bastard Wilhelm der Eroberer (1035 bis 1087) die Schlacht von Hastings gewann.

Ferner sind beim Etablieren von Untergruppen in einem Stammbaum gemeinsame Neuerungen maßgeblich und nicht gemeinsame Archaismen, da diese in verschiedenen Sprachen unabhängig voneinander bewahrt werden können. Dabei muß es sich um signifikante Neuerungen handeln, die nicht unabhängig voneinander auftreten können. (In der Biologie werden die signifikanten gemeinsamen Neuerungen homolog, die unabhängigen konvergent genannt.) Wenn wir also Subeinheiten im Stammbaum ansetzen, zum Beispiel ein hypothetisches Italokeltisch als gemeinsamen Vorfahren der italienischen und keltischen Sprachen, so wäre zu fragen, welche Innovationen vom Indogermanischen aus gesehen diese Sprachen teilen.

Die erste Schwierigkeit dabei ist, Neuerungen als solche zu identifizieren: Da wir das Indogermanische auf der Basis der indogermanischen Sprachen rekonstruieren, andererseits aber wieder Phänomene aus den Einzelsprachen als Archaismen oder Neuerungen vom Indogermanischen aus klassifizieren, besteht stets die Gefahr eines Zirkelschlusses. So hat sich denn auch die Beurteilung manch einer sprachlichen Erscheinung ins Gegenteil verkehrt – besonders nach der Entschlüsselung des Hethitischen durch den Prager Orientalisten Friedrich Hrozny (1879 bis 1915) im Jahre 1915.

Bis dahin diente beispielsweise in der Verbalkonjugation das Medium auf -r als ein Beleg für die italokeltische Hypothese. (Man vergleiche lateinisch fertur mit altirisch berair; beide bedeuten „er wird getragen“.) Was sollte man mit der Tatsache anfangen, daß es im Hethitischen gleichfalls auftaucht – ein r-Medium nun doch bereits für die Protosprache ansetzen und unterstellen, daß alle anderen Sprachen es aufgegeben hätten, oder lieber eine Untergruppe „Italokeltoanatolisch“ annehmen? Selbst wenn wir sicher sein könnten, daß es sich um eine Neubildung handelt, woher sollen wir wissen, daß sie nicht vielleicht auch in anderen Sprachen eingeführt, dann aber wieder aufgegeben wurde? Wie können wir „X war nie da“ von „X war da, ging aber vor den ersten überlieferten schriftlichen Zeugnissen dieser Sprache verloren“ unterscheiden?

Für die Vorgeschichte des Indogermanischen vermutet man ein 2-Genus-System als Vorläufer des historisch bezeugten 3-Genus-Systems, bestehend aus Maskulinum, Femininum und Neutrum, das sich im Deutschen wie in vielen indogermanischen Sprachen erhalten hat. Nun geht die Debatte darum, ob das 2-Genus-System des Hethitischen ursprünglich ist, was implizieren würde, daß dieses sich deutlich früher als alle anderen indogermanischen Sprachen von der Ursprache abgespalten hätte, oder ob es ein ererbtes Femininum zwar einmal besaß, aber so gründlich verlor, daß keine Reste davon mehr zu finden sind. Je nach der Antwort ergeben sich sehr unterschiedliche Stammbäume.

Insgesamt ist das Stammbaummodell also nur innerhalb eines begrenzten Geltungsbereichs brauchbar. Übrigens ist seine Unzulänglichkeit schon früh erkannt worden; deshalb hatte bereits 1872 Johannes Schmidt (1843 bis 1901), ein Schüler August Schleichers, als Alternative die sogenannte Wellentheorie vorgeschlagen (Bild 2). Wenn man heutzutage wieder unreflektiert an neuen Stammbäumen bastelt und diese dann unkritisch in andere Wissenschaftszweige übernimmt, ist dies ein Rückfall ins letzte Jahrhundert.

Unzulässige Gleichsetzung von Sprach- und Genpool-Gemeinschaft

Ein dritter und letzter Vorbehalt betrifft die Gleichsetzung von Sprach- und Genpool-Gemeinschaft, gegen die sich unter anderem ein so bedeutender Sprachwissenschaftler wie Meillet gewehrt hat – und zwar nicht, wie Philip E. Ross unterstellt, um keinem irgendwie gearteten Rassismus Vorschub zu leisten, sondern weil er sie für nicht hinreichend erwiesen ansah. Es ist zwar interessant, daß ein Volk wie die Basken, deren Sprache bis heute isoliert dasteht, auch genetisch vom europäischen Durchschnitt abweicht – zum Beispiel in der relativen Häufigkeit des negativen Rhesusfaktors; hier scheinen sich also genetische und sprachliche Isolierung durch die Geschichte hindurch bewahrt zu haben. Sind aber die Basken, die in einem Rückzugsgebiet leben und von größeren Kolonisations- oder Expansionsbewegungen verschont blieben, ein typischer Fall?

Cavalli-Sforza räumt selbst ein, daß „eine Population eine andere Sprache übernehmen oder sich mit einer anderen vermischen kann“, und verweist in diesem Zusammenhang auf die genetisch europäischen, sprachlich aber magyarischen Ungarn. Auch die Romanisierung Galliens ging keineswegs mit einer Ausrottung der Kelten einher. Ein Wechsel der Sprache kann in wenigen Generationen vonstatten gehen und braucht nicht einmal das Selbstverständnis der Bevölkerung zu beeinträchtigen. Die heutigen Deutschen in Kasachstan etwa sprechen oft gar nicht mehr Deutsch oder ein solches, das ein Bundesbürger nur mit Mühe versteht, würden es aber empört zurückweisen, als Russen apostrophiert zu werden.

Beim Aussterben von Sprachen brauchen nicht auch ihre Sprecher oder deren Gene zugrunde zu gehen, und Ausbreitungen müssen nicht immer durch große Wanderungen – sei es im Gefolge von Eroberungen oder anderer Ereignisse – verursacht worden sein. In welchem Ausmaß Sprachen in vorgeschichtlicher Zeit unblutig und ohne Überfremdung ersetzt wurden, ist schwer zu veranschlagen; doch sollten wir die menschliche Mobilität nicht unterschätzen.

All das ist nicht als Aufforderung gemeint, den interdisziplinären Diskurs zu beenden. Damit Interdisziplinarität jedoch fruchtbar werden kann, ist es unerläßlich, die Grenzen dessen, was eine bestimmte Wissenschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt leisten kann, klar zu ziehen, den Anwendungsbereich von Modellen zu klären und zu verhindern, daß nur in einem gewissen Rahmen gültige Vorstellungen von Wissenschaftlern anderer Fachrichtungen gutgläubig übernommen und mit schwerwiegenden Schlußfolgerungen belastet werden. Mögen die Ergebnisse noch so geistreich und publikumswirksam ausfallen – sie müssen sich an den Kriterien der Wissenschaftlichkeit messen lassen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1993, Seite 112
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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