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Wachstum ohne Energiebarriere: 100 Jahre alte Kristall-Vorhersage bestätigt

Bestimmte kristalline Schichten wachsen anders als klassische Kristalle - und bestätigen dabei einen bisher nur theoretisch vorhergesagten Effekt.
Silbern glänzende Kugeln, eine davon blau, in einem kubisch-primitiven Gitter

Eine auf den ersten Blick widersinnig erscheinende Vorhersage über das Verhalten von zweidimensionalen Kristallen hat sich nach über einem Jahrhundert bestätigt. Wie eine Arbeitsgruppe um James J. De Yoreo von der University of Washington in Seattle berichtet, wachsen hochgeordnete Schichten bestimmter Peptide, ohne dass Aktivierungsenergie nötig ist. Wie die Arbeitsgruppe in »Science« berichtet, scheinen die Lagen aus kurzen Eiweißmolekülen damit ein grundlegendes Gesetz der Kristallbildung zu verletzen: Je größer der Kristall wird, desto größer wird auch seine Oberfläche und damit wächst die Oberflächenenergie. Diese Energie muss eigentlich beim Wachstum des Kristalls in Form von Aktivierungsenergie aufgebracht werden. Die von De Yoreo und seinem Team untersuchten Systeme wachsen jedoch ohne diese Barriere.

Das zeigen einerseits direkte Messungen der Wachstumsrate der Schichten mit Hilfe eines Rasterkraftmikroskops, andererseits begleitende Computersimulationen. Damit unterscheiden sich diese Systeme grundlegend von klassischen Kristallen. Bei denen nämlich hängt das Wachstum der kleinsten Kristalle einerseits von der Energie ab, die beim Anlagern frei wird, andererseits von den Energiekosten durch die vergrößerte Oberfläche. Letztere wächst proportional zum Radius, die begünstigende freie Energie dagegen mit seinem Quadrat.

Dieser Effekt mag nebensächlich klingen, er hat allerdings dramatische Folgen für das Verhalten von klassischen Kristallen. Einerseits nämlich wachsen größere Kristalle in manchen Systemen durch diesen Effekt auf Kosten kleinerer; dieser Effekt steckt hinter dem als Ostwald-Reifung bekannten Phänomen, das die Stabilität von Salben ebenso beeinflusst wie die von Stählen. Außerdem haben solche Kristalle einen kritischen Radius: Molekülansammlungen unterhalb dieser Größe lösen sich auf, weil ihre Oberfläche zu groß wird. Die Peptide von De Yoreos Gruppe dagegen tun das nicht: Ihr kritischer Radius ist null.

Diese auf den ersten Blick gegen alle Gesetze der Kristallbildung verstoßende Besonderheit hat, wie das Team feststellte, ihren Ursprung im besonderen Wachstumsprozess der zweidimensionalen Kristalle. Die Schichten wachsen nämlich keineswegs in alle Richtungen gleichmäßig – sondern streng entlang einzelner Molekülreihen. Solches eindimensionales Kristallwachstum wiederum sollte tatsächlich ohne Aktivierungsenergie funktionieren, hatten Kristalltheoretiker bereits in der Frühzeit des Fachs vorhergesagt, aber bisher war es nie gelungen, den Effekt in der Praxis zu beobachten.

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